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Damian Christinger

Konkave Gedanken zum konkaven Denken

Veröffentlicht am 26.01.2017

Ob Archimedes im 3. Jh. vor unserer Zeitrechnung die römische Flotte vor Syrakus tatsächlich mit Hilfe von Hohlspiegeln in Brand steckte, gilt unter Philologen, Experimental-Archäologen und anderen Experten für Archaisches und Arkanes als äußerst umstritten. Zu lange die Zeit, in der die Schiffe unbeweglich ein Ziel hätten abgeben müssen. Da aber eine der erste Beschreibungen der antiken Laser von Lukian von Samosata stammt, kommen auch andere Möglichkeiten, anstelle der normalerweise zur Schmälerung von Archmides’ Genie ins Feld geführten Übersetzungsfehler, für die Legendenbildung in Frage. Lukian war nicht nur ein ausgezeichneter Satyriker, er kann vielleicht auch als Erfinder der Science-Fiction gelten, so zumindest sehen ihn hunderte Jahre später Erasmus von Rotterdam und Thomas Morus, die gemeinsam einige seiner Schriften herausgeben (luciani opuscula, 1506).

Lukian von Samosata war ausgebildeter Künstler – so behaupten es seine wenigen Biografen – und sehr an ästhetischen Fragen interessiert. Ihm war also das gefährliche Potential einer konkaven Spiegelfläche im nicht nur physikalischen Sinne wohl bewusst. Die nach innen geneigte Fläche eines Spiegels verändert nicht nur das zu reflektierende Objekt und stellt somit die Perspektive des Betrachters in Frage, sie bündelt das eintreffende Licht und erhellt das Abzubildende zusätzlich. Die Zerstörung der Schiffe durch Archimedes ist jedenfalls bei Lukian auch ein anarchisch künstlerischer Akt.


Vielleicht ist der hier angedeutete Denkraum überhaupt erst im Zusammenhang mit Yves Netzhammers Band Concave Thoughts, der 357 digitale Zeichnungen versammelt, zu ermessen. Das Buch bündelt Gedanken indes nicht in Sprache, sondern in einem Bilderkosmos von außergewöhnlicher Reichweite und konziser Strenge, funktioniert gleichsam als Hohlspiegel für die Zeichnungen, die als Ausgangspunkt für die animierten Videowelten und Installationen ebenso dienen, wie sie ein in sich geschlossenes Werk darstellen. Was sollen oder können wir nun also unter einem konkaven Denken verstehen, wenn diese Disziplin bei den antiken Philosophen sträflich unerwähnt bleibt?


Eventuell müssen wir gar noch weiter zurück, um nachzuvollziehen, was hier an Ungeheuerlichem passiert, zurück in die Höhlen der Steinzeit, zu den Felszeichnungen, die doch gewisse formale Ähnlichkeiten zu den am Computer generierten Strichen des Künstlers aufweisen. Die Petroglyphen bannten eine Welt, die in ihrer unübersichtlichen Komplexität und überwältigenden Gefährlichkeit nur mit den Mitteln des Magischen verstanden werden konnte. Die Umrisslinien zeigen so gesehen nicht nur den Gegenstand des Abzubildenden, sie ziehen eine Grenze zwischen dem Erkenn- und somit Verstehbaren und der Unendlichkeit des Raumes, der durch das Aufbringen und Betrachten der Felszeichnungen für einen kurzen Moment begreifbar erscheint.

Beim Blättern im Buch widerfährt uns zuerst allerdings das Gegenteil: Transformierte Gesichter und Körper, Skulpturen im zweidimensionalen Raum, Weltentwürfe und grafische Reduzierungen wechseln sich in rascher Folge ab und sind in ihrer Gesamtheit für den Betrachter zunächst nicht lesbar. Die einzelnen Seiten erscheinen hermetisch und scheinen uns nicht zu brauchen. Die ästhetische Erfahrung speist sich zuerst aus der eigentlichen Aisthesis. Um nochmals die Antike zu bemühen: Während Platon die Wahrheit aus der Ästhetik verneint, Prodicus sie verdoppelt und Aristoteles sie unentwegt sucht, scheinen die Zeichnungen von Yves Netzhammer – in konstantem Ausloten des Denkbaren über die Seiten – alle diese Möglichkeiten gleichzeitig in Betracht zu ziehen.

Die konkaven Gedanken des Künstlers, mit Druckertinte aufs Papier gebannt, bilden jenen Hohlspiegel, der unserem medial gesättigten, ja ermüdetem Aisthesis-Körper ein Feuer unter dem metaphorischen Hintern entfacht. So dass wir vielleicht zumindest kurzfristig aus jenen Sesseln aufspringen, in denen wir es uns gemütlich eingerichtet haben, um behaglich zu denken.

Wir glauben ja, dass wir das Magische der Höhle zumindest seit dem 18. Jh. hinter uns gelassen haben, und die Zeichen eines konkaven Denkens stören da ein wenig. Die Wölbung nach innen bündelt das phänomenologisch Zweideutige: Konkave Gedanken haben scheinbar eine inhärente Zerstörungskraft, die sie von den vermeintlich aggressiveren konvexen unterscheidet. Diese Zerstörungskraft ist rund und erinnert an die Aureole des tanzenden Shiva, der die Welt gleichzeitig erschafft und zertrümmert.


Die Striche der Zeichnungen von Netzhammer verweisen oder führen fast immer in sich selber zurück. Insofern wäre konkaves Denken alternativ schöpferisch, konvexes hingegen auf ein klares Resultat ausgerichtet. Konvexes Denken gebärt Alphabete. Konkaves Denken ist subversiv und verneint diese; was bereits Johann Georg Hamann als indirekte Kritik an der Aufklärung formuliert, wenn er in seinem Werk Aesthetica in nuce die Ratio mit der Aisthesis durch die poetologischen Möglichkeiten der Natur zu versöhnen sucht – wohl wissend, dass Vollkommenheit (als magische oder religiöse Möglichkeit) nur noch als assoziative Sehnsucht möglich ist. Andreas B. Kilcher schreibt dazu in Mathesis und Poiesis (München 2003): „Das Alphabet entkoppelt das Wissen von der Ordnung des Seins, fragmentiert es zu Nomenklaturen und überantwortet es der Arbitrarität und Konventionalität der Buchstabenfolge. Damit geht das Alphabet auch eine polemische Verbindung mit der Kategorie der Vernunft ein.“

Yves Netzhammers Zeichensysteme suchen einen anderen Weg, denn sein Buch verzichtet auf Geschriebenes und lässt das 18 Jh. das Jahrhundert der Aufklärung sein. Sein Zeichnen ist eine zugleich strenge und vorsichtig tastende Methode, um die herkömmlichen Ökonomien des Sehens in ihrer kumulativen Struktur, die uns im
18./19. Jh. beigebracht wurden, zu unterlaufen und zu hinterfragen.


Das 21. Jahrhundert mit seinen rhizomischen, datengespeisten Welten und Bildern verlangt eine neue Art des Sehens, und vielleicht kann es nützlich sein, dort sehen zu lernen, wo alles anfing: in der platonischen Höhle und unserem Ausbruch aus ihr. Im konkaven Denken ist der Aufbruch ein Ort, der gleichzeitig konstante Bewegung ist.

Deleuze und Guattari führen in ihrem Behemoth, den sie Tausend Plateaus nennen, die „nomadische Ästhetik“ ein und schreiben: „Das Glatte scheint uns Gegenstand einer nahsichtigen Anschauung par excellence und zugleich Element eines haptischen Raumes zu sein (der gleichermassen visuell, auditiv und taktil sein kann). Das Gekerbte verweist dagegen auf eine eher fernsichtige Anschauung und auf einen eher optischen Raum – auch wenn das Auge nicht das einzige Organ ist, das diese Fähigkeit hat.“ Wenn wir diesen Gedanken auf die Zeichnungen von Netzhammer umzulegen versuchen, dann wäre konkaves Sehen ein Sehen mit dem Ohr, ein Wahrnehmen auch mit dem konkaven Organ, und die konkaven Denkräume, die uns das Buch eröffnen, lägen dann in den Tälern zwischen den Tausend Plateaus.

Yves Netzhammers Strich, geschaffen in einem virtuellen Umfeld – also am Computer und im Kopf –, führt die Zeichnung dahin zurück, wo sie herkam: in die Höhle, in die wir Nomaden uns zurückziehen. Das flackernde Licht von Feuer und Fackeln weicht dem künstlichen Glanz der medialen Lichter, jenem Kreis den das fahle Leuchten des Fernsehers definiert, dem wir wie einer Gottheit huldigen. Die tanzenden Schatten des Platon und des Shiva Nateraja haben sich noch nicht verzogen, und es liegt an uns, den konkaven Raum der Höhle mit unseren beschränkten Mitteln zu vermessen.


Lukian von Samosata hat zum Höhlengleichnis in seinem berühmtesten Werk Vera Historia, in dem er eine Reise zum Mond beschreibt, auf dessen Oberfläche Männer Milch schwitzen, aus dem, unter Zugabe von Honig, Käse gewonnen werden kann, Fliegen von der Grösse von Elefanten herumschwirren und Vögel aus Gras bestehen (mit Flügeln aus riesigen Blättern), den denkwürdigen Satz hervorgebracht: „Wenn ich diese Philosophen lese, kann ich sie für ihre Lügen nicht verurteilen, da dies unter Gelehrten allgemeine Praxis ist.“ Die Höhle lügt also, Platon lügt und Lukian sowieso – die Zeichnungen von Yves Netzhammer aber haben nie eine Wahrheit behauptet: Sie sind kein Alphabet, sondern konkave Zeichen eines konkaven Denkens.

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Damian Christinger

Damian Christinger

 (*1975, Zürich) hat Globale Kunstgeschichte und Interkulturelle Studien studiert und einen MA in Kuratorischen Studien an der Zürcher Hochschule der Künste erworben. Heute arbeitet er als unabhängiger Kurator und Autor und doziert an verschiedenen Institutionen über transkulturelle Theorie und Praxis, das Anthropozän und indigenes Wissen. Sein Schwerpunkt liegt auf der Konstruktion des "Anderen" in interkulturellen Beziehungen, der Dichotomie Natur/Mensch im westlichen Denken und der Dekolonisierung der Ideengeschichte. Er war der Co-Kurator der "Assembleia Mothertree", 2018, in Zusammenarbeit mit Ernesto Neto, Fondation Beyeler, und Daniela Zyman im Hauptnbahnhof Zürich. 2019 folgte die Eröffnung der Ausstellung "A Ship Will Not Come" im Johann Jacobs Museum in Zürich und eine langfristige Recherche und Zusammenarbeit mit Roger M. Buergel und Adnan Softic. 2020 nahm er als Autor an der Ausstellung "Tomorrow is an Island" in der ADM Gallery der Nanyang Technological University im Rahmen der Singapur Biennale teil. 2021/2022 war er Gastkurator für Habitat: A Space for Essays on the Interconnectedness Between Art and Ecologies @ Wyss Academy for Nature, Bern, Vientiane, Nairobi und Lima. 2023 wird er "über natürliche kräfte" im Cularta, Laax, Schweiz, eröffnen, eine Ausstellung mit dem Studio Other Spaces (Sebastian Behmann und Olafur Eliason) im Gelben Haus, Flims, Schweiz, und ein gemeinsam mit Ravi Agarwal kuratiertes Projekt "Time is a Mother" beim Serendipity Festival, Goa, Indien.