Seit es sie gibt, die Vorlesung – und es gibt nichts Typischeres als sie im öffentlichen Bild der Universitäten – ist sie verschrien: als der Inbegriff eines so oder so verunglückten Auftretens: nach außen hin zu pompös oder speziell (kurz elitär (↑ Elite)), nach innen zu autoritär und monologisch (kurz unkooperativ, ja undemokratisch). Es mag absurd erscheinen, sie angesichts solcher Vornotierungen und ausgerechnet aus Anlass einer weiteren, vielleicht der letzten, für manch einen ins Apokalyptische gesteigerten Krise der Universitäten in ein besseres Licht setzen und als das älteste Bild einer universitären Lern- und Lebensform rekonstruieren zu wollen, die es zu erhalten, zu reformieren, auf neue Füße zu stellen gilt.
Das minimale Maß an verlorener Idealität, das ein konstitutives Moment dessen ist, wie Universitäten funktionieren und Professoren lehren, lässt sich an wenigen Eigenheiten besser zeigen als an der geschmähten, gescholtenen, belächelten Vorlesung und den in ihr Auftretenden. Denn es handelt sich offensichtlich um ein theatralisches, vom Talent der Professoren zur Performance abhängendes Genre, dem noch in dem neuesten, von MBA-Attitüden getragenen Abscheu vor alt-akademischen Eliten die ur-deutsche Fata Morgana der sokratisch-wesentlicheren, weil arbeitsintensiveren Workshops entgegen gehalten wird. Das schlechte Theater der Vorlesungen galt schon längst als beklagenswert, um nur ausnahmsweise und umso begeisterter beklatscht zu werden, falls es sich um den Auftritt eines Exemplars der ausgestorbenen Gattung des deutschen Genies handelte. Theodor W. Adorno in Frankfurt, Hugo Friedrich in Freiburg, Richard Alewyn in Bonn, Emil Staiger in Zürich oder Wolfgang Preisendanz in Münster waren – jeder auf seine eigene Art – die bewunderten Ausnahmen in der Vorlesungswüste der Nachkriegsjahrzehnte.
So behauptete man in der ersten Welle der Universitätsreformen der sechziger Jahre als erstes auf Vorlesungen verzichten zu können und experimentierte stattdessen mit allerlei Seminar- und Arbeitsgruppenmodellen. Es war – und war leicht nachzuvollziehen – als hätte sich das theatrale Geschäft des Vorlesens mit den Vergangenheitsbelastungen des Nachkriegs vollends diskreditiert. Und fast sah es aus, als gäbe es außer dieser Form der Darbietung nicht viel anderes zu verbessern. Immerhin eignete die Vorlesung sich mehr als irgend eine andere Form zur öffentlich-wirksamen Kritik: Sie ließ sich effektiv stören oder auch umfunktionieren und offenbarte dabei ein Potential, von dem die alt-autoritäre Professoren-Persönlichkeit offenbar nur noch parasitär zu profitieren verstand. Seminare und Arbeitsgruppen versprachen eine bessere Beteiligungsstruktur, obwohl jedem klar sein musste, dass in kleinen Gruppen Autorität nicht weniger, sondern eher beherrschender zum Zuge kommen kann als in der großen Vorlesung alten Stils. Womit wir bei einem entscheidenden Punkt sind.
Abonnieren Sie
diaphanes
als
Magazin
und lesen Sie weiter
in diesem und weiteren 1399 Artikeln online
Sind Sie bereits Abonnent?
Dann melden Sie sich hier an:
lehrt Literatur und Philosophie an der New York University und ist Direktor des »Poetics and Theory Doctoral Program«.
Zudem ist er seit 1996 Sprecher des DFG-Graduiertenkollegs »Lebensformen und Lebenswissen« an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt/Oder, wo er 1996–2009 den Gründungslehrstuhl für Westeuropäische Literaturen an der Fakultät für Kulturwissenschaft innehatte.
Jüngste Veröffentlichungen: Metapher. Die Ästhetik in der Rhetorik, München 2007; Diesseits der Oder. Frankfurter Vorlesungen, Berlin 2008.
»ECTS-Punkte«, »employability«, »Vorlesung« – diese und viele weitere Begriffe sind durch die Bologna-Reformen in Umlauf geraten oder neu bestimmt worden und haben dabei für Unruhe gesorgt. Die Universität ist dadurch nicht abgeschafft, aber dem Sprechen in ihr werden immer engere Grenzen gesetzt. Anfangs fremd und beunruhigend, fügen sich die Begrifflichkeiten inzwischen nicht nur in den alltäglichen Verwaltungsjargon, sondern auch in den universitären Diskurs überhaupt unproblematisch ein.
Das Bologna-Bestiarium versteht sich als ein sprechpolitischer Einschnitt, durch den diese Begriffe in die Krise gebracht und damit in ihrer Radikalität sichtbar gemacht werden sollen. In der Auseinandersetzung mit den scheinbar gezähmten Wortbestien setzen Student_innen, Dozent_innen, Professor_innen und Künstler_innen deren Wildheit wieder frei. Die Definitionsmacht wird an die Sprecher_innen in der Universität zurückgegeben und Wissenschaft als widerständig begriffen.