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Saturnaaaaalien

Sina Dell’Anno

Oratio Soluta
Ungebundene Rede

Veröffentlicht am 25.10.2018

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Löwengleich ist Saturn in unser Denken eingegangen; als wilde Bestie der Revolution, im aufgerissenen Maul noch die Glieder eines halbverzehrten Kindes. Goyas Danton: das blutige Gesicht der unzähmbaren Angst, dass der menschliche Freiheitshunger außer Rand und Band geraten könnte.

Im Aufreißen des Mauls kündigt sich ein aufbegehrender Appetit an. Diese Physiognomie der Revolution, bei Goya ins Fürchterliche gesteigert, begegnet uns bereits dort, wo Saturn noch nicht zur Fratze eines weltgeschichtlichen Ungeheuers erstarrt war, sondern als goldzeitalterliche Gottheit des Ackerbaus und Kulturstifter über die wenigen ausgelassenen Tage am Jahresende regierte. Im Namen der personifizierten Zeit (Chronos) kultivieren die römischen Saturnalia die buchstäbliche Entfesselung: Zum rituellen Opfer am ersten Festtag gehörte, dass man der Tempelstatue Saturns die Wollbinden löste, mit denen ihre Beine das Jahr über gefesselt waren. Entsprechend war der leibliche Exzess eines der Merkmale saturnalischer Feierlichkeiten. Bei ausschweifenden Sauf- und Essorgien unterhielt man sich insbesondere mit Rätseln und Spottdichtung. Beides, hemmungsloses Fressen und ungezügelter Spott, impliziert ein ungebührliches Aufreißen des Mauls. Saturnaaaaalien. Als Spiegel des Goldenen, saturninischen Zeitalters wurden während dieser herrschaftsfreien Tage, bevor man den gefräßigen Gott wieder in Fesseln legte, die Regeln der geordneten Gesellschaft außer Kraft gesetzt: Am Übergang vom alten zum neuen Jahr zelebrieren die Römer die verkehrte Welt (mundus inversus), vor allem im Sozialen: Sklaven, als deren Fest die Saturnalien zuweilen bezeichnet wurden, genossen umfassende Lizenzen, allen voran eine uneingeschränkte Redefreiheit. Rollenspielerisch ließ man die Untergebenen wahrsprechen (parrhesia), provozieren, kommandieren. Die symbolische Aufhebung der sozialen Schranken zeigte sich nicht zuletzt darin, dass man die Diener an den Tischen ihrer Herren dinieren ließ. Saturn stand für die temporäre Inversion der Verhältnisse zwischen Freien und Unfreien; sein Fest entband die Unterdrückten – Menschen wie Triebe – vorübergehend von ihren Fesseln.

Solcherlei rituelles Aufbegehren von unten wirkt bis in die Sprache hinein. Es sind die Saturnalien auch das Fest des überbordenden Wortwitzes, der zügellosen Kalauer: Aus Dienern werden Dinierende; als hätte man sie aus ihrer festgesetzten Bedeutung gelöst, kommt es zur wilden Mesalliance der Worte. Die Lastenträger der Kommunikation schicken sich an, das semantische Gepäck vom Buckel zu werfen und sich in wilder Promiskuität zu unabsehbarem (Un-)Sinn zu vereinen. Seinen eigentlichen Schauplatz hat dieses Spektakel der Befreiung in der Literatur: »Liber esto!«, ruft Petrons Trimalchio einem als Weingott verkleideten Mundschenk zu, »Frei sollst du sein!« – aber auch: »Liber (also Bacchus) sollst du sein!« Und wer sagt denn, dass der Autor der Satyrica – dieses übermütigen römischen Romans, in dessen unruhigem Zentrum ein saturnalisches Gelage inszeniert wird – nicht auch einen Imperativ an seinen weinseligen Text formuliert, zum Buch (liber) zu werden? In der unkontrollierten Vieldeutigkeit der Worte, im Widerstand, den die wild bedeutenden Buchstaben der reibungslosen Verständigung entgegensetzen, trägt sich die saturnalische Entfesselung in die Sprache ein. »Puns«, schreibt Jonathan Culler


demonstrate [the] instability, the mutability of meaning, the production of meaning by linguistic motivation. Puns present us with a model of language as phonemes or letters combining in various ways to evoke prior meaning and to produce effects of meaning – with a looseness, unpredictability, excessiveness, shall we say, that cannot but disrupt the model of language as nomenclature.


Die Rebellion der Signifikanten gegen ihre semantische Zähmung lässt sich nicht nur an Petrons saturnalischem Gastmahl beobachten, sondern auch an einem anderen Vers-Prosa-Gemenge (Prosimetrum). »Ich werde sagen, was mir ins Maul kommt« – »dicam, quod mihi in buccam venerit«, erklärt der Erzähler von Senecas Apocolocyntosis im ersten Paragraphen. Und tatsächlich kommt vor die aufgerissene bucca, aus der dieser unbändige Text zu uns spricht, kein Blatt. Schon der Titel »Verkürbissung«, unter dem Senecas beißende Satire auf den gerade verstorbenen Kaiser Claudius überliefert ist, liest sich als eine monströse Mischform und kündigt wortspielerisch an, dass dem Despoten anderes als eine ehrenvolle Vergöttlichung (gr. apotheosis) zuteilwerden wird. Der Tod des Herrschers schafft hier ein satunalisches Interregnum, in dem die Sprache von den sonst geltenden, grammatischen und rhetorischen Gesetzen befreit scheint. Getragen von der Schubkraft einer epischen Flatulenz lässt der Erzähler den Kaiser in den Himmel aufsteigen (wo er natürlich an der Schwelle zum Olymp als unwürdiger Geselle abgewiesen wird). Wenn Claudius, kurz bevor er seine Seele ausfurzt, mit einem gelehrten Homer-Zitat den von Ilios (Troja) wehenden Wind evoziert (»Ἰλιόθεν με φέρων ἄνεμος«), werden die Worte selbst zu Schauspielern in diesem Spektakel der Depotenzierung. Der griechische Wind »aus Ilios« (Ἰλιόθεν) entbirgt im lateinischen Kontext einen derben Hintersinn. Aus der geographischen Angabe de Ilio wird ein homonymer physiologischer Befund: der Wind de ilio – »aus den Eingeweiden«. Senecas prosimetrische Himmel- und Hadesfahrt spottet – ganz wie Petrons satyrischer Roman – der sprachlichen Reinheit, indem es die Idiome bis in die einzelnen Wortkörper hinein vermischt. Hier liest man ein kontaminiertes Latein voller anrüchiger double-entendres, die in jedem Wort einen unterschwelligen Nebensinn vermuten lassen.

Emphasis nannte die antike Rhetorik das Spiel mit der latenten Tiefenschicht der Sprache, bei dem, wie Quintilian beschreibt, »aus einem Gesagtem etwas Verborgenes hervorgeholt wird« (»ex aliquo dicto latens aliquid eruitur«). Im saturnalischen Text aber herrscht die zügellose Steigerung dieser Figur, das unkontrollierte, ›wilde‹ double-entendre, cacemphaton genannt. Gegenüber dem erlaubten Offenlassen einer Nebenbedeutung beim Gebrauch eines Wortes (emphasis) setzt Quintilian solches Wuchern insbesondere der unanständigen Nebenbedeutungen ganz zuoberst auf den Index der rhetorischen Tabus. Dass sich eine Grenze zwischen kontrolliertem und unkontrolliertem Nebensinn jedoch nicht ziehen lässt, dass mithin die Neben- und Hintersinne der Worte sich von keinem rhetorischen Gesetzt bändigen lassen, wusste auch der Lehrmeister des anständigen Sprechens: »nihil loqui tutum est« – »nichts kann man unbedenklich aussprechen«, warnt Quintilian; keine Rede ist sicher vor der zügellosen Bedeutungsproduktion der Laute und Buchstaben. Im saturnalischen Text wird dieses unbändige Bedeutungspotential zum sprachlichen Spektakel. Feierlich wird im ubiquitären Kalauer, in der paronomastischen Deformation der Worte, den unterdrückten Nebensinnen eine Bühne bereitet. Ganz wie die historischen Saturnalien den Moment feiern, an dem man das in Speichern geborgene Korn zum ersten Mal ans Tageslicht brachte, holt die entfesselte, saturnalische Rede verborgenes semantisches Potential an die Oberfläche des Textes, um im rituellen Exzess die Fruchtbarkeit der sprachlichen Erde zu begehen. Im Rhetorischen wie im Kulturellen bedarf solcherlei über die Stränge Schlagen einer besonderen Lizenz. Wohlweislich hielt das alte Rom den unersättlichen Gott der Zeit in den Grenzen eines festgesetzten Zeitraumes; beschränkte die rituelle Entfesselung auf eine fest bemessene Schwellensituation am Ende des Kalenderjahres, um für die übrigen gut 350 Tage jegliches Aufbegehren zu unterbinden. Sinnbildlich stehen die Fesseln Saturns für eine gewaltsam instituierte Fügsamkeit, für eine prekäre Zähmung jenes Unbändigen, das sich gerade im verselbständigten Wortspiel ankündigt.

Das Bewusstsein von der Unbändigkeit der Sprache, die rhetorische Angst vor dem Hervorbrechen nicht zu kontrollierender Nebensinne, wie es sich im saturnalischen Text ereignet, hat ihre allegorischen Wurzeln also einerseits im agrikulturellen Brauch der Kornspeicheröffnung, bei der – wie in der Emphase – Verborgenes (aliquid latens) hervorgeholt wird (eruitur). Gerade das Moment der Latenz verknüpft sich aber auch mit der Mythologie des Saturnalischen. Vergils Aeneis berichtet vom Exil Saturns (Verg. Aen. 8,319–322):


primus ab aetherio venit Saturnus Olympo
arma Iovis fugiens et regnis exsul ademptis
is genus indocile ac dispersum montibus altis
composuit legesque dedit, Latiumque vocari
maluit, his quoniam latuisset tutus in oris.


Zuerst kam Saturn vom himmlischen Olymp herab auf der Flucht vor den Waffen des Iuppiter und verbannt aus dem Reich, das ihm geraubt worden war. Er führte das unbelehrte Volk zusammen, das im hohen Gebirge verstreut lebte, gab ihm Gesetze und er bevorzugte es, das Land Latium zu nennen, da es ihn sicher geborgen hatte.

Das Land der Latiner, Latium, hat seinen Namen, so überliefert es der Gründungsmythos, von der versteckten Existenz des Gottes Saturn (latuisset). In Vergils kanonischer Version erscheint Saturn nicht nur selbst gezähmt, vom eigenen Sohn in die Schranken verwiesen, sondern als Gott der Zähmung, als Kulturstifter, der einem wilden, ungebundenen Haufen Gesetzte gibt (composuit legesque dedit). Kaum zu überlesen sind dabei die meta-poetischen Konnotationen von componere und leges dare: Saturn erscheint zugleich als Stifter der epischen Dichtkunst, die im rhythmischen Gleichmaß (metrum) ihre Verse komponiert. Die besondere Prägnanz der Stelle ist allerdings nur bei ganz genauem Blick auf das lateinische Original zu erkennen: Vergils Epos präsentiert die etymologische Nobilitierung des Vaterlandes als eines goldzeitalterlichen Bodens (saturnia tellus) nämlich in der Form eines Wortspiels: Nicht nur leitet sich das Latiner-Land von latere, verborgen sein ab, »Latium« ist zudem ein perfektes Anagramm von »maluit« (»bevorzugte«). Saturn versteckt sich mit seiner Vorliebe also buchstäblich in Latium, als ein latentes Potential der Buchstabenfolge, als ein anderes Wort im Wort. Vergil weiß die conditio anagrammatica des Textes, das unterschwellige Bedeutungspotential der Buchstaben, für seine epischen Zwecke zu nutzen: Indem er Saturn gleichsam im Namen des Vaterlandes einschließt, scheint er den Mythos von der saturnia tellus zu sanktionieren: Hier wird Nebensinn im Augenblick seiner Entbindung gebunden.

Wenn die – gebundene – Rede des Epos in diesem Sinne um die instrumentelle Zähmung chthonischer Kräfte bemüht ist, erlebt sie in der saturnalischen Prosa eines Petron oder Seneca ihre anarchische Entfesselung. Als hätten diese Texte den Namen der ungebundenen Rede (oratio soluta) beim Wort genommen, werden hier, befreit vom strengen Gleichmaß des Verses und den Gattungszwängen der hohen Dichtung, lustvoll die Regeln des rhetorischen decorum, die Grenzen des guten Geschmacks überschritten.

Hier begegnet uns Sprache im Ausnahmezustand; nicht nur lexikalisch, auch rhythmisch geht es bei Petron über Stock und Stein, über Hinkjamben, holpernde Hexameter und entstellte Distichen – um nur einige Versformen zu nennen, die in diesem überbordenden Text dem breiten prosaischen Spektrum von vulgärer Alltagsrede bis zu rhetorischen Höhenflügen gegenüberstehen. Die Satyrica sind geschrieben aus Sätzen, die, entbunden von den Fesseln des Metrums, mit stürmischen Füßen springend tanzen.

Was für den sprachlichen Doppel- und Hintersinn gilt, gilt nicht weniger für die prosodische Zügellosigkeit: Wie jeder unbändige Freiheitsdrang unterliegt auch die Wildheit der Sprache im Namen von Ordnung, Zivilisation und Kultur einer strengen Kontrolle, die ihre Institution in der Rhetorik findet. Gerade als Lehre vom guten Periodenbau konnte die ars bene dicendi am sprechenden Namen der ›ungebundenen‹ Prosa nicht vorbeigehen: Zwar bezeichnet Cicero die Prosa gegenüber der Poesie als »freier und wirklich so ungebunden, wie man sie nennt« (»Liberior est oratio et plane, ut dicitur, sic est vere soluta«), aber er verwahrt sich im selben Atemzug gegen die darin sich ankündigende Zügellosigkeit: »non ut fugiat tamen aut erret, sed ut sine vinculis sibi ipsa moderetur« – »jedoch nicht so, dass sie flieht und herumirrt, sondern so, dass sie sich ohne Fesseln selbst das Maß gibt«. Es spricht die Zuversicht eines moralisch wie rhetorisch gleichermaßen souveränen Aristokraten, eines vir bonus et dicendi peritus. Mit dem vorgeschützten Vertrauen in die Selbstmäßigung der ungebundenen Rede war es allerdings so weit nicht her. Warum sonst hätte die Rhetorik ein ausgefeiltes System der rhythmischen Regulation erfunden, das den kapriziösen Prosa-Satz bei aller Freiheit auf einen absehbaren Schluss verpflichtete? Der Brustton der Überzeugung vermag von der Tatsache nicht abzulenken, dass der Ungebundenheit der fortlaufenden Rede (prorsa oratio) etwas tendenziell Exzessives innewohnte. Bis auf Aristoteles geht das Unbehagen zurück, das die antike Rhetorik beim Gedanken an die potentielle Grenzenlosigkeit des metrisch befreiten Satzes überkam. Im geregelten Rhythmus von Satzanfang und, vor allem, von Satzende finden die Rhetoriker ein Verfahren, der Prosa-Periode den habitus der Freiheit zu verleihen, ohne die ungebundene Rede der Verselbständigung zu überlassen. Wo hört die Freiheit des Prosa-Satzes auf? Dort, wo die Periode in eine antizipierte Klausel mündet, einen markanten Schluss, der die freie Rhythmik des Mittelteils zu einem beruhigenden Stillstand bringt. Um aber dem noblen Namen einer ungebundenen Rede gerecht zu werden, muss es der Prosa-Satz des Orators tunlichst vermeiden, sich auch nur im Ansatz einer Versform zu nähern. Die Theorie der freien Periode ist deshalb – paradox – auch die Theorie von den unterdrückten Metren: »verborgen sein« (latere) sollen die Versfüße im Mittelteil des Satzes; keinesfalls darf die Rede den Eindruck erwecken, sie unterwerfe sich den metrischen Zwängen der Dichtung. Verkehrt erscheint nun ihrerseits die saturnalische Logik: Nicht das Wilde und Unbändige der Sprache ist im Prosa-Satz latent, sondern verborgen und unterdrückt sind die Fesseln des Metrums.

Die sogenannten Klauseln, mit denen sich die antike Periodenlehre hauptsächlich befasste, sind nichts anderes als die Wollbinden um die steinernen Beine Saturns: Fesseln, gelöst, um gebunden zu werden – aber auch gebunden, um gelöst zu werden.

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Sina Dell’Anno

Sina Dell’Anno

lebt, liest, schreibt und unterrichtet in Basel. Als Literaturwissenschaftlerin bewegt sie sich seit längerem sprunghaft zwischen Antike und Moderne. Sie ist Mitherausgeberin des online-Journals Bildbruch – Beobachtungen an Metaphern. Erschienen oder im Erscheinen sind unter anderem Texte zu Arno Schmidt, Jean Paul, Johann Georg Hamann, zur Romantheorie im 18. Jahrhundert und zur verfressenen Poetik der satura.