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Jacques Rancière: Wahl und demokratische Vernunft
Wahl und demokratische Vernunft
(S. 163 – 166)

Präsidentschaftswahl als Karikatur der Demokratie

Jacques Rancière

Wahl und demokratische Vernunft

Übersetzt von Ellen Antheil und Richard Steurer

Aus: Moments politiques. Interventionen 1977-2009, S. 163 – 166

Der Text erschien am 22. März 2007 in der Tageszeitung Le Monde während des französischen Präsidentschaftswahlkampfes.


Wie frühere Präsidentschaftswahlen gibt auch diese den selbsternannten oder involvierten »Ärzten der Gesellschaft« die Gelegenheit, das alte Lied von der Krise oder der Malaise der Demokratie anzustimmen. Vor fünf Jahren ließen sie sich gegen die unverantwortlichen Wähler aus, die ihrem persönlichen Geschmack gemäß für »Protestkandidaten« stimmten und nicht als verantwortliche Bürger für die »Regierungskandidaten«. Heute beklagen sie die Medienherrschaft, die Präsidentschaftskandidaten »fabriziert«, wie man Produkte auf den Markt bringt. Indem sie das anklagen, was sie als eine Perversion der Präsidentschaftswahl ansehen, bestätigen sie das Postulat, dass diese Wahl tatsächlich die höchste Verkörperung der Macht des Volkes darstellt.

Die Geschichte und der gesunde Menschenverstand lehren jedoch, dass das nicht der Fall ist. Die direkte Wahl des Präsidenten wurde nicht erfunden, um die Macht des Volkes einzusetzen, sondern um sie zu konterkarieren. Sie ist eine monarchische Institution, eine Verdrehung der kollektiven Wahl, um diese in ihr Gegenteil zu verwandeln, in die Unterwerfung unter einen überlegenen Mann, der der Gemeinschaft als Führer dient. Sie wurde in Frankreich 1848 als Gegengewicht zur Macht des Volkes errichtet. Die Republikaner hatten geglaubt, das Risiko eingrenzen zu können, indem sie das Mandat auf vier nicht verlängerbare Jahre beschränkten. Der Staatsstreich von Louis Napoléon setzte den monarchistischen Geist der Institution gegen die republikanische Form durch.

Nach 1870 war keine Rede von der Präsidentschaft, bis de Gaulle sie 1962 wieder einführte. Es gehe darum, sagte er, der Nation einen über den Parteien stehenden Führer zu geben. In Wirklichkeit ging es darum, alle Macht diesem Führer zu verleihen, indem man den ganzen Staatsapparat in den Dienst einer Minderheitspartei stellte. Die gesamte Linke hatte das damals verstanden und stimmte gegen diese Institution. Anscheinend haben alle es vergessen: Die Sozialisten haben mit den praktischen Vorteilen des Systems den intimen Charme des höfischen Lebens entdeckt; die Kommunisten und die radikale Linke fanden darin die Mittel, ihre Stimmen für den zweiten Wahlgang zu verhökern oder ein wenig Propaganda für ihren Krämerladen zu machen. Es ist nicht verwunderlich, dass alle oder fast alle im Jahr 2002 im Chor dazu aufriefen, den Kandidaten dieser »Demokratie« zu wählen.1

Heute wie gestern ist die Präsidentschaftswahl jedoch die Karikatur der Demokratie. Sie reduziert sie auf das Wirtschaftsmodell, das unsere Welt regiert, das Gesetz der vorgeblichen Konkurrenz im Dienste der »vernünftigen Wahl« der Individuen. Die Macht der Intelligenz eines jeden und die kollektive Entscheidungsmacht würden darin ausgeübt, dass man ein Individuum wählt, das einander entgegengesetzte Tugenden besitzt: ein Repräsentant seiner Partei und unabhängig von den Parteien; mit einem offenen Ohr für unsere »Probleme« und fähig, die Gesetze der Regierungswissenschaft durchzusetzen. Es soll zugleich ein persönliches Charisma und die Vernunft eines Programms für gültig erklären, das auf Grundlage häppchenweise verabreichter Expertisen zusammengestellt wird, die von den Spezialisten der einzelnen Bereiche zur Verfügung gestellt werden. Diese beziffern, was für die Gesundheit oder für die Justiz, für die Unternehmer oder für den Wohnungsbau ausgegeben wird, wobei hier die Profite eines künftigen Wachstums schon im Voraus verteilt werden, eines Wachstums, das selbst auf dem Vertrauen basiert, dass »die Märkte« sich schon diesem (und nicht etwa jenem anderen) Flickwerk aus Expertisen und Verheißungen anpassen werden.

Manche glauben unsere kollektive Teilnahme steigern zu können, indem sie die Kandidaten »aufrufen« und von ihnen Zusagen für die Schaffung dieses Lehrfachs, die Unterstützung jener künstlerischen Tätigkeit oder die Entwicklung jener Therapieform verlangen. Die »demokratische Wachsamkeit«, die sie auszuüben vorgeben, sanktioniert nur die kollektive Abdankung zugunsten einer höheren Weisheit, die zugleich auf die großen Belange des Planeten und auf die Verteilung jedes Cents zwischen den Interessengruppen achten soll.

Das ökonomische Modell der freien Wahl und der freien Konkurrenz, das willfährige Geister den Härten des Etatismus entgegensetzen, entspricht in Wirklichkeit genau den Formen des staatlichen Einflusses auf unsere Gedanken und Entscheidungen. Wer beansprucht denn, das Kosten-Nutzen-Gleichgewicht der jeweils von den Kandidaten vorgeschlagenen Maßnahmen in den Bereichen Justiz, Verkehr, Unterricht und Gesundheitswesen zu bestimmen? Wer wird es verstehen, das Verhältnis zwischen dem inneren Gleichgewicht der Programme, der Autorität, die der eine oder die andere2 verkörpern soll, und dem »Vertrauen der Märkte« zu berechnen? Wer das ehrlich machen wollte, dem böte sich ganz natürlich die Wahlenthaltung an. Zur Auswahl steht nämlich die Enthaltung und die Entscheidung, sich denen anzuvertrauen, die sich für fähiger als wir erklären, die Rechnung anzustellen.

Die Macht, die man ausübt, indem man für den einen oder die andere stimmt, ist nicht die rationale Wahl des Fähigsten, sondern einfach der Ausdruck des vagen Gefühls, dass jener Wahlzettel, den man der Geheimhaltung der Wahlurne anvertraut, besser die eigene Präferenz für die Autorität oder für die Gerechtigkeit, für die Hierarchie oder die Gleichheit, für die Armen oder für die Reichen, für die Macht der etablierten Fachkenntnisse oder für die Affirmation der politischen Fähigkeit eines jeden ausdrückt.

Das Paradox ist, dass dieses vage Gefühl, das die Wahrheit der vorgeblich rationalen Wahl der konkurrierenden Angebote ausdrückt, letztlich der wahrhaften politischen Vernunft näher ist: Die Politik ist nämlich vor allem Sache der »vagen« Gefühle bezüglich ein paar Grundfragen: der Frage, ob diejenigen, die in einem Land leben und arbeiten, diesem Land zugehören; ob jene, die dieselbe Arbeit machen, abhängig von ihrer Geschlechtszugehörigkeit unterschiedlich hohe Löhne erhalten sollen; ob jene, die sich für eine Arbeitsstelle oder eine Wohnung bewerben, nach Herkunft und Hautfarbe unterschieden werden sollen; und letztlich, ob die Angelegenheiten der Gemeinschaft Angelegenheiten von allen sind oder die von Eliten, die aus den Profis der Regierung, den Finanzmächten und den Experten dieser oder jener Schulen oder Disziplinen bestehen.

Dieses Gefühl, das sich verschlüsselt in Wahlenthaltungen oder »Proteststimmen« formuliert, drückte sich bereits klarer in der Ablehnung einer europäischen Verfassung aus, die alle Experten als die Verkörperung der Vernunft und der strahlenden Zukunft darstellten.3 Es nimmt Form an mit der kollektiven Aktion all jener, die ihre Fähigkeit affirmieren, über die Gültigkeit von Maßnahmen zu Arbeit, Renten, Bildungswesen, Gesundheit oder zur Anwesenheit von Fremden in unserem Land zu urteilen, über deren Übereinstimmung mit dem Sinn unserer Gemeinschaft und über deren Konsequenzen für die Zukunft.

Die fünfjährige Präsidentschaftsperiode, die zu Ende geht, hat die Konsequenzen davon verspürt. Das von der allmächtigen Partei des gewählten Präsidenten erlassene Gesetz über den Erstanstellungsvertrag (CPE) wurde unwirksam gemacht, als zehntausende Studenten es in die Hand genommen hatten, die Zukunft, die das Gesetz ihnen anbot, in Frage zu stellen, zu handeln und durch ihre Handlung eine andere »öffentliche Meinung« herzustellen.

Es gibt keine Krise oder Malaise der Demokratie. Es gibt nur, und dies in immer größerem Maße, die Evidenz des Abstandes zwischen dem, was sie bedeutet, und dem, worauf man sie reduzieren möchte.

1 Rancière bezieht sich auf den Aufruf fast aller Parteien, im zweiten Durchgang der Präsidentschaftswahlen für Jacques Chirac zu stimmen, um den Gegenkandidaten Jean-Marie Le Pen zu verhindern. Chirac wurde mit über 82 Prozent der Stimmen gewählt. (A.d.Ü.)

2 Im zweiten Durchgang des französischen Präsidentschaftswahlkampfs im Jahr 2007 standen einander Nicolas Sarkozy und Ségolène Royal gegenüber. (A.d.Ü.)

3 Beim französischen Referendum am 29. Mai 2005 hat eine Mehrheit von 54,67 Prozent gegen den Gesetzentwurf gestimmt, der die Ratifizierung des Vertrages autorisiert, welcher eine etwaige europäische Verfassung etablierte.

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Jacques Rancière

Jacques Rancière

ist einer der meistdiskutierten politischen Philosophen der Gegenwart. Er lehrte von 1969 bis 2000 an der Universität Paris VIII (Vincennes und Saint Denis) und war lange Herausgeber der Zeitschrift »Révoltes logiques«. In den letzten Jahren beschäftigt er sich vor allem mit Fragen der Ethik und Ästhetik sowie der politischen Philosophie.

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Jacques Rancière

Moments politiques
Interventionen 1977-2009

Übersetzt von Ellen Antheil und Richard Steurer

Klappenbroschur, 224 Seiten

Über einen Zeitraum von mehr als zwanzig Jahren erstrecken sich die Beiträge des vorliegenden Bandes mit Interventionen Jacques Rancières. Ereignisse unterschiedlicher Wichtigkeit und Tragweite – der Irakkonflikt, die französischen Einwanderungsgesetze, die Kopftuchdebatte oder die verheerende Hitzewelle des Sommers 2003 – nimmt er zum Anlass, um das Funktionieren der Macht und ihre Argumentationsmuster zu analysieren. Dabei geht es stets um zweierlei: einen singulären politischen Moment zu erfassen und die gegenwärtige politische Landschaft zu um­reißen, die er bestimmt.

Ein politischer Moment verleiht Forderungen Gewicht, die den Pragmatismus der Realpolitik weit übersteigen, und verschafft denjenigen Gehör, die ohne politische Legitimation und Stimme sind. Politisches Handeln und Denken existiert nur in diesen Momenten, in denen die Gegebenheit der Welt fragwürdig und die Wende zum noch Unbestimmten und Offenen möglich wird. Nur in der Skansion politischer Momente können Risse im Herrschaftsgefüge entstehen und Veränderungen möglich werden. In diesem Sinne verstehen sich die in diesem Band versammelten Interventionen als persönliche Beiträge zu einer kollektiven Arbeit, die neue politische Horizonte eröffnen und den Raum des Möglichen neu definieren soll.

Damit wendet sich Rancière explizit gegen die intellektuelle Gegenrevolution der »neuen Philosophen«, die die historischen Kämpfe um politische Selbstbehauptung und Mitbestimmung zu Vorboten des Totalitarismus erklärt und jeden kollektiven Widerstand gegen die ökonomischen und staatlichen Oligarchien als gewerkschaftlichen Egoismus oder Rückständigkeit geißelt.