Ausgehend von der Analyse des Bildes »Adrian Walker« von Jeff Wall befasst sich Bruno Latours hier erstmals auf deutsch publizierter Vortrag mit der von Alfred North Whitehead als Grundlage des Empirismus diagnostizierten »Aufgabelung der Natur« (bifurcation of nature) in primäre und sekundäre Qualitäten. Latour fragt nach dem Grund für die zentrale Bedeutung dieser Unterscheidung in der Begründung des wissenschaftlichen Empirismus seit Locke. Dem »klassischen« Empirismus als epistemologischer Begründung etablierter Vorstellungen von dem, was Wissenschaft ist und leistet – und den für diesen charakteristischen, durch eine Ästhetik sonderbarer »Künstlichkeit« ausgezeichneten Laborsituationen –, stellt er einen bei William James ansetzenden »zweiten Empirismus« entgegen. Dieser geht nicht länger von »Tatsachen« (matters of fact), sondern von »Dingen von Belang« (matters of concern) aus.
»Eine aktive philosophische Schule ist für die Bewegung der Ideen ebenso wichtig, wie eine aktive Schule von Transportingenieuren für die Bewegung des Treibstoffs.«2
Adrian Walker hat sich für den großen Fotografen Jeff Wall in Positur gesetzt.3 Daneben posiert auch ein mumifizierter Arm – eher unfreiwillig vom Rest eines einstmals lebendigen Körpers abgetrennt –, dessen Umrisse und Schatten sich deutlich auf einem grünlich blauen Stofftuch abzeichnen. (Abb. 1) Der Künstler sinniert über die Fertigstellung seiner Zeichnung, deren Umrisse und Schatten auf dem großen, weißen, hell beleuchteten Zeichenpapier deutlich hervortreten – das grünlich blaue Tuch und das weiße Papier haben nahezu dieselbe Größe. Ohne Zweifel denkt der Künstler Adrian Walker auch darüber nach, was es bedeutet, einem anspruchsvollen Fotografen wie Jeff Wall Modell zu sitzen. Denn was Walker mit dem Arm zuwege bringen will, ist letztlich nichts anderes, als das, was Wall mit ihm vorhat: Er will den gesamten Schauplatz durch die ausgeklügelte und sorgfältig in Stellung gebrachte Membran seines analog-fotografischen Apparates einfangen, so wie Walker nun seit geraumer Zeit bemüht ist, den Arm von dem grünlich blauen Tuch auf das weiße Papier überspringen zu lassen (wobei das Anfertigen solch akkurater Zeichnungen wohl ebenso zeitaufwändig sein dürfte wie die Herstellung derart sorgfältig inszenierter Fotografien).
Walker ist so sehr in seiner Aufgabe versunken, dass der Kunsthistoriker Michael Fried in dem Bild sogar ein typisches zeitgenössisches Beispiel dessen sieht, was er, in Anlehnung an Diderot, Versunkenheit nennt – im Gegensatz zur »theatralischen« Kunst, die sich explizit an den Betrachter wendet.4 Obwohl es sich bei dem Dargestellten also um eine Inszenierung handelt, ist es dennoch ein Bild vollkommener, beinahe unerträglicher Versunkenheit, sowohl in Bezug auf den zeichnenden Walker als auch auf Jeff Wall, der »seinen« Walker fotografiert, wie der über »seinen« Arm sinniert. Und ich habe keinen Zweifel, dass Ihre Reaktion ähnlich ausfallen wird, wie die von Fried oder meine eigene: völlige Versunkenheit in der völligen Fremdartigkeit dieser Szene. Was geht hier vor?
Sie haben sicher die Plastikbehälter und die weißen Kacheln bemerkt, die so weiß und reflektierend sind, als habe das für die Kunstgeschichte so bedeutsame nördliche Licht den ganzen Abzug schon fast überbelichtet. Wir befinden uns hier nicht in einem Künstleratelier, wie der vollständige Titel des Werkes deutlich macht (ich zitiere): Adrian Walker, artist, drawing from a specimen in a laboratory in the Department of Anatomy at the University of British Columbia, Vancouver (1992) [Der Künstler Adrian Walker, wie er ein Präparat in einem Labor in der anatomischen Abteilung der University of British Columbia, Vancouver, zeichnet]. Dies...