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Matthieu Poirier: »Attentate auf den Sehnerv«
»Attentate auf den Sehnerv«
(S. 95 – 106)

Nachbild und andere Wahrnehmungsstörungen in der Kunst der sechziger Jahre

Matthieu Poirier

»Attentate auf den Sehnerv«
Nachbild und andere Wahrnehmungsstörungen in der Kunst der sechziger Jahre

Übersetzt von Romain Löser

PDF, 12 Seiten

Die Erschütterung der Sinnlichkeit des Betrachters durch optische Reizmuster, die den Gesichtssinn überfordern und zu starken physischen Reaktionen führen, wird deutlicher, wenn man sich die installativen Praktiken und Environments der optisch-kinetischen und psychedelischen Kunst anschaut. Matthieu Poirier zeigt in seinem Beitrag »Attentate auf den Sehnerv«, der eine breite Übersicht über derartige Ansätze in den 60er Jahren liefert, dass das Nachbild hier nicht im Dienst, sondern als Antipode kinematographischer Illusion auf den Plan tritt: Nicht länger Ermöglichung des Bewegungseindrucks, sondern vielmehr Überwältigung des Auges, sorgt die Multiplikation von Nachbildeffekten, wie sie etwa in flicker-Filmen eingesetzt wird, für heftige körperliche Symptome wie Schwindel oder Orientierungsstörungen. Der sinnliche Zugriff auf das Sichtbare wird hier weniger mit einer Subjektästhetik beantwortet, als mit einer Entmächtigung des Subjektes, das die Grenzen seines visuellen Weltbezugs erfährt.

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Matthieu Poirier

ist Kunsthistoriker, Kunstkritiker und Kurator. Er hat an der Sorbonne in Paris, an der École régionale des Beaux-Arts in Rouen und an der École européenne supérieure de l’image in Angoulême unterrichtet. Als Kunstkritiker ist er in Paris beratend für den Spiegel tätig. Derzeit arbeitet er an den Werkkatalogen von Julio Le Parc und Luis Tomasello.

Werner Busch (Hg.), Carolin Meister (Hg.): Nachbilder

Nachbilder sind optische Phänomene, mit denen das ­Sehen sich selbst in den Blick nimmt. Seit der Empirismus im 18. Jahrhundert die Subjektivität der Wahrnehmung erschloss, traktierten Wissenschaftler, Künstler und Philosophen ihre Augen, um sie nicht als Empfänger, sondern als Erzeuger von Licht- und Farbphänomenen zu erfahren. Als im buchstäblichen Sinne verkörperte Bilder verschwanden diese ephemeren Erscheinungen mit den Wahrnehmungsorganen, die sie hervorgebracht hatten. Welche Bildkonzepte aber tauchen mit der Entdeckung der visionären Möglichkeiten des Sehens auf?

Wie Goethes Farbenlehre es für das 19. Jahrhundert prominent formuliert, bricht im Nachbild die Differenz von innerer und äußerer Sensation zusammen. Was impliziert dieser Zusammenbruch für die künstlerische wie wissenschaftliche Erfassung der Natur? Ist die Wahrheit in der Malerei noch ohne die Aufzeichnung jener flüchtigen Phänomene zu haben, die der Wahrnehmungsapparat in die Welt projiziert? Der Band versammelt Beiträge, die die physiologische Frage nach dem Sehen mit der produktionsästhetischen Frage nach dem Bild verknüpfen. Die bildgeschichtliche Relevanz der Eigenaktivität des Auges rückt nicht zuletzt anlässlich der Wiederkehr des Nachbilds in der neueren Kunst in den Fokus.

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