Nach einem Besuch des Kunstmuseums Chur, um zwei Symposien zum Thema Landschaft zu besprechen, fahre ich gemeinsam mit der Künstlerin Monica Ursina Jäger im Zug zurück von Chur nach Zürich. Die Strecke ist mir vertraut, da meine Mutter in der Nähe von Chur lebt. Die Namen der Stationen auf der Strecke verbinden sich für mich mit Wanderungen in der abgelegenen Natur der Berge: Landquart, Bad Ragaz, Sargans, Walenstadt. Die Landschaft ist durchzogen von punktuellen Erinnerungen. Dort fiel unser Hund fast in einen reißenden Fluss, da haben wir an einem See auf einer Decke eingelegte Gurken und kalten Braten gegessen und sind dann im Schatten von Buchen und Eichen eingeschlafen. Ich wollte mit Monica schon lange über bestimmte Themen sprechen, die mit der Vegetation dieser Landschaften im Zusammenhang stehen. Bei Abfahrt des Zuges stelle die App »Sprachmemos« meines Mobiltelefons auf Aufnahme.
Damian Christinger: Liebe Monica, du arbeitest als Künstlerin, Forscherin und Dozentin auch am IUNR, dem Institut für Umwelt und Natürliche Ressourcen der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften. In deiner letzten, größeren skulpturalen Arbeit »Non Grata« sowie durch deine Beschäftigung am IUNR, bin ich immer wieder über den Begriff der »Neophyten« gestolpert. Was sind Neophyten?
Monica Ursina Jäger: Neophyten nennen wir Pflanzen, die nach 1492, also der sogenannten »Entdeckung« Amerikas durch Christoph Kolumbus, in Europa eingewandert sind. Die invasiven Neophyten sind immer dann bei uns ein Thema, wenn sie andere Pflanzen verdrängen und ökologischen Schaden anrichten.
DC: Die Arbeit »Non Grata« schützt eine Gruppe junger Buchen auf einem Sockel mit einer gartenpavillonähnlichen Struktur, die allerdings aus Elementen gebaut wurde, wie sie die Mauern von schützenswerten Einrichtungen bewehren und die rasiermesserscharf sind. Die Buchen sollen also vor Neophyten, eingewanderten und einwandernden Pflanzen, geschützt werden?
MUJ: »Non Grata« bezieht sich natürlich auf den diplomatisch-politischen Begriff der Persona non grata, also auf die »nicht erwünschte Person«. Einerseits werden die Buchen wohl mittelfristig verdrängt werden, andererseits hatten sie im Neolithikum wiederum, die »ältereingesessenen« Eichen zurückgedrängt. Ohnehin ist die größte Bedrohung für die Wälder – also auch die Buchenwälder – der Mensch. Durch den Klimawandel werden sich zum Beispiel die Wälder in der Schweiz grundlegend verändern. Wir sitzen hier im Zug von Chur nach Zürich und schauen auf die Winterlandschaft, die an uns vorbeizieht. Das Weiß des Schnees kontrastiert mit den braunen Grundtönen der umliegenden Wälder. Einige immergrüne Nadelbäume und der Efeu setzen farbliche Gegenakzente. Wenn mein Sohn, der heute in den Kindergarten geht, mit seinem Enkel die gleiche Strecke befahren wird, werden die Wälder im Winter grün sein. So zumindest prognostizieren es die Forscher an der ETH Zürich. Den Buchen wird es bald zu warm werden und sie werden sich langsam in Richtung Norden zurückziehen. Sie werden dann wieder von Eichen ersetzt werden.
DC: Von denselben Eichen, die von den Buchen nach der Eiszeit, verdrängt worden sind?
MUJ: Nein, von Steineichen, wie sie heute im Süden zu finden sind, also von immergrünen Eichen. Stell dir einen Wald auf Kreta vor, so wird es wohl bei uns noch in diesem Jahrhundert aussehen.
DC: Die »Einheimischen« werden also von »Zuwanderern« aus dem Süden ersetzt?
MUJ: Ich höre bereits an der Einfärbung deiner Stimme, auf was du hinauswillst und genau dies war der Ausgangspunkt von »Non Grata«. Bei meinen Recherchen zur Geschichte der Buche gab mir ein Wissenschaftler am Institut einen bemerkenswerten Artikel, verfasst von Walter Keller. Der Fachartikel in der Zeitschrift »Infoblatt Forschungsbereich Landschaft«, einer Publikation der Forschungsanstalt des WSL, des Bundesamtes für Wald, Schnee und Landschaft, einer prototypischen Schweizer Institution, bei der Walter Keller auch angestellt war, trug den schönen Titel »Machten invasive Neophyten im Neolithikum Probleme?« und wurde 2002 publiziert. Der Artikel beginnt mit der Schilderung des Umstandes, dass an Walter Keller die Anfrage eines Professors aus einer amerikanischen Universität gelangt. Der US-Professor schildert darin, dass ihm bei der Übersetzung einiger Tontafeln ein erstaunlicher Durchbruch gelungen sei. Die Tontafeln seien der Bericht eines Reisenden auf der Bernsteinstrasse während des Neolithikums, der von Osten herkommend in ein Gebiet mit vielen Seen gelangte, ein Gebiet das anhand der Beschreibungen als die heutige Schweiz identifiziert werden könne. Der Reisende wird gemäß den Tontafeln Zeuge von Auseinandersetzungen zwischen sesshaft gewordenen Ackerbauern und Druiden sowie deren Anhängern. Während die Druiden die neuen Bäume, die der amerikanische Professor als Buchen identifiziert, verbrennen und zurückdrängen wollen, begrüßen die sesshaften Ackerbauern die Neuankömmlinge, da sie deren Felder wirksam vor dem Wind schützen und zusätzlich nahrhaftes Futter für die Tiere liefern.
Ich war fasziniert und verunsichert. Die Geschichte klang zu unglaublich, um wahr zu sein. Sie war allerdings in einer renommierten Fachzeitschrift veröffentlicht und seither in über 40 weiteren wissenschaftlichen Arbeiten zitiert worden. Ich googelte also die Universität des anfragenden »Professors« und fand keine Universität dieses Namens. Die Stadt, in der die Universität liegen sollte, entpuppte sich als kleines Kaff, und als ich die Notizen durchsah und gedankenverloren den Namen des Amerikaners aufschrieb, der in der Zeitschrift geschickt durch einen Seitenumbruch nach den Initialen kaschiert worden war, erhärtete sich ein Verdacht. Der Namen des amerikanischen Professors lautete: N.O. Body.
Wir sind mittlerweile an Sargans vorbeigefahren, das Schloss auf dem Felsvorsprung verschwindet langsam in der Ferne. Ich betrachte die Buchenwälder, die hier die Landschaft dominieren und denke an den gestrigen Spaziergang im winterkahlen Wald. Pflanzensammler waren im 18. Jh. äußerst erfolgreiche Geschäftsleute, der Import von neuen und fremden Pflanzen ein sehr lukratives Geschäft. Ginko, Bambus und japanischer Ahorn waren Verkaufsschlager. Mir schießen assoziative Erinnerungen an Eric Hansens »Orchid Fever« durch den Kopf und ich muss mich konzentrieren, um Monicas Erzählfluss zu folgen.
MUJ: Daraufhin kontaktierte ich den Verfasser des Artikels, Walter Keller, der heute pensioniert ist, und er willigte ein, mich zu treffen. Ich saß dann wenig später mit einem Buchenzweig im Sprüngli am Paradeplatz. Ein sympathischer älterer Herr setzte sich zu mir. Er gab freimütig zu, dass die Geschichte in dem Artikel eine reine Fabrikation sei, so offensichtlich gefälscht, dass niemand darauf reinfallen könne. Er habe den Artikel damals aus Verärgerung über die aggressive und rassistische Sprache, die in der Diskussion um Neophyten vorherrschte, geschrieben, um die Diskussion und ihren Tonfall ad absurdum zu führen.
DC: Das Vokabular erscheint tatsächlich als ein völkisches. Es wird von Eingesessenen, Eindringlingen, Zuwanderern und Invasoren gesprochen, von Einheimischen und Artfremden …
MUJ: Das ist bis heute so. Frühere Neophyten wurden begrüßt. Die Kartoffel oder viele Sorten des heutigen Weizens zum Beispiel, die aus der Neuen Welt kamen, sind heute »integriert«. Das Geranium, das heute als Inbegriff der Bergheimeligkeit gilt, kommt ursprünglich aus Südafrika. Das Vokabular der Botanik wird auch dazu genutzt, um Heimat zu konstruieren, es ist durch und durch xenophob. Das vermeintlich ursprüngliche wird verklärt, was sich an der Diskussion um die Schweizer Urwälder spiegelt. Offiziell gibt es heute in der Schweiz drei Urwälder, also Wälder, die seit ihrer Entstehung von menschlichen Einflüssen unberührt geblieben sind. Je einer in den Kantonen Graubünden, Wallis und Schwyz. Diejenigen im Wallis und in Graubünden sind unbestritten, der Status des Urwaldes für denjenigen im Schwyzer Muotathal scheint mir zumindest fragwürdig, auch wenn die ETH Zürich dort heute eine Forschungsstation betreibt.
In der Bibliografie des Artikels von Walter Keller wird eine Nummer der Fachzeitschrift des Bundesamtes für Wald, Schnee und Landschaft zitiert, die sich in keiner Bibliothek finden lässt. Von der Nummer 337 gibt es noch genau drei Exemplare, der Rest wurde nach der Drucklegung eingestampft. Um das zu verstehen, muss man die Vorgeschichte des Urwaldes im Kanton Schwyz kennen. Der damalige Kantonsoberförster Walter Kälin bedrängte in den 1980er Jahren den Professor für Forstwirtschaft an der ETH Zürich, Hans Leibundgut, dem Bödmerenwald im hintersten Muotathal den offiziellen Status eines Urwaldes zu verleihen. Die ETH betrieb seit 1973 Forschungen in diesem Gebiet und dennoch weigerte Professor Leibundgut, einer der Pioniere der Urwaldforschung der Schweiz, ein Gutachten in diesem Sinne auszustellen. Ich weiß nicht, was später dann zum Wechsel seiner Position führte, der Wechsel des Status aber hat beiden sicherlich nicht geschadet. Walter Kälin konnte sich ein Denkmal schaffen und die Stiftung, die heute das Geld für den Standort Bödmerenwald verwaltet, wurde reichlich ausstaffiert. Dies blieb von wissenschaftlicher Seite jedoch nicht ohne Widerspruch. Eine Doktorandin beim Geologieprofessor René Hantke schrieb 1988 an der ETH eine Dissertation mit dem wunderschönen Titel »Signification de la palynologie appliquée aux sédiments détriques et organogènes du Pléistocène supérieur. Eem-Tardiglaciaire würmien et de l’Holocène entre Zoug, Zurich et Baden (Suisse)«. Cathérine Sidler, so hieß die Autorin, wurde bereits bei der Verteidigung der Arbeit massiv angegriffen, wobei sich ihre Kritiker insbesondere auf jene Bereiche der Dissertation einschossen, in denen sie darzulegen versuchte, dass es sich aus geologischer Sicht beim Bödmerenwald nicht um einen Urwald handeln könne. Die Angriffe auf ihre Person und ihre Arbeit hielten auch später noch an und wurden immer massiver, da sie ihre These nicht zurückzog. Kurz darauf habe sie sich umgebracht.
1994 greift Nino Kuhn, auch ein Mitarbeiter des WSL, in der besagten Nummer der Zeitschrift das Argumentarium gegen den Urwaldstatus der Bödmeren erneut auf und publiziert seinen Artikel »Einführung in die Landschaftsgeschichte des Waldreservates Bödmeren, Muotathal, SZ« als Streitschrift gegen diesen Status. Auf massiven Druck von allen Seiten hin wurde dann aber beschlossen, die Nummer komplett einzustampfen. Heute betreibt das WSL dort Forschungen gemeinsam mit der ETH.
2002 veröffentlicht Walter Keller dann seinen erfundenen Artikel, seine Fiktion, die allerdings die eingestampfte Nummer 337 und den Artikel von Nino Kuhn zitiert, und somit auch Cathérine Sidler validiert. Kälin hat inzwischen Forscher beauftragt zu bestätigen, dass es sich definitiv um einen Urwald handelt. Mit Erfolg. Nino Kuhn hält daran fest, es sei ein Märchenwald, aber kein Urwald.
DC: Die Buche, die Gegnerin der Druiden, gehört ja eigentlich, wenn man zurück zum Urwald will, abgeschafft.
MUJ: Ha! Die immer noch so genannten »invasiven Pflanzen« werden auf jeden Fall mit äußerster Härte bekämpft, so etwa der große Bärenklau, der allerdings tatsächlich schmerzhafte phototoxische Verbrennungen verursacht. Zu den Gebieten, die die höchsten Raten an Biodiversität aufweisen, zählen die Vorstädte, auch dank der Schrebergärten und der Zusammenführung der Verkehrsachsen, wie Eisenbahnschienen oder Autobahnen, entlang derer sich mit dem globalisierten Güterverkehr die meisten Neophyten ausbreiten. Ich verstehe auch, dass man Gegenmaßnahmen ergreift, insbesondere dann, wenn diese Pflanzen zu dominant werden. Ich denke aber, dass sich das Vokabular ändern sollte, auch weil dasselbe Vokabular durch die neuen Rechten im gesamten Westen wieder salonfähig wird.
Das Gespräch wendet sich anderen Themen zu und 40 Minuten später fährt der Zug im Hauptbahnhof Zürich ein. Ich fahre mit der Tram in die Bibliothek und leihe mir drei Bücher zum Thema keltische Druiden aus.