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Clemens Pornschlegel: Evaluation
Evaluation
(S. 95 – 99)

Evaluation und elektronisches Halsband

Clemens Pornschlegel

Evaluation

PDF, 5 Seiten

Unter dem Lemma »Evaluation« vermerkt Wahrigs Deutsches Wörterbuch in der Auflage von 1988 kurz und knapp: »Schätzung, Wertbestimmung, Bewertung, Beurteilung; frz. ›évaluation‹: ›Abschätzung‹, ›Bewertung‹.« Der französische Petit Robert aus dem Jahr 1989 definiert »évaluation« noch ähnlich unaufgeregt: »appréciation, calcul, détermination, estimation, expertise, prisée. Évaluation d’une fortune, de biens. Évaluation des marchandises en magasin. Inventaire. Approximation.«

Schätzung eines Vermögens, Bewertung vorrätiger Waren, approximative Berechnung einer Entfernung … Ende der 1980er Jahre deutet noch nichts auf die steile politische Karriere des Wortes hin. Knappe zehn Jahre später hat es seine Harmlosigkeit verloren. Was in Bologna-Zeiten (↑ Bologna-Prozess) Evaluation heißt, hat mit den älteren Homonymen nichts mehr zu tun. Evaluation im Bologna-Sinn meint eine ausgefeilte Technik ökonomistischer Governance, das heißt unternehmerisch konzipierter Machtausübung. Sie ist Element der permanenten Kontrollpraktiken, die unter der Off-shore-Flagge TINA segeln und von einer entpolitisierten, sich selbst verleugnenden Macht über ihre Subjekte gelegt worden sind: there is no alternative! Binnen eines Jahrzehnts sind der neue ideologische Begriff und die dazugehörige verwaltungstechnische Sache flächendeckend durchgesetzt worden. Die einen, nämlich die Evaluationsauftraggeber, versuchen damit die anderen, die Evaluierten, in dynamisch steuer- und manipulierbare »Human Ressources« zu verwandeln. Status, Titel, Namen zählen nicht mehr, sie behindern nur Flexibilität, Fluidität, Mobilität (↑ Globalisierung), kurzum: die unternehmerische Freiheit. Was zählt, ist die Bilanz des universitären Gesamtunternehmens im Hinblick auf den imaginären Kapitalmarkt des Wissens (↑ Leistungspunkte/ECTS) beziehungsweise die (nicht minder imaginäre) Notierung an den großen und kleinen Ranking-Börsen (↑ Ranking).

Der Wikipedia-Artikel von 2010 kommt der Sachlage schon etwas näher. Evaluation, so heißt es dort, sei die »Beurteilung von Maßnahmen, die auf ihre Wirksamkeit hin untersucht werden«. Der anonyme Verfasser fährt fort: »Auf der Basis einer Zielvereinbarung wird eine Ausgangserhebung durchgeführt; es werden daraufhin Maßnahmen geplant, mit denen die Ziele erreicht werden sollen. Dann müssen Beurteilungskriterien entwickelt werden, mit denen man überprüfen kann, ob die Maßnahmen zum Erfolg geführt haben. Eventuell nach Zwischenerhebungen während der Durchführung wird in einer Schlusserhebung der Erfolg der Maßnahme überprüft, um daraus neue Zielvereinbarungen zu treffen und erneut in den Kreislauf einzutreten. Betroffene sollen zu Beteiligten werden, so dass der Prozess konsensual verläuft und nicht durch fremde Interessen und unklare Kriterien bestimmt wird.«

Die Sätze geben den Stand der Dinge trefflich wieder. Mit der Unschuld des Begriffs ist es ebenso vorbei wie mit stilistischer Politesse. Man versteht schon: Evaluation bedeutet die Kontrolle von Maßnahmen, mit welcher der oberen Führung die erfolgreiche Durchsetzung, pardon: Implementierung ihrer laufenden Reformideen rückgemeldet werden soll, das Ganze – wie könnte es anders sein – »auf der Basis einer konsensualen Zielvereinbarung«. Am schönsten ist es nämlich, wenn die Evaluierten immer auch das sublime Corporate-Identity-Gefühl entwickeln, Mit-Evaluierende zu sein, eben im Hinblick auf jene gemeinschaftlichen Zielvorgaben, die sozusagen nah und greifbar vor ihnen liegen. Durch die Magie des Konsenses, der »Betroffene« wie durch ein Wunder in »Beteiligte« verwandelt, leuchtet die Morgenröte der besseren Welt. Sie müssen nur noch ein bisschen schneller rudern … Encore un petit effort … Plansoll erfüllen … Helden der Wissenschaft … the winner takes it all …

Diesseits des Verwaltungs- und Propaganda-Schrifttums ist der unterstellte Konsens natürlich reine Fiktion, man könnte auch sagen: eine dreiste, interessierte Lüge. In den laufenden Bologna-Evaluationsprozessen hat es »gemeinsame Zielvereinbarungen« noch nie gegeben. An einen handfesten politischen Streit über die flinke Abschaffung des bisherigen deutschen Hochschulwesens, in dem Studenten, Professoren, Bildungspolitiker, engagierte Bürger um die Zukunft des Bildungssystems und dessen Zielsetzungen gerungen hätten, kann sich niemand erinnern. Stattdessen kam der Engel der Modernisierung vorbei und verkündete eiserne Botschaften: ↑ Exzellenz, ↑ Elite, Leistungsprinzip, Cluster, ↑ Module. Genau verstanden hat ihn in seinem traurigen Pidgin-Englisch niemand (↑ Bologna-Glossar). Und dementsprechend vage und unklar bleibt auch das Telos des großen, komplexen Prozesses. Seine Herkunft ist ungewiss: Shanghai-Ranking? Bertelsmann-Stiftung? OECD? Brüssel? Wissenschaftsrat? Hochschulrektorenkonferenz? Arbeitgeberverband? Rating-Agenturen? Edelgard Bulmahn? Kein Mensch kann sich wirklich erinnern, wer wann die Ziele der ständigen Evaluationen wie und auf welcher Grundlage je definiert hätte und worin sie tatsächlich bestehen. Mobilitätssteigerung, Fitmachen für die Welt von morgen, Bestehen im globalen Wettbewerb, Effizienz, Qualitätsmanagement (↑ Qualitätssicherung): das sind keine Ziele, sondern Marketing-Phrasen für die Kulisse. Sollen die Hochschulen eine größere Zahl von Diplom- und Titelträgern produzieren? Zwanzig Nobelpreise in den nächsten zehn Jahren? Wie verhalten sich Qualität und Quantität zueinander? Sollen bessere und mehr Absolventen produziert werden? Geht es darum, den IQ des Durchschnittsstudenten ins Schwindelerregende zu treiben? Liegt der Forschungsoutput einer W3-Professur eher bei zwanzig oder dreißig Artikeln per annum? Müsste man nicht Good-Feeling-Diagramme, analog zur pain chart, für die Lehrevaluation entwickeln?

Man muss keine Evaluationsstatistik kennen, um zu ahnen, dass die Zielvorgaben und Kriterien genauso dunkel, widersprüchlich und konfus sind wie einst nur die Vorgaben der sowjetischen Landwirtschaftsplanung. Niemand kennt sie. Zum Glück ist das allerdings auch nicht notwendig. Denn wichtig an der Evaluation ist allein, dass sie stattfindet. Entscheidend ist der Kontrollprozess selbst. Er ist inhaltsleer, aber absolut zwingend. Keiner darf ihm entkommen, niemand darf sich ihm entziehen. Und vor allem soll niemand auf die Idee kommen, er sitze nicht im Boot, das von der Unternehmensführung durch die Stürme der globalen Märkte in die Bessere-und-Exzellentere-Zukunft gesteuert wird.

Je widersprüchlicher und konfuser die Vorgaben, desto zwingender die Permanenz der Kontrolle.1 An Paradoxien mangelt es nicht: Modernisierung bei gleichzeitiger Fortführung der Traditionen (oder umgekehrt); Chancengleichheit bei gleichzeitiger Förderung der Elite (oder umgekehrt); ↑ lebenslanges Lernen bei gleichzeitiger Verkürzung der Ausbildungszeiten (oder umgekehrt); Vermittlung allgemeiner ↑ Kompetenzen bei gleichzeitiger Zentrierung auf spezialisiertes Fachwissen (oder umgekehrt). Daraus kann logisch immer nur eines folgen: dass die Evaluierten den Standards nicht genügen. Sofern A und Non-A gleichzeitig erreicht werden sollen, liegt das in der Natur der seltsamen Sache selbst. Aus jeder Evaluation wird immer nur hervorgehen, dass die Evaluierten den Zielvorgaben noch nicht ganz gerecht geworden sind. Und je weniger jemand weiß, wozu und wie, desto mehr wird er sich anstrengen (müssen).

Vor allem aber haben die Evaluations-Subjekte zu begreifen, dass sie nicht Herr im eigenen Haus sind, sondern »ressources«. Universitäten unterstehen externen Agenturen, Strategieplanern, Bildungspolitikern, Ranking-Spezialisten, internationalen Experten. Sie – und nicht das altertümliche Collegium aus Lehrenden und Studierenden – haben die Macht und das Sagen, ganz besonders wenn es um Dinge geht, von denen dieselben Experten nicht die geringste Ahnung haben, vom barocken Trauerspiel bis zur Hämostaseologie, denen umgekehrt aber die Angehörigen der Universität, sofern sie sich nicht ins Management verabschiedet haben, verpflichtet sind.

Was die Evaluierer den Evaluierten mit hemdsärmeliger Unverschämtheit bedeuten, ist der Umstand, dass die Universität kein Ort freien Forschens und Lehrens mehr ist. Dass es nicht reicht, sich in langjährigen Studien und Forschungsarbeiten irgendein seltenes, womöglich diffiziles Wissen anzueignen, um schon für den Betrieb, die Märkte und die Konkurrenzen gerüstet zu sein (↑ Employability). Sie allein aber zählen im weltweit tobenden Wissenswirtschaftskrieg! Was wären Fundamentalontologie und Systemtheorie ohne Markt, Rankingtabellen und global impact denn wert? Na also … Es genügt folglich nicht, wissenschaftliche Kompetenz in öffentlichen Promotions- und Habilitationsverfahren, in Publikationen und Konferenzen permanent unter Beweis zu stellen, um schon effizient zu lehren und zu forschen. In Zeiten des ökonomischen Dauerausnahmezustandes geht es nicht mehr um freie, selbstbestimmte Wissenschaft. Jede Evaluation ist deswegen eine manageriale Machtdemonstration an die Adresse derer, deren individuelles Wissen womöglich in Widerspruch geraten könnte zu den alternativlosen Vorhaben der Planer und decision makers. Was gut ist für IBM, ist nicht nur für das Großbritannien Maggie Thatchers gut, sondern selbstredend auch für jede Provinzuniversität. »Wie kommt denn die Scaliger-Forschung an? Das muss evaluiert werden!«

Der ideologische Trick, mit dem die Evaluationsstrategen der nicht-universitären Welt die Liquidation der Freiheit in Forschung und Lehre schmackhaft machen, hört auf die Zauberformel der guten Welt schlechthin: »Demokratie«, Evaluation = Demokratie.2 Gemeint ist damit nichts altertümlich Politisches, sondern etwas ultra-post-modern Ökonomisches: Wer zahlt, schafft an! Das ist der »dernier cri«, der aus den Jubelfeiern anlässlich des Sieges des freien Westens über den maroden Osten übrig geblieben ist. Wieso soll der Steuerzahler vom Standort Deutschland denn Altgriechisch in X finanzieren, wenn es das auch in Y gibt? Und überhaupt: Rechnet sich das? Ist das auch nachhaltig? Ergo: Lasst uns evaluieren und schon einmal einen Vorratsbeschluss auf Stellenstreichungen in X und/oder Y fassen. Die konsensuale Evaluation, wie dunkel und vage auch immer, liefert wie durch ein Wunder auch die konsensuale Legitimation für die ebenso konsensualen Entscheidungen der Strategen und Experten, auch wenn kein Mensch sie je zu Gesicht bekommt.

Gilles Deleuze hat 1990 in einem kleinen, luziden Essay zu den Kontrollgesellschaften die entscheidenden Momente unserer Neuen Welt benannt. Er schrieb: »Man braucht keine Science-Fiction, um sich einen Kontrollmechanismus vorzustellen, der in jedem Moment die Position eines Elements in einem offenen Milieu angibt, Tier in einem Reservat, Mensch in einem Unternehmen (elektronisches Halsband). […] Wir stehen am Beginn von etwas Neuem. Im Bildungswesen: vor den Formen der kontinuierlichen Kontrolle und der Verabschiedung der alten Examen durch die permanente Weiterbildung. Dem entspricht die Preisgabe jeglicher Forschung an der Universität und die Einführung des ›Unternehmens‹ auf allen Ebenen des Bildungs- und Ausbildungswesens.«3 Deleuze hatte Recht: Evaluation und elektronisches Halsband gehören zusammen. Sie sind Teil desselben Unternehmens.

1 Für eine präzise und schneidende Analyse der im Folgenden kurz aufgezählten Widersprüche vgl. die Darstellung von Jean-Claude Milner: La politique des choses. Court traité politique I, Paris 2011, S. 18ff. – In seiner Analyse der »Evaluation« bezieht Milner sich auf die französische Situation der Education nationale, aber auch (und wichtiger) auf die vom Gesundheitsministerium in Auftrag gegebene Evaluation der Effizienz der Psychoanalyse, mit der es, so Milner, darum geht, jedes Individuum an die Normalität der Gruppe zu binden und dessen Recht auf sein Geheimnis, seine »Undurchdringlichkeit«, auf die eigene singuläre Intimität zu brechen. Mit der Psy-Evaluation werden begehrende und politisch sprechende Subjekte in verwertbare Dinge verwandelt.

2 Jean-Claude Milner macht auf die unheilige Allianz von ›populistischen Soziologen‹ und Managementdoktrinären aufmerksam. Sie habe im öffentlichen Bewusstsein die folgende Gleichung fest verankert: »Jedes Wissen bedeutet Ungerechtigkeit. Und daraus folgt umgekehrt: Nur das Unwissen ist gerecht. Das intellektuelle Kleinbürgertum kann sich aus dieser Lage nur schwer befreien, und die Evaluation, diese ideologische Fledermaus, profitiert davon; sie klammert sich an die Ambivalenz und nährt sich davon. Einerseits ist sie Wissen, schauen Sie nur auf ihre Flügel; andererseits verachtet sie jedes Wissen, betrachten Sie nur ihre Zähne.« (Jean-Claude Milner: La politique des choses, Anm. 1, S. 19). – Milners Sätze machen zum einen das sozialdemokratische Ressentiment gegen die Universität verständlich, aus dem das absurde, sozialpolitisch desaströse Programm einer »Elite für alle« abgeleitet worden ist; zum anderen erklären die Sätze die von Schuldgefühlen getragene Wehrlosigkeit des intellektuellen Kleinbürgertums (sprich: der Universitätsangehörigen) gegenüber der Kontrollpraxis namens »Evaluation«. Es ist nicht schwer zu erraten, wer tatsächlich politischen Profit aus diesen Ressentiments, Ambivalenzen und Schuldgefühlen schlägt.

3 Gilles Deleuze: »Postskriptum über die Kontrollgesellschaften«, in: ders.: Unterhandlungen 1972–1990, Frankfurt/Main 1993, S. 261. – Auf Grundlage des französischen Textes leicht modifizierte Übersetzung.

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Clemens Pornschlegel

ist Professor für Neuere deutsche Literatur am Institut für Deutsche Philologie in München. Er arbeitet schwerpunktmäßig zur deutschen und französischen Literatur und Philosophie des 19. und 20. Jahrhunderts.

Unbedingte Universitäten (Hg.): Bologna-Bestiarium

Unbedingte Universitäten (Hg.)

Bologna-Bestiarium

Broschur, 344 Seiten

PDF, 344 Seiten

»ECTS-Punkte«, »employability«, »Vorlesung« – diese und viele weitere Begriffe sind durch die Bologna-Reformen in Umlauf geraten oder neu bestimmt worden und haben dabei für Unruhe gesorgt. Die Universität ist dadurch nicht abgeschafft, aber dem Sprechen in ihr werden immer engere Grenzen gesetzt. Anfangs fremd und beunruhigend, fügen sich die Begrifflichkeiten inzwischen nicht nur in den alltäglichen Verwaltungsjargon, sondern auch in den universitären Diskurs überhaupt unproblematisch ein.

Das Bologna-Bestiarium versteht sich als ein sprechpolitischer Einschnitt, durch den diese Begriffe in die Krise gebracht und damit in ihrer Radikalität sichtbar gemacht werden sollen. In der Auseinandersetzung mit den scheinbar gezähmten Wortbestien setzen Student_innen, Dozent_innen, Professor_innen und Künstler_innen deren Wildheit wieder frei. Die Definitionsmacht wird an die Sprecher_innen in der Universität zurückgegeben und Wissenschaft als widerständig begriffen.

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