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»In die Literatur eintreten.«

Claas Morgenroth

1978
Roland Barthes. »Die Vorbereitung des Romans«

PDF, 11 Seiten

Am 15. April 1978 wird Roland Barthes von einer Erleuchtung heimgesucht. Ihre Botschaft? Barthes soll seine bisherige Existenz aufgeben und sich allein dem Schreiben eines Romans zuwenden. Nun besteht das unheimliche Wunder des Einfalls darin, alles zu enthalten. ›Es‹ muss eben nur noch einmal gesagt und in ein anderes Medium übertragen werden. Insofern unterrichtet Die Vorbereitung des Romans über all die Angelegenheiten, die zum Schreiben gehören. Wann kann etwas beginnen, wie beginnt es? Wie ist mit Störungen und Schwierigkeiten umzugehen? Und was passiert, wenn man sich langweilt? An die Stelle des Romans treten immer neue Fragen, Einfälle und Exkurse, die das eigentliche Ziel: das Werk, beständig aufschieben. So wird die Vorbereitung des Romans zum Ausdruck einer improvisatorischen Praxis, die mit dem Unvorhergesehenen umgeht und dabei auf bereits vorliegende Praktiken zurückgreift, diese anpasst und im Licht des Ereignisses weiterentwickelt bzw. neu entdeckt.

1978
Roland Barthes
Die Vorbereitung des Romans


»Und nun kurz eine kleine persönliche Anekdote: Wann fiel die Entscheidung zu dieser ›Änderung‹? – am 15. April 1978. Casa. Ein drückender Nachmittag. Der Himmel bewölkt sich, es ist etwas kühl. Wir machen in einer Gruppe, mit zwei Autos, einen Ausflug nach La Cascade, einer hübschen Talmude auf dem Weg nach Rabat. Traurigkeit, eine gewisse Langeweile, ununterbrochen dasselbe (seit einem Trauerfall vor kurzem), ein Überdruß, der sich auf alles erstreckt, was ich tue und denke […]. Rückkehr, leere Wohnung […]; ich denke ziemlich intensiv nach. Aufblühen einer Idee: etwas wie eine ›literarische‹ Bekehrung [conversion] – diese beiden sehr alten Wörter kommen mir in den Sinn [l’esprit]: in die Literatur, ins Schreiben eintreten; schreiben, als hätte ich es noch nie getan: nichts mehr tun als das → Zunächst der jähe Gedanke, das Collège zu verlassen, um ein ungeteiltes Leben im Schreiben zu führen (denn die Vorlesung tritt oft in Konflikt mit dem Schreiben). Dann die Idee, die Vorlesung und die Arbeit in dasselbe (literarische) Unternehmen einzubringen, die Spaltung des Subjekts zugunsten eines einzigen Projekts, des Grossen Plans [le Grand Projet], zu beenden: freudige Vorstellung […] → Dieser 15. April: letztlich eine Art satori, Aufblitzen [d’éblouissement], analog (ziemlich egal, ob die Analogie naiv ist) der Erleuchtung, die der Proustsche Erzähler am Ende der Wiedergefundenen Zeit spürt (freilich ist sein Buch bereits geschrieben!).« (Barthes 2008, 37–38 [2.12.1978])

Am Beginn von Roland Barthes’ Die Vorbereitung des Romans steht ein Ereignis: der 15. April 1978. Einen Roman schreiben, das ist die Idee, die Barthes’ Leben von nun an in ein Vorher und Nachher teilt. Der »große Plan« soll ihn aus der Wiederholung des Immergleichen reißen und von der Trauer um seine jüngst verstorbene Mutter befreien. Die ewige Jugend der Begeisterung erinnert Barthes an die Naivität der Lektüre und die ›Subjektivität‹ der Kunst; und sie bewahrt ihn vor deren abkühlender Objektivierung. Insofern überrascht Barthes’ Verwandlung – und überrascht auch wieder nicht. Denn mit der Berufung, ›in die Literatur einzutreten‹, kehrt er zurück zu den Themen, die ihn sein Leben lang beschäftigt haben, zur écriture und zu Marcel Proust. Dies gilt gleichermaßen für die Spannung von Kunst und Leben, verdeutlicht an den Nietzsche entlehnten Überschriften, die der zweisemestrigen Vorlesung vorstehen: »Vom Leben zum Werk« (Dezember 1978–März 1979) und »Das Werk als Wille« (Dezember 1979–Februar 1980). Insofern findet »in der Vorbereitung des Romans […] eine Reflexion ihren Abschluß und ihre Vollkommenheit, deren Weg Am Nullpunkt der Literatur begonnen hatte« (Barthes 2008, 17), zumal Barthes’ Tod am 26. März 1980 den hinterlassenen Vorlesungsmanuskripten einen testamentarischen Charakter gibt.

Barthes ›Erleuchtung‹ schließt sich einer ganzen Reihe von Fundamentaleinfällen und Bekehrungen an, zu deren Urszenen das Damaskuserlebnis des Paulus gehört (→ Lukas 9, 3–9), das Barthes mit Sicherheit kannte, auf das er aber trotz einiger Parallelen nicht eingeht. Anders verhält es sich mit Dantes Göttlicher Komödie, deren erste Zeilen aus dem Gesang der Hölle »Mittwegs auf unsres Lebens Reise« ebenso zu den Leitmotiven der Vorlesung gehören wie Chateaubriands Leben des Abbé de Rancé (→ Barthes 2008, 29–34 [2.12.1978]) oder Friedrich Nietzsches ›Überfall‹ des Zarathustra (→ Nietzsche 1969, 333–340; → Barthes 2008, 454–455 [23.2.1978]). Barthes kennt die Geschichten des Einfalls, und er weiß um die Dialektik, die den Ein- und Überfällen, Zäsuren und radikalen Wendungen der Menschheitsgeschichte innewohnt (→ Barthes 2008, 382–384 [2.2.1980]). Sobald die Magie des Augenblicks vorüber ist, sieht sich der eben noch glühende Kopf der eigenen Naivität gegenüber. Auf die Bekehrung folgt die Ernüchterung, zumindest dann, wenn sich Dramaturgie und Kulisse der Erweckung vor das Ereignis schieben.

Barthes sieht dieser Dialektik mit geradezu kindlicher Offenheit entgegen, schließlich ist jede Bekehrung auf gewisse Weise naiv, weil sie hinter die Wendung des Einwands zurückfällt, die den reifen Denker auszeichnet. Gleichzeitig formuliert Barthes einen Vorhalt, »Trotzdem werden wir diesen 15. April entdramatisieren!« (Barthes 2008, 39 [2.12.1978]), den aufzulösen Aufgabe der Vorlesung ist. Schritt für Schritt entfalten sich die Implikationen des 15. April, kleinteilig werden die anfallenden Vorbereitungen erörtert und systematisiert. Wie Nathalie Léger in ihrem Vorwort berichtet, hat Barthes seine Vorlesung nicht nur akribisch vorbereitet, sondern das Manuskript auch kaum verändert vorgetragen. Ein erstaunlicher Umstand, denn die Tonbandmitschnitte vermitteln einen anderen Eindruck (http://ubu.com/sound/barthes.html). Auch die Vorlesungsteilnehmer hoben hervor, »mit welcher Gewandtheit Barthes frei zu sprechen und wie flüssig er über längere Zeit zu improvisieren vermochte« (Barthes 2008, 21–22) – eine Beobachtung, die dem Stil und der Erzählweise der Vorlesung zu verdanken ist, die zwischen ausformulierten Überlegungen, Aufzählungen, Abbrüchen und Verweisen changiert, zuweilen verbunden durch eingestreute Redefloskeln oder Bemerkungen zur Vortragssituation. Stets weist Barthes darauf hin, dass er noch nicht weiß, wohin ihn seine Reise führen wird (auch in diesem Punkt identifiziert er sich mit Dantes Göttlicher Komödie). Als Beleg genügt, sich die ersten Worte einer beliebigen Sitzung vor Augen zu führen: »Beim gegenwärtigen Stand meiner Überlegungen«, »Hier stoßen wir sofort auf ein Problem«, »Ich komme also auf jenen einfachen, in der Tat unerbittlichen Gedanken zurück«, »Doch wenn es mir anfangs auch schwierig erscheint«, »Einerseits […]. Andererseits […]. Oder noch anders«, »Ich werde diese Probleme natürlich indirekt behandeln« (Barthes 2008, 53–56 [16.12.1978]). Barthes Vorlesung führt dabei in zwei Richtungen, denn offen ist nun nicht nur das Werk/der Roman, sondern auch dessen Vorbereitung, einschließlich der anfangs zitierten »kleinen persönlich[en] Anekdote«. In dieser Hinsicht trägt der 15. April die Struktur der Vorlesung in sich. Das Wunder des Einfalls besteht darin, alles zu enthalten. ›Es‹ muss eben nur noch einmal gesagt und in ein anderes Medium übertragen werden, weshalb Barthes sich der Inkubation, Verdichtung und Ruhe des Einfalls ebenso zuwendet wie den angeschlossenen inventiven Schreibpraktiken.

»Zwei Erläuterungen […] – oder vertrauliche Mitteilungen –« schickt Barthes seinen Ausführungen vorweg (Barthes 2008, 57 [16.12.1978]). Die erste betrifft das Als ob seines Vorhabens: »Werde ich wirklich einen Roman schreiben? Ich sage dazu nur: Ich will so tun, als ob ich mich anschickte, einen zu schreiben → Ich will mich in diesem Als ob einrichten« (ebd.). In der Vorlesung »Lange Zeit bin ich früh schlafen gegangen«, gehalten am 19. Oktober 1978 am Collège de France, ist Barthes deutlicher. Der Roman führe wie die »abbildende Literatur« dazu, dass man sich stets »mit einer der dargestellten Personen [identifiziert]«. »Ist nun der Leser ein Subjekt, das selbst ein Werk schreiben will, so identifiziere sich dieses Subjekt« auch »mit dem Autor des gelesenen Buches«. Wenn dieser Autor nun wiederum selbst von diesem Wunsch zu schreiben erzähle, wie Proust in der Recherche, dann führe dies zur Identifikation des Lesers mit diesem Schreiben (→ Barthes 2006, 307 [19.10.1978]). Barthes spricht an dieser Stelle – das zeigt die wenige Wochen später beginnende Vorlesung zur Vorbereitung des Romans – von sich selbst. Aber nicht nur. Erstaunlich sind die (zufälligen?) Parallelen zwischen Prousts Weg zur Recherche und Barthes Bekehrung. Frappierend ist, wie weit sich Barthes mit Proust identifiziert. Die Gründe, die die Recherche in Gang gesetzt haben sollen, tauchen am 15. April wieder auf, darunter der Tod der Mutter und die acedia, die Trägheit des Herzens. Aber die einfache Wahrheit, dass die ›abbildende Lektüre‹ erst dann Freude bereitet, wenn man Anteil nimmt an der Welt der Erzählung, bleibt. Sie verführt dazu, sich träumend als Autor des Gelesenen vorzustellen. Insofern bedarf es keiner weiteren Überlegung, ob nun Die Vorbereitung des Romans schon der Roman ist oder nicht, denn die Vorkehrungen des Schreibens, welcher Art sie auch immer sein mögen, gehören schon zum Schreiben dazu. Insofern ist die Vorbereitung der Roman, ›analog‹ zur Entdeckung der ›Zeit‹ am Ausgang der Recherche; »analog (ziemlich egal, ob die Analogie naiv ist) der Erleuchtung [l’illumination], die der Proustsche Erzähler am Ende der Wiedergefundenen Zeit spürt (freilich ist sein Buch bereits geschrieben!).« (Barthes 2008, 37–38 [2.12.1978]) Der Einfall gewinnt eine wortwörtlich methodologische Dimension: »Methode = Weg (Grenier, Tao = Weg). Das Tao ist zugleich der Weg und das Ende der Wegstrecke, die Methode und ihr Ziel.« (Barthes 2008, 58 [16.12.1978])

Die zweite Erläuterung geht auf das Verhältnis von Ethik und Technik ein. Barthes spricht von »paratechnischen Überlegungen (und zwar zu einer bestimmten Technik: der literarischen)« (59). Die besondere Produktivität des Einfalls bewähre sich an den Bedingungen und technisch-ethischen Konsequenzen des Einfalls, nicht (nur) an dessen Imperativ. Im Vordergrund steht, die notorisch mythische Gestalt des Einfalls zu dekuvrieren, ohne dessen Kraft zu vertreiben. »Für mich: die Verbindung des Ästhetischen (Technischen) mit dem Ethischen; ihr bevorzugtes Feld: […] die ›Hausarbeit‹ [le ›ménager‹]« (60). Im Mittelpunkt der Hausarbeit als Aspekt des sittlichen Handelns (so ist hier Barthes’ Begriff des Ethischen zu verstehen) steht das Schreiben in all seinen Facetten. Statt einer Lehre oder einer begrifflichen Erörterung (die die Vorlesung natürlich trotzdem ist), wendet sich Barthes der Praxis, dem Prozess des Schreibens zu. So unterrichtet Die Vorbereitung des Romans über all die Angelegenheiten, die zum Schreiben gehören. Wann kann etwas beginnen, wie beginnt es; wie muss ein Plan aussehen? Wie ist er einzuhalten? Wie muss der Arbeitstag organisiert sein? Wie muss der Arbeitsplatz, das Haus des Schreibens aussehen? In welchem Verhältnis stehen Notizen, Briefe und andere (Vor-)Arbeiten zum Werk? Wie führt die Hand den Schreibanfang aus? Was ist überhaupt eine Hand, was die Schrift? Wie ist mit Störungen und Schwierigkeiten umzugehen? Und was passiert, wenn man sich langweilt? An die Stelle des Romans treten immer neue Fragen, Einfälle, Exkurse, die das eigentliche Ziel: das Werk, beständig aufschieben. Barthes schlägt einen anderen Weg ein als die sonst verfügbaren Roman- und Gesellschaftstheorien (auf die er in der vorletzten Vorlesung genauer eingeht: → Barthes 2008, 413–437 [16.2.1980]), indem er sich bevorzugt den bei Quintilian – den er in seiner Vorlesung nur beiläufig erwähnt – paradigmatisch erörterten Zurichtungen des Körpers zuwendet (»Doch wir erörtern hier nicht die Frage, wie der Redner herangebildet werden soll […], sondern durch welches Training ein Athlet […] für die Wettkämpfe vorzubereiten ist.« Quintilianus 1974, 13–15). Barthes spricht, Nietzsche zitierend, von einer »Kasuistik der Selbstsucht«: »diese kleinen Dinge – Ernährung, Ort, Klima, Erholung […] – sind über alle Begriffe hinaus wichtiger als alles, was man bisher wichtig nahm.« (Barthes 2008, 347 [26.1.1980]; → Nietzsche 1969, 291–292) Aufgabe sei, das »Leben (seine Lebensweise) bis ins kleinste zu entwerfen«. Denn erst den daraus gewonnenen »Lebensregeln« [Régimes] könne es gelingen, die Kraft des Einfalls zu kanalisieren, um der Unordnung der Improvisation zu entgehen. »Ich verstehe dieses Wort im weiten Sinne: Art der alltäglichen Organisation der Bedürfnisse (Nietzsche = Schauder vor einem Leben, in dem man alles improvisieren müßte)« (Barthes 2008, 347–348 [26.1.1980]; → Nietzsche 1973, 216: »Das Unerträglichste […] wäre mir ein Leben ganz ohne Gewohnheiten, ein Leben, das fortwährend die Improvisation verlangt: – diess wäre meine Verbannung und mein Sibirien«).

Der Einfall bedarf einer ganzen Reihe von Regelungen und Praktiken, um sich entfalten zu können. Die erste ist das Aufzeichnen.

»Doch wenn es mir anfangs auch schwierig erscheint, aus dem gegenwärtigen Leben einen Roman zu verfertigen, wäre es falsch zu sagen, man könne Gegenwart nicht in Schrift verwandeln. Man kann die Gegenwart schreiben, indem man sie aufzeichnet [en le notant] – im selben Maße, wie sie uns ›überfällt‹ (oder vorfällt, vor Augen tritt, oder zufällt, zu Ohren kommt)« (Barthes 2008, 54 [16.12.1978]).

Versucht man die wechselvolle Geschichte der ›Aufzeichnung‹ respektive des Aufzeichnens auf den Punkt zu bringen – im Reallexikon der Literaturwissenschaft unter der ›Restkategorie Kurzprosa‹ (Baßler 2000) geführt –, wird man sie als diejenige Schreibpraxis bezeichnen, die die Differenz zwischen Ich und Schreiben bestmöglich minimiert. In diesem Punkt berührt sie sich mit zahlreichen anderen Textsorten, dem Tagebuch, Notizbuch, Aphorismus, Aperçu, der Maxime usw., denen gemeinsam ist, dem Disparaten, Gelegentlichen, Zufälligen Gestalt geben zu wollen. So problematisch das Schreiben ist, so problematisch ist auch dessen Ich. An der Aufzeichnungsliteratur (→ Canetti 1975; → Handke 1982) wird dies besonders deutlich, weil sie das Gegenteil behauptet. Proust habe, so Barthes, auf diesen Umstand selbst hingewiesen, als er gegen Sainte-Beuve erklärte, »daß ein Buch das Erzeugnis eines anderen Ich ist als dessen, das wir in unseren Gewohnheiten, in der Gesellschaft, in unseren Lastern zutage treten lassen.« (Barthes 2006, 312–313 [19.10.1978])

Im Anschluss an diesen Gedanken beschäftigt sich der erste Teil der Vorbereitung mit zwei Aufzeichnungspraktiken: dem Haiku und der Notiz.

»Seit dem letzten Studienjahr stelle ich mir – vor Ihnen, mit Ihnen – die Frage nach den Bedingungen der Anfertigung eines literarischen Werkes, das ich aus Bequemlichkeit Roman nenne. Ich habe zunächst das Verhältnis zwischen dem Werk und jenem minimalen Schreibakt der Notiz untersucht, vornehmlich anhand einer exemplarischen Aufzeichnungsform [exemplaire de Notation] des Haiku.« (Barthes 2008, 205 [1.12.1979])

Haiku und Notiz bilden die denkbar kleinste Einheit im Gefüge des Textes, weil sie – wie Barthes am Beispiel des Haiku eindrücklich schildert – den Einfall nicht nur abbilden, sondern Einfall sind. »Man könnte auch sagen: Ein (gutes) Haiku macht klick [tilt], bringt eine Erleuchtung → löst etwas aus, zu dem es nur einen Kommentar gibt: ›Das ist es!‹« (Barthes 2008, 138 [24.2.1979]) Die magische Grenze zwischen dem Einfall und seiner sprachlichen Bekundung fällt damit in den Raum des Schreibens, dessen atomare Form es zu verteidigen gilt. Barthes begnügt sich nicht damit, die Schönheit des Haiku zu loben und dafür zahlreiche Beispiele anzuführen. Er baut einen Gegensatz auf zwischen der Erscheinung des Einfalls (Haiku) und der abendländischen Macht des Diskursiven und der Metaphysik. »Im Abendland eine Art Trieb, das Detail aufzublähen« (141), wendet er gegen Émile Zola ein. Barthes breitet damit noch einmal seine Abneigung gegen die hermeneutische Tradition aus, um den Einfall, das Detail und die kleine Form gegen den Hunger des Kontextualismus zu verteidigen.

Mit der ›Notiz‹ kehrt Barthes zu einem Lebensthema zurück, das ihn seit einem seiner ersten Texte, den »Notes sur André Gide et son ›Journal‹« (1942) beschäftigt. Hanns-Josef Ortheil weist im Nachwort der Begebenheiten darauf hin, dass Barthes »von Anfang an « gewohnt war, »mit Karteikarten zu arbeiten« (Ortheil 2007, 120). In der Vorbereitung rücken nun die Bedingungen, Begleitumstände und Elemente des Schreibens bzw. Notierens in den Mittelpunkt. Schreibort (außen: Straße, Café), -zeit (viel Zeit) und ‑zeug (Heft, Karteikarte, Kugelschreiber) treten nebeneinander und schaffen jene ›Bereitschaft‹, die dem Einfall/der Notiz vorausgehen muss. »Doch die Erfahrung zeigt, daß man, um ›Ideen‹ zu haben, dafür disponibel sein muß.« (Barthes 2008, 153 [3.3.1979]) Aufmerksam beschäftigt sich Barthes mit dem »Übergang« vom »Notizheft auf die Karteikarte […], von der Notula zur Nota« (155). Dabei erweise sich, ob die Einfälle/Notizen es wert sind, noch einmal abgeschrieben zu werden. Erst hier also schaltet sich eine Instanz ein, die die Verwertbarkeit des Geschriebenen überprüft. In der nachfolgenden Sitzung vertieft Barthes seine Überlegungen und gibt vor, die Praxis des Notierens und die Gestalt der Notiz ›intentional‹ zu »bestimmen« (»von einem gewissen Zweck her«, Barthes 2008, 160 [10.3.1979]), und zwar »funktional«, »struktural«, »ästhetisch« und »symbolisch«. Darauf folgt ein linguistisch-poetischer Kurzschluss – demgemäß der Satz und die Aufzeichnung gleichzusetzen sind – und eine Variation über den Begriff der Wahrheit bei James Joyce und Marcel Proust. Dort heißt es u.a.:

»Augenblick der Wahrheit = wenn die Sache vom Affekt berührt wird; […] → Augenblick der Wahrheit = Augenblick des Unerbittlichen: es gibt nichts zu interpretieren, man kann nicht weiter- und nicht zurückgehen; Liebe und Tod sind da, das ist alles, was man sagen kann. Und genau das ist das Wort des Haiku.« (Barthes 2008, 178–179 [10.3.1979])

Den zweiten Teil der Vorlesung bestreitet Barthes zunächst mit einer ausdauernden Erörterung über »Das Begehren zu schreiben«. Am Beginn steht der Jubel: »die schöpferische Freude am Schreiben ist eine andere Freude: Sie ist ein Jubel, eine Ek-stase, eine Verwandlung, eine Erleuchtung, das, was ich oft als satori bezeichnet habe, eine Erschütterung, eine ›Konversion‹« (Barthes 2008, 212 [1.12.1979]; zum satori → auch Barthes 1981), dem sich weitere Überlegungen etwa zur »Hoffnung«, zur »Inspiration« oder zur »Abschweifung« und zum »Nicht-Schreiben« anschließen. Konzeptuell freundet sich Barthes mit dem Amateur an, dem »Kunstliebhaber«, das ist »derjenige, der den Künstler simuliert« (Barthes 2008, 264 [15.12.1979]). Zu dessen Triebfedern gehört, die Begeisterung nicht den Bedingungen des begehrten Gegenstandes in seiner akzeptierten Form zu opfern. Er bietet vielmehr einen Ausweg, das eigene Vorhaben so ernsthaft wie möglich, aber doch so narrenfrei wie nötig anzugehen. Bedenkt man das von Stephan Kammer vorgeschlagene Produktionsmodell (→ Einleitung in diesem Band), dann stehen hier die Positionen Regel, Performance und Technik in einem wesentlich intensiveren Abhängigkeitsverhältnis zur Affiziertheit als im konkurrierenden Meisterschaftsmodus. Die Regeln, Ziele und produzierten Affekte, die materialen Praktiken und Begleitumstände dienen als Zeugen eines inspirierten Ich, das als Subjekt (mit Fehlern) stets sichtbar bleibt. Insofern kokettiert der Liebhaber und Dilettant immer auch mit dem eigenen Scheitern, den Nötigungen, die das Begehren auslöst, der Drangsal der Leidenschaften usw. Jede schöpferische Sackgasse kann unter diesen Umständen geöffnet und gebahnt werden, indem sie als Sackgasse und persönliche Not eingeführt wird.

Mit den Worten »man kann auf die Dauer gar nicht nicht etwas schreiben« (Barthes 2008, 232–233 [8.12.1979]) verabschiedet sich Barthes vom ›intransitiven Schreiben‹ (→ Barthes 1966/1970 und 2006) und wendet sich der ethischen Dimension des Einfalls zu: »Sobald er [derjenige, der schreiben will] vom Schreiben zum Etwas-Schreiben übergeht, beginnen quälende Schwierigkeiten.« (Barthes 2008, 271 [15.12.1979]) Die aus dem ›Etwas‹ hervorgehenden Schwierigkeiten verteilt Barthes auf drei »Prüfungen«, die jeweils eine Haltung des Schreibens benennen. Die erste betrifft die Wahl des Gegenstands: »Zweifel«, die zweite die »Geduld«, die das geordnete Schreiben erst ermöglicht; die dritte schließlich ist »eine moralische Prüfung« und unterliegt dem besonderen Verhältnis zwischen »dem Werk und dem Sozialen« […] »(Absonderung)« (272). Der ›Zweifel‹ entzündet sich an der Dialektik von ›Werk‹ und ›Album‹, wobei Barthes auf den Zweifel gar nicht eingeht, sondern auf die Macht der Werknotwendigkeit und den rhapsodischen Charakter des Albums. Beide fungieren als Regulativ des Einfalls. Die Verpflichtung auf das ›Werk‹/›Album‹ setzt das Schreiben des Werkes/des Albums erst in Gang. Das Ergebnis einer solchen Phantasie ist nicht vorhersehbar. »Die Vorbereitung des Werkes kann auch eine reine, unbewegliche Phantasie [un pur fantasme immobile] sein, von der der Schriftsteller nur ein paar aufblitzende Momente (einige Notizen) wahrnimmt« (Barthes 2008, 308 [12.1.1980]). Die ›Geduld‹ wird auf die Probe gestellt, wenn der Schreibende »von der Phantasie zu ihrer Ausführung, das heißt zu einer Praktik (Praxis) übergehen [muß]« (309). Die befürchteten Hindernisse gelten zwar weithin als Problem, werden aber unter Barthes’ Hand zu Produktivkräften, und zwar genau dann, wenn sich das Schreiben den auftretenden Widerständen stellt. Die ›Absonderung‹ schließlich zwingt den Schreibenden dazu, sich von der Welt zu entfremden. Barthes inszeniert sich und seine literarischen Fixsterne (Kafka, Queneau und Proust) als Bewohner einer untergegangenen Welt, als Exilanten. Es bedarf der sozialen Entfernung, um jene konstitutive Spannung zu erreichen, in der die Literatur sich einfinden soll.

Auch wenn Barthes den Begriff der Improvisation vermeidet bzw. mit einem Nietzschezitat zur Seite legt, haben wir es in der Vorbereitung des Romans mit einer improvisatorischen Praxis zu tun, einer Handlung, die mit dem Unvorhergesehenen umgeht und dabei auf bereits vorliegende Praktiken zurückgreift, diese anpasst und/oder im Licht des Ereignisses weiterentwickelt bzw. neu entdeckt. Diese Entdeckung und der angeschlossene Prozess des (Wieder-)Findens ist die ›Inventio‹. So wird der 15. April 1978 zum Momentum eines Transformationsprozesses, zu einer Zeitstelle, die sich im Nachhinein als Aspekt einer heranwachsenden Möglichkeit erweist, über deren Aufzeichnungspraktiken Barthes unter Bewahrung aller Konsequenzen unterrichtet. In diesem Sinne beschreibt er am Schluss seiner Vorlesung den Einfall als anhaltende Verwandlung:

»Worauf ich warte, ist (ich habe es gesagt) ein Auslöser, eine Gelegenheit, eine Verwandlung [mutation] […] → Zweifellos ist das Neue Werk […] erst dann möglich, zweifellos kann es erst dann wirklich beginnen, wenn ein alter Geschmack sich gewandelt hat, ein neuer Geschmack entsteht […] → Dann würde ich vielleicht das wahre dialektische Werden erfüllen: werden, was ich bin; Wort Nietzsches: ›Werde, was du bist‹« (Barthes 2008, 455 [23.2.1980]).


Literatur

— Barthes, Roland: Das Reich der Zeichen (frz. 1966), übers. von Michael Bischoff, Frankfurt am Main 1981.

— Barthes, Roland: »Schreiben, ein intransitives Verb?« (1966/1970), in: ders.: Das Rauschen der Sprache. Kritische Essays IV (frz. 1984), übers. von Dieter Hornig, Frankfurt am Main 2006, S. 18–29.

— Barthes, Roland: La Préparation du Roman I et II. Cours et séminaires au Collège des France (19781979 et 19791980), sous la direction d’Éric Marty, texte établi, annoté et présenté par Nathalie Léger, Paris 2003.

— Barthes, Roland: La Préparation du Roman I et II. Cours et séminaires au Collège des France (19781979 et 19791980), http://ubu.com/sound/barthes.html (aufgerufen: 22.4.2014).

— Barthes, Roland: »Lange Zeit bin ich früh schlafen gegangen« (19. Oktober 1978), in: ders.: Das Rauschen der Sprache. Kritische Essays IV (frz. 1984), übers. von Dieter Hornig, Frankfurt am Main 2006, S. 307–320.

— Barthes, Roland: Begebenheiten. Incidents (frz. 1987), übers. von Hans-Horst Henschen, Mainz 22007.

— Barthes, Roland: Die Vorbereitung des Romans. Vorlesung am Collège de France 19781979 und 19791980 (frz. 2003), übers. von Horst Brühmann, hg. von Éric Marty, Texterstellung, Anmerkungen und Vorwort von Nathalie Léger, Frankfurt am Main 2008.

— Baßler, Moritz: »Kurzprosa«, in: Harald Fricke u.a. (Hg.): Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, Bd. 2: HO, Berlin, New York 2000, S. 371–374.

— Canetti, Elias: »Dialog mit dem grausamen Partner«, in: ders.: Das Gewissen der Worte, München, Wien 1975, S. 50–65.

— Handke, Peter: Die Geschichte des Bleistifts, Salzburg, Wien 1982.

— Nietzsche, Friedrich: Die fröhliche Wissenschaft (1882), in: ders.: Nietzsches Werke. Kritische Gesamtausgabe, hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Abt. 5, Bd. 2, Berlin, New York 1973.

— Nietzsche, Friedrich: Ecce Homo. Wie man wird, was man ist (1888), in: ders.: Nietzsches Werke. Kritische Gesamtausgabe, hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Abt. 6, Bd. 3, Berlin 1969.

— Ortheil, Hanns-Josef: »Nachwort«, in: Roland Barthes: Begebenheiten. Incidents (frz. 1987), übers. von Hans-Horst Henschen, Mainz 22007, S. 113–143.

— Quintilianus, M. Fabius: Institutio oratoria X. Lehrbuch der Redekunst. 10. Buch. Lateinisch und Deutsch, übers. und hg. von Franz Loretto, Stuttgart 1974.

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Sandro Zanetti (Hg.): Improvisation und Invention

Wenn eine Kultur etwas als Erfindung akzeptiert, dann hat dieses Etwas bereits den Status einer Tatsache erhalten, die vorhanden ist und auf ihren Nutzen oder auf ihre Funktion hin befragt werden kann. Was aber geschieht davor? Wie gewinnt das Erfundene Wirklichkeit? Wie in der Kunst, wie im Theater, wie in der Literatur und Musik, wie in der Wissenschaft? Und mit welchen Folgen? Die Beiträge in diesem Band beschäftigen sich alle mit einem Moment oder einem bestimmten Modell der Invention. Ausgehend von den jeweils involvierten Medien wird der Versuch unternommen, diese Momente und Modelle zu rekonstruieren. Um etwas über die entsprechenden Inventionen in Erfahrung bringen zu können, werden diese als Ergebnisse oder Effekte von Improvisationsprozessen begriffen: Improvisationen in dem Sinne, dass von einem grundsätzlich offenen Zukunftsspielraum ausgegangen wird, gleichzeitig aber auch davon, dass es ein Umgebungs- und Verfahrenswissen gibt, das im Einzelfall beschrieben werden kann.

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