Der Lebenslauf (Curriculum vitæ) ist kein Bologna-spezifisches Tier (↑ Bestiarium). Große Populationen wurden weit über die Grenzen der Emilia-Romagna hinaus gesichtet. Bedeutende Zoologen – darunter Stammer Auckerman, Buff Durette und Sharrieff Vanvoorhis – vermuten, dass seine globale Verbreitung in engem Zusammenhang mit der Verbreitung der Leistungsgesellschaft steht. Über die Natur dieser Beziehung besteht in Fachkreisen jedoch Uneinigkeit. Manche Studien legen eine Symbiose nahe (Auckermann (1978), Vanvoorhis (1994)), andere eine parasitäre Beziehung (Taraborelli et al. (2003)), wiederum andere sehen bloß eine Korrelation (Laitinen (2001)). Erwiesen scheint, dass der Lebenslauf nicht direkt vom Kapitalismus abhängt, wie Anfang des 20. Jahrhunderts angenommen, da er auch in anderen leistungsorientierten Wirtschafts- und Gesellschaftssystemen gesichtet wurde. Bereits die drei- und mehrsilbigen Namen des Lebenslaufs und seiner Artverwandten (Assessment Centre, Bewerbungsschreiben, Arbeitszeugnis) deuten gemäß den Zoosemiotikern McCrate Battenfield und Marilyn Wood darauf hin, dass es sich nicht um harmlose Kreaturen einer dörflichen Kleintierschau handelt (wie die Geiß, der Hahn oder das Schaf), sondern um potente Bestien, denen mit Umsicht und Respekt zu begegnen ist (wie dem Säbelzahntiger, dem Rottweiler oder der Tsetsefliege).
Der gewöhnliche Lebenslauf (Curriculum vitæ vulgaris) besteht zu einem Großteil aus Zellulose, Pigmenten, Binde- und Lösungsmitteln. Er ist rechteckig (in Europa zumeist 210×297mm) und hat ein Gewicht zwischen 80 und 120g pro Quadratmeter. Dient ihm eine Spiralbindung als Rückgrat oder eine Plastikfolie als Schutz, kann sich das Körpergewicht erheblich erhöhen. In neuerer Zeit haben sich Lebensläufe etabliert, die keine eigentliche Masse mehr aufweisen und nur mittels eines Computerprogramms und eines Bildschirms Form annehmen. Die meisten Lebensläufe haben eine weiße Hintergrundfarbe und einen klar strukturierten Aufbau (vgl. hierzu Slothrop und Tyrone (1985)). Die Gestaltung kann erheblich variieren und ist bestimmt durch die ästhetischen Vorlieben und die Fähigkeit, diese in Form zu gießen.
Kilgore und Trout (2005) beobachten, dass die Artenvielfalt seit 2002 erheblich abgenommen hat, und sie vermuten, dass diese Entwicklung durch den Europass Lebenslauf (siehe unten) zusätzliches Momentum gewinnen wird. Der Lebenslauf ist ein Kondensat aus der Biografie seiner Schöpferin oder seines Schöpfers und deshalb inhaltlich singulär, wobei auch hier die Vermutung naheliegt, dass Standardisierungsbemühungen in allen Bereichen der Erwerbsarbeit und der Leistungsanforderungen die Biografien der Stellensuchenden mit der Zeit glätten werden und nur die am besten angepassten, also die flexibelsten, überleben werden, wie Blocher, Köppel und Vasella (2014) argumentieren.
Angesichts der weltweiten Verbreitung des Lebenslaufs und der ungezählten Variationen in Form und Inhalt verdienen die Studien von Battenfield und Wood (1993, 1999) ein besonderes Augenmerk. Sie betrachten den Lebenslauf nicht unter strikt biologischen oder zoologischen Gesichtspunkten, sondern sehen in ihm ein Medium der wechselseitigen Vermittlung – aber auch der Manipulation – zwischen Arbeitnehmenden und Arbeitgebenden (↑ Arbeitsmarkt). Während ein Lebenslauf für die Bewerbung um einen Arbeitsplatz Bedingung ist, der Lebenslauf von Arbeitgebenden in gewisser Weise also als Machtinstrument eingesetzt wird, ist es nicht unüblich, dass prospektive Arbeitnehmende ihn so ausschmücken oder zurechtstutzen, dass er ihnen zur Ehre und Achtung gereicht. Das gegenseitige Einverständnis, dass der Lebenslauf lediglich der ersten Identifikation interessanter Arbeitnehmenden dient und damit eine imperfekte Filterfunktion übernimmt, hat dazu geführt, dass dem Lebenslauf verwandte Wesen wie Bewerbungsschreiben und Arbeitszeugnisse, sowie, später im Prozess, Bewerbungsgespräch und Assessment Centres zur Seite gestellt werden. Die Entsendung dieser Artverwandten kann als strategische Antwort auf die »Taktiken der kleinen Leute« (Angleberger (2001)) gelesen werden, die auf spielerische Art mit dem Wahrheitsgehalt von Lebensläufen umgehen, und soll sicherstellen, dass sie nicht über sich hinauswachsen.
Während der Lebenslauf und das Bewerbungsschreiben lediglich erste Filter sind, dienen das Bewerbungsgespräch, die Arbeitszeugnisse, das Assessment Centre und die herkömmlichen Suchmaschinen und elektronischen Datenbanken der möglichst kompletten Durchleuchtung potenzieller Arbeitnehmenden. Gemeinsam ist diesem Ensemble, dass sie Arbeitgebenden die Angst vor einer ungewissen Zukunft nehmen, ihnen erlauben, bei einer Fehleinschätzung keine persönliche Verantwortung zu übernehmen, sondern auf die Unzulänglichkeit der angewandten Instrumente zu verweisen.
Manche Subjekte des Arbeitsmarkts berichten, dass ihnen die Erstellung eines Lebenslaufs Freude bereitet (vgl. Hänggi (1982, 2005, 2010)). Es gibt aber aktiv eingeleitete Mutationen, die dieser Freude entgegenzuwirken trachten und bestrebt sind, Arbeitssuchende mit wenig Erfahrung in der Erstellung von Lebensläufen von vornherein zu disqualifizieren, wie Kilgore und Trout (2005) argumentieren.
Eine dieser Mutationen, die eng mit Bologna in Verbindung steht, in der Bevölkerung allerdings wenig bekannt ist, ist jene des in 26 Sprachen erhältlichen Europass Lebenslaufs (Curriculum vitæ europæum supervulgaris). Der Europass Lebenslauf ist Teil des Europäischen Bildungspasses, welcher durch die Entscheidung Nr. 2241/2004/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. Dezember 2004 über ein einheitliches gemeinschaftliches Rahmenkonzept zur Förderung der Transparenz bei Qualifikationen und ↑ Kompetenzen verabschiedet wurde (vgl. Internet et al. (2004–2012)). Durch eine einheitliche Gestaltung und Struktur bringe der Eurolauf Lebenspass Vereinheitlichung in die europäische Bewerbungspraxis und mache Lebensläufe lesbar für alle Stufen der Human Resources, so die Verantwortlichen (↑ Leistungspunkte/ECTS). Die Wegleitung enthält wertvolle Hinweise für Stellensuchende, wie: »Häufig ist der Lebenslauf das Erste, was ein potenzieller künftiger Arbeitgeber von Ihnen zu Gesicht bekommt. Er muss deshalb die Aufmerksamkeit des Lesers von der ersten Sekunde an fesseln …«, »Löschen Sie alle Rubriken, zu denen Sie keine relevanten Angaben machen können. Verwenden Sie dazu die Funktion ›Ausschneiden‹ Ihres Textverarbeitungsprogramms« und »Verwenden Sie die vorgegebene Schriftart und halten Sie sich an das vorgegebene Seitenlayout«.
Dumény Waddups, unabhängige Beobachterin an den vorbereitenden Sitzungen, weist im Artikel »Vom Europass zum Eurospaß« (2005) darauf hin, dass der Lebenspass Eurolauf gut gemeint sei und in der Konzeptionsphase Sandwich-Lunches mit zwei vegetarischen Optionen an der Tagesordnung waren. Kilgore und Trout blenden im Artikel »Europass: A neoliberal approach to streamlining the marketplace, dumbing down the masses and getting a free roastbeef sandwich« die vegetarischen Optionen komplett aus und sehen in dieser Mutation des Lebenslaufs die in ihren Augen haltlose Annahme, dass viele Personalverantwortliche mit dem Lesen von nichtstandardisierten Lebensläufen überfordert seien. Sie bestreiten vehement, dass die Standardisierung in einer egalitären Tradition stehe und die Chancengleichheit fördere. Stattdessen meinen sie erkannt zu haben, dass der Europass Lebenslauf zu einer Nivellierung nach unten führe und in auffallendem Kontrast zu den »↑ Exzellenz-Phantasien der Bologna-Befürworter« (↑ Bologna-Prozess) stehe. Weiter argumentieren sie, dass das »hemdsärmelige Logo und die unprofessionelle Gestaltung« es ermöglichten, die Europass-Stellensuchenden von vornherein in eine tiefere Lohnklasse – oder in ein drittes und viertes unbezahltes Praktikum – einzuteilen, da es offensichtlich sei, dass sie über wenig Erfahrung im Arbeitsmarkt verfügen und deshalb auf ein Standardinstrument zurückgreifen. Menschen mit nichtlinearen Biografien hätten es schwer, ihren Werdegang in das vorgegebene Muster zu zwängen, und würden deshalb von vornherein ausgeschlossen, genauso wie alle, die sich nicht als flexible, den Machtstrukturen anpassungsfähige Subjekte sehen. Letzterer Punkt wird jedoch von Waddups mit Hinweis auf das Feld »Zusätzliche Angaben« bestritten. Sie sieht den Eurospaß Lebensfaul als klares Signal, dass es dem Europäischen Parlament ernst ist mit der europaweiten Mobilität (↑ Globalisierung), wobei hier Kilgore und Trout einmal mehr anfügen, dass es sich bestenfalls um »downward mobility« handle.
Sansouci Angleberger: Employer Branding 101, Indianapolis 2001.
Stammer Auckerman: »Curriculum Vitae: Symbiosis or Self-Aggrandizement?« in: Blissful Biology, New York 1978.
McCrate Battenfield und Marilyn Wood: »Curriculum vitae: a zoosemiotical approach to a thriving species in developed societies and beyond« in: Zoosemiotics, Bloomington 1993.
McCrate Battenfield und Marilyn Wood: »What we forgot to mention six years ago« in: Zoosemiotics, Bloomington 1999.
Buff Durette: On the Zeitgeist of the Leistungsgesellschaft, New York 1963.
Christian Hänggi: Lebenslauf als Lebensinhalt: Über die Wiederentdeckung der eigenen Biographie, Novosibirsk 1982.
Christian Hänggi: »Times New Roman oder Arial? Ein Plädoyer für Comic Sans«, in: Fürnehm gestalten Nr.1, Berlin 2005.
Christian Hänggi: »Der schriftliche Lebenslauf als Ausschlussmechanismus in revolutionären Zellen«, in: Philipp Meier und Adrian Notz (Hgg.): Die Revolution zur Zerschlagung des globalen Kapitalismus, Zürich 2010.
Internet, W. W. W. et al.: »Download the CV template and instructions«, http://europass.cedefop.europa.eu/en/documents/curriculum-vitae/templates-instructions.
Internet, W. W. W. et al.: »Europass Lebenslauf – Überblick«.
Internet, W. W. W. et al.: »Vorauseilender Gehorsam als Tugend im Arbeitsmarkt«, in: Christoph Blocher, Roger Köppel und Daniel Vasella (Hgg.): Wie wir die Schweiz wettbewerbsbefähigen, Uetikon am See 2014.
Ernest Kilgore und Emilee Trout: »Europass: A neoliberal approach to streamlining the marketplace, dumbing down the masses and getting a free roastbeef sandwich«, in: The European Educator Nr 24. London 2005.
Eppich Laitinen: »Correlating curriculum vitae and work market productivity«, in: Useful Economics, Brobdingnag 2001.
Tyrone Slothrop: Lebenslauf leicht gemacht, Puchheim 1985.
Vada Taraborelli, et al.: »Warum Auckerman nicht alle Tassen im Schrank hat, oder: Der Lebenslauf als parasitäre Lebensform«, in: Auckerman Counterstudies N° 275, Laurel Canyon 2003.
Sharrieff Vanvoorhis: »Why Stammer Auckerman is right«, in: Auckerman Studies N° 233, Glendale 1994.
Dumény Waddups: »Vom Europass zum Eurospaß«, in: MAD – Das intelligenteste Magazin der Welt Nr. 064, Stuttgart 2004.
studierte Kommunikationswissenschaften an der Universitäten Lugano und Toronto. Er hat einen PhD in Media and Communication von der European Graduate School und einen PhD in Anglophoner Literatur- und Kulturwissenschaft von der Universität Basel. Er ist Autor von Gastfreundschaft im Zeitalter der medialen Repräsentation: Eine Ökonomie des Geistes (Passagen Verlag, 2009) und hat zu so verschiedenen Themen wie Außenwerbung, Karlheinz Stockhausen oder South Park publiziert. Als Amateurmusiker spielt er in Saxofon verschiedenen Bands und Orchestern und hat ein Album mit Interpretationen von Thomas Pynchons Liedern produziert.
»ECTS-Punkte«, »employability«, »Vorlesung« – diese und viele weitere Begriffe sind durch die Bologna-Reformen in Umlauf geraten oder neu bestimmt worden und haben dabei für Unruhe gesorgt. Die Universität ist dadurch nicht abgeschafft, aber dem Sprechen in ihr werden immer engere Grenzen gesetzt. Anfangs fremd und beunruhigend, fügen sich die Begrifflichkeiten inzwischen nicht nur in den alltäglichen Verwaltungsjargon, sondern auch in den universitären Diskurs überhaupt unproblematisch ein.
Das Bologna-Bestiarium versteht sich als ein sprechpolitischer Einschnitt, durch den diese Begriffe in die Krise gebracht und damit in ihrer Radikalität sichtbar gemacht werden sollen. In der Auseinandersetzung mit den scheinbar gezähmten Wortbestien setzen Student_innen, Dozent_innen, Professor_innen und Künstler_innen deren Wildheit wieder frei. Die Definitionsmacht wird an die Sprecher_innen in der Universität zurückgegeben und Wissenschaft als widerständig begriffen.