Nutzerkonto

»Nur die Anthropophagie vereint uns.«

Claudia Hein

Der Kannibale


I.


»Tupí, or not tupí: that is the question«, so schreibt der brasilianische Modernist Oswald de Andrade in seinem Anthropophagischen Manifest von 1928. ›Kannibale-Sein oder Nicht-Kannibale-Sein; das ist hier die Frage‹ so ließe sich das Wortspiel übersetzen, in dem Andrade den Namen der Tupinambá und damit desjenigen indigenen Volkes Südamerikas, das als Synonym der kannibalischen Wilden in die Geschichte eingegangen ist, mit dem Shakespeare-Zitat schlechthin überkreuzt. Andrade zielt mit seiner Formulierung in den Kern des frühneuzeitlichen Diskurses um die Begegnung mit dem Unbekannten: Das Kannibale-Sein wird zur alles entscheidenden Frage der Fremd-, aber zugleich auch der Selbstbestimmung.


Als die europäischen Seefahrer des 15. und 16. Jahrhunderts auf einen für sie bis dato unbekannten Kontinent treffen, fällt eine Gemeinsamkeit der Berichterstattung auf: Die Bewohner des fremden Landes erweisen sich unterschiedlichen Darstellungen zufolge trotz der paradiesischen Beschaffenheit ihrer Lebenswelt als ausgesprochen gierig nach Menschenfleisch. »Mit Schrecken hörte man davon, daß die schamlosen Stämme der Menschenfresser Zehntausende von Eingeborenen verzehrt haben sollen. […] Deshalb traf man viele Gebiete, so lieblich und von der Natur gesegnet sie auch waren, ohne Einwohner an.« Mit diesen Worten fasst der im Dienste des spanischen Hofes stehende Pietro Martire d’Anghiera zu Beginn des 16. Jahrhunderts die Reiseberichte der Entdecker zusammen. Aus Anghieras Schrift De orbe novo decades spricht sowohl die Faszination wie auch die Bedrohung, die von der Fremde ausgeht. So heißt es an anderer Stelle in erneutem Rückgriff auf den Kannibalismus: »Diese Wilden behandeln die Spanier, die bei ihnen ankommen, so, wie wenn wir Eber oder Fische wären, die in ihre Netze geraten oder in ihre Jagdgruben fallen. In Erwartung der Beute lecken sie sich schon heimlich die Lippen. Und wenn sie ihre Gegner geschlagen haben, halten sie von deren Fleisch ein üppiges Mahl.« 


Die ›Neue Welt‹ scheint von Kannibalen bevölkert, die sich ihre Mitmenschen wie Tiere einverleiben, diese dabei entmenschlichen und sich zugleich selbst als Barbaren zu erkennen geben. Der Kannibale, der in seinem verschlingenden Über- und Zugriff auf das menschliche Fleisch eine, wenn nicht die zentrale Tabugrenze menschlicher Kultur überschreitet, ist allerdings genau betrachtet keine Gestalt, die einfach da ist. Vielmehr entsteht der Kannibale in dem Moment, in dem europäische Entdecker bzw. Eroberer und indigene Bevölkerung der ›Neuen Welt‹ aufeinandertreffen. Der Kannibale muss als Figur eines ganz bestimmten Diskurses begriffen werden, als eine Figur, die zu einem genau definierbaren historischen Zeitpunkt die aus der antiken Mythologie überlieferten Anthropophagen ablöst. Dem Wort ›Kannibale‹ liegt bezeichnenderweise ein, wenn auch unbewusstes, Spiel der Worte zugrunde, das demjenigen Andrades nicht unähnlich ist. Im Schiffstagebuch des Christoph Kolumbus liest man im Eintrag vom 4. November des Jahres 1492, dass es »Leute mit einem Auge gäbe und andere mit Hundeschnauzen, welche Menschen fräßen und alle, die sie fingen, köpften und ihr Blut söffen […].« Durch die Überlagerung des Namens eines wilden und angeblich menschenfressenden Stammes mit Assoziationen an hundeschnäuzige Fabelwesen aus der Antike wird bei Kolumbus ein neues Wort geboren: Der Stammesname der Cariben verbindet sich mit dem lateinischen Ausdruck für Hund, canis, zur Neuschöpfung der Caniben, die im spanischen Sprachgebrauch zu caníbales werden. Dieser Begriff reagiert allerdings nicht allein auf neue Gegebenheiten oder geht aus diesen hervor, sondern ist zugleich konstitutiv für einen konkreten historischen Zusammenhang der Fremd- und Selbstbestimmung. So bezeichnet das Wort Kannibale bei seiner Entstehung nicht einfach einen Menschen, der Menschenfleisch verzehrt, sondern es benennt einen barbarischen Wilden am anderen Ende der Welt, der sich der Kolonialisierung widersetzt und der sich durch seine Menschenfresserei zugleich in ein Jenseits von Zivilisation und Kultur befördert. Konkret wird dieser Zusammenhang im politischen Kontext: So hatte die spanische Königin Isabel de Castilla 1503 ein Gesetz unterzeichnet, das die Christianisierung der ›neuentdeckten‹ Völker ins Zentrum der Kolonialpolitik stellte und deren Versklavung untersagte. Allerdings gab es eine Ausnahme der Regelung, bezogen auf »una gente que se dice Caníbales«. Diese Kannibalen durften gefangen genommen und mit Profit verkauft werden. Der Kannibalismus der Wilden steht hier im direkten Zusammenhang mit dem Projekt der Kolonialisierung. Er ist Zeichen der Inferiorität des Anderen und legitimiert so dessen Unterwerfung.


Die Verbindung von Kannibalismus und Kolonialismus geht allerdings über einen solchen Legitimationszusammenhang hinaus. Vielmehr eröffnet sich ein komplexes Wechselverhältnis von Zuschreibung, Projektion und Hervorbringung, das sich im Spannungsfeld von Wörtlichkeit und Übertragenem bewegt und die Grenze zwischen wortwörtlichem Verschlingen und figurativ zu verstehenden Einverleibungsakten mehrfach überschreitet. Die Ubiquität des Kannibalismusvorwurfs im Rahmen der kolonial-imperialen Begegnung mit der Fremde legt eine Perspektive nahe, in der der Kannibalismus der Bewohner des fremden Landes als Projektion des kolonialen Vorhabens der Europäer erscheint, sich eben dieses fremde Land anzueignen. Der imperiale Drang nach Aneignung bringt, so verstanden, erst den Kannibalen hervor, dem der Kolonisator in der Fremde begegnet. Eine solche Erklärung, wie sie etwa von den postcolonial studies herausgearbeitet wurde, überträgt psychoanalytische Erkenntnisse über Projektionsstrukturen auf die koloniale Situation. Vor allem Melanie Klein hat aufgezeigt, wie die kindliche Angst, aufgefressen zu werden, als Projektion des eigenen Begehrens des Kindes verstanden werden kann, alles, was dem Selbst äußerlich ist, zu assimilieren. Mit Hinblick auf die koloniale Situation bedeutet dies, den Kannibalismus der ›Wilden‹ als Hinweis auf ein Einverleibungsbegehren in einem übertragenen Sinne zu begreifen. Der körperlich-direkte Zugriff des kannibalischen Aktes steht demnach in direkter Abhängigkeit des Aktes der Einverleibung, den die koloniale Aneignung des fremden Landes bedeutet. Der Kannibalismus, der die jenseits des Eigenen gelegene Welt des barbarischen Fremden markiert, erzählt damit von einem spezifischen Verhalten, das die Europäer gegenüber diesem Anderen an den Tag legen. Die Rede vom Kannibalen lässt sich als Topos der Geschichte des Kolonialismus begreifen, sie ist Teil einer von Europa initiierten und bis heute prägenden Struktur imperialer Weltbeherrschung. 


II.


»Wir mußten uns vor den Tupinambás zweimal im Jahre besonders in acht nehmen, weil sie dann mit Gewalt in das Land ihrer Feinde eindringen«, so schreibt der hessische Söldner Hans Staden in seiner Wahrhaftigen Historia, die von seinem Aufenthalt bei den »nackten grimmigen Menschenfresserleuten, in der Neuen Welt Amerika gelegen«, berichtet. Die nach seiner Rückkehr nach Europa veröffentlichte Darstellung seiner Gefangennahme durch die Tupinambá und seines Aufenthalts bei diesen, wurde zu einem Bestseller des 16. Jahrhunderts. Zugleich gilt Stadens Text als ethnologischer Bericht avant la lettre, der einen bestimmten Diskurs sowie eine ethnologische Realität begründete. Staden beschreibt ausführlich und mit Lust am Detail, was mit der menschlichen Beute geschieht, die die Tupinambá auf ihren Kriegszügen erlegen: Die Erschlagenen werden gegrillt und gehäutet, sodann zerteilt und verteilt, die Eingeweide werden zu Suppe verkocht, das Fleisch vom Kopf verzehren die Frauen, Hirn und Zunge die Kinder. »Das alles habe ich gesehen und bin dabeigewesen.« Dieser Satz bekräftigt das Erzählte, schließt es scheinbar ab und ist doch nicht das Ende des Kapitels. Wie ein unmotivierter Appendix fügt sich an den Bericht über die kannibalischen Rituale des Stammes ein Kommentar an, mit dem Staden von der Schilderung des Zerteilens der Körper selbst zu einer Einteilung anderer Art übergeht: Im Anschluss an die Beschreibung der »Zeremonien [unter denen] sie ihre Feinde töten und fressen« stellt Staden fest, dass die Tupinambá nicht weiter als bis fünf zählen könnten. An dieser Stelle wird der Übergang von der Darstellung eines konkreten Gewaltaktes zu einem Akt diskursiver Gewalt greifbar. Der Schlusssatz überführt den Kannibalismus des Stammes – den Staden zunächst sehr wohl als Ritual und damit als Teil einer kulturspezifischen Tätigkeit aufzufassen scheint – in den Bereich des Barbarischen. Der Kannibalismus, so scheint es, muss herausfallen aus dem System der Kultur.


Die Figur des Kannibalen bewegt sich in einem Spannungsfeld zwischen wilder, direkter Gewalt, einem figurativ zu verstehenden Einverleibungsbegehren, sowie einer Form diskursiver Gewalt. Auch Oswald de Andrade spielt in seinem Anthropophagischen Manifest mit der ­Doppelung von Wörtlichem und Figurativem. Wenn Andrade dazu aufruft, sich die europäische Kultur in einem Transformationsprozess anzueignen, so verwandelt er eine im Kontext des Kolonialismus entstandene Figur der Fremdbestimmung und der Zuschreibung in eine Form selbstbestimmter produktiver Aneignung. »Nur die Anthropophagie vereint uns. Gesellschaftlich. Wirtschaftlich. Philosophisch. / ­Einziges Gesetz der Welt«, so beginnt sein Text. Die Anthropophagie wird hier zum bestimmenden Gesetz der Welt, zur Praxis eines »originären Komplementierens«, wie es Jens Anderman formuliert. Was wie ein Aufruf zur Aneignung und Einverleibung im übertragenen Sinne klingt, in der das eigene Verfahren universal gesetzt wird, bleibt im Manifest aber zugleich an konkrete Einverleibungsakte gebunden. Es ist kein Zufall, dass Andrade auf den Begriff des Kannibalen verzichtet und stattdessen denjenigen des Anthropophagen erneut an dessen Stelle setzt. Das Spiel der Worte, sei es dasjenige von canis und Cariben oder von Tupí und to be wird denn im Anthropophagischen Manifest selbst Teil eines ganz konkreten Einverleibungsgeschehens. So fällt hier noch der Galimathias – und damit das heute kaum mehr gebräuchliche Wort für ein verworrenes Gerede oder sinnloses Geschwätz – wortwörtlich einem kannibalischen Akt zum Opfer, wenn Andrade schreibt: »Ich fragte einen Mann, was das Recht sei. Er antwortete mir, daß es die Garantie für die Ausübung der Möglichkeit sei. Dieser Mann hieß Galli Matias. Ich habe ihn aufgegessen.« 


Andrade, Oswald de: »Anthropophagisches Manifest«, in: Lettre International, Winter 1990, S. 40–41. / Anghiera, Pietro Martire d’: Acht Dekaden über die Neue Welt, übers. von Hans Klingelhöfer, Darmstadt 1972 und 1975. / Kolumbus, Christoph: Schiffstagebuch, übers. von Roland Erb, Leipzig 2001. / Klein, Melanie: Das Seelenleben des Kleinkindes und andere Beiträge zur Psychoanalyse, Reinbek bei Hamburg 1972. / Staden, Hans: Wahrhaftige Historia, hg. und übertragen von Reinhard Maack und Karl Fouquet, Marburg an der Lahn 1964. / Anderman, Jens: »Antropofagia. Fiktionen der Einverleibung«, in: Annette Keck, Inka Kording und Anja Poschaska (Hg.): Verschlungen Grenzen. Anthropophagie in Literatur und Kulturwissenschaften, Tübingen 1999, S. 19–32.

  • Körper
  • Kolonialgeschichte
  • Anthropologie
  • Kolonialismus
  • Postcolonial Studies
  • Südamerika

Meine Sprache
Deutsch

Aktuell ausgewählte Inhalte
Deutsch, Englisch, Französisch

Lars Friedrich (Hg.), Karin Harrasser (Hg.), ...: Figuren der Gewalt

In Figuren nimmt etwas Gestalt an. Dieses »Etwas« mag die wissenschaftliche Neugierde sein, der Nachhall vergangener Verwüstungen, das verwirrte Murmeln aktueller Konflikte, die Freude am Fabulieren. Der Amokläufer, der Archivar, die Herausgeberin, die Null, der Testamentsvollstrecker, der Zauberkünstler: Sie und andere geben das Ensemble einer Revue von Miniaturen, die ausstellen, was man unter »Codierungen von Gewalt im medialen Wandel« verstehen könnte. Denn zwar ist Gewalt manchmal sichtbar und unmittelbar, viel häufiger aber ist sie verborgen und indirekt. Sie exponiert sich in den Erzählungen derer, die Teil ihrer Codierung sind: Gewalt-Fantasien. 

Mit Beiträgen von Jörn Ahrens, Janis Augsburger, Hendrik Blumentrath, Hartmut Böhme, Thomas Brandstetter, Lars Denicke, Elke Dubbels, Lars Friedrich, Karin Harrasser, Claudia Hein, Sabine Kalff, Gernot Kamecke, Harun Maye, Silvia Mazzini, Arno Meteling, Daniel Tyradellis, Joseph Vogl, Elisabeth Wagner, Sven Werkmeister, Michaela Wünsch, Burkhardt Wolf und Barbara Wurm sowie mit Zeichnungen von Nikolaus Gansterer.

Inhalt