Im Verhältnis zwischen dem Interpreten und dem von ihm gelesenen Text gibt es Analogien zum Verhältnis zwischen dem Psychoanalytiker und dem Analysanden. Zur Vorstellung des aufrechten Interpreten gehört diejenige der Kontrolle und der Dominanz, zu derjenigen des »vor uns liegenden Buches« die Passivität und das Geheimnis. Durch die Erinnerung an ein Gespräch mit Peter von Matt verfolgt der Autor die Frage, wie der Interpret, der das Geheimnis knacken will, es zugleich bewahren, und sich dabei verlieren kann.
»Die Promenade des Schizophrenen: das ist ein besseres Modell als der Neurotiker, der auf der Couch kuschelt.«
Deleuze/Guattari
Da sitzt er also, der Literaturkritiker, den Stift in der Hand, um den Kopf die Rauchschwaden der frei schwebenden Aufmerksamkeit, und notiert, was ihm am Text, am »Fall«, der vor ihm liegt, auffällt. Er sitzt da wie der Psychoanalytiker, aufrecht, in der Position der Macht, nach oben ausgerichtet, wo einst die Sonne, das Gute und die Vernunft prangten. Vor ihm liegt, horizontal hingestreckt und ausgeliefert, der Patient. Der Text.
Diesen rechten Winkel der Deutung hat Peter von Matt in seinem Buch »Öffentliche Verehrung der Luftgeister« hinterfragt und ausgeleuchtet. Denn gerade diese aufrechte und aufrichtige Haltung erwartet jeder Leser von Literaturkritik. Es ist der rechte Winkel der geometrischen Vernunft, die sich die Welt der Objekte seit Descartes untertan macht, aber der sich der Mensch als neuzeitliches »sub-jektum« eben auch selbst »unter-worfen« hat. Und so bleibt uns nur noch eins – die Objekte, also die Bücher, nach den Regeln dieser Vernunft brav und gehorsam zu ordnen: Die Maßstäbe der kritischen Vernunft, die Winkel des Wissens nach außen zu projizieren und mit ihnen die Welt der Objekte und die Texte zu vermessen. Von Matt aber rät uns, auf das Rätsel der Literatur mit Rätseln zu antworten – wenn ich ihm folge, werde ich mir selbst zum Rätsel.
Der Autor kuschelt sich wie der Neurotiker auf der Couch und kuscht, zeigt von Matt. Husch, husch ins Körbchen, sagt der Analytiker zu den Neurosen und der Neurotiker nickt und nickt. Husch, husch ins Wörtchen, sagt der Kritiker, und der Autor kuscht.
Und das Publikum? Es klatscht. Der Dressurakt ist gelungen. Der Autor liefert dem Leser, was ihm der Kritiker vorschreibt, und der Leser liest das, was ihm der Kritiker verschreibt. Das Lesen als Strafkolonie.
Dabei aber, und das ist die alte Falle der Dialektik, kuscht der Kritiker selbst. Er kuscht vor sich selbst, vor jenem Selbst, dessen Rolle er brav ausführt, und vergisst, dass das Lesen letztlich eine Suche nach einem anderen Ich wäre. Nach einem Ich, das sich allen Zuschreibungen entzieht.
Das Ich wird zum Anderen so, wie in den Übersetzungen die eigene Sprache sich ins Fremdartige weitet. Es ist genauso wenig die Aufgabe des Kritikers wie des Übersetzers, den fremden Text den Lesern so zu übersetzen, dass alles klar ist, dass aller Widerstand gebrochen ist. Die »gute« Lesbarkeit einer Übersetzung im Deutschen ist gerade keine Gewähr, dass hier ein »guter« Übersetzer am Werk war, sondern eher: einer, der das Original verrät. Und genauso verraten Kritiker, die sich an Plot und Pointe entlanghangeln, den Text, und letztlich sich selbst.
Denn so wie der wahre Übersetzer die Fremdheit des Fremden in die eigene Sprache einfließen lassen muss, so sollte auch der Kritiker den Text nicht erklären und bewerten, nicht mit Etiketten in dieses oder jenes Fach ablegen, sondern den Überschuss andeuten, der in jedem reichen Werk wütet.
Jedes große Werk weist über sich hinaus, um uns, die Leser, in einer Ekstase aus uns selbst herauszureißen, um uns über uns selbst hinauszureißen und hinauszuweisen in jenes andere Ich, das auch dem Autor die Hand führte.
Die medialen Großkritiker mögen mit dem perlenden Parlando von Sainte-Beuve ein Bonmot ans andere reihen, Listen der wichtigen Werke und Autoren erstellen, sie verfehlen das Wesen der Literatur, da sie sich nicht der Heterogenität ihres Nichtwissens aussetzen. Sainte-Beuve meint, die Präzision und Kälte von Flauberts Stil sei kein Zufall – schließlich sei sein Vater Arzt gewesen. Doch der Autor, so meinte Marcel Proust 1908 gegen Sainte-Beuve, ist nicht jener Autor, der über das Parkett der Pariser Gesellschaft wandelt, sondern »jener kleine Junge in mir, der zwischen Ruinen spielt«. Er allein, so meint Proust, könnte ein großes Werk schreiben. Er allein aber auch kann ein großes Werk erkennen.
Roland Barthes hat, als zartsinniger Stratege, das Geheimnis seiner Literaturkritik nicht etwa in seinen Schlüsselwerken zur Literatur gelüftet, sondern in einem Buch über die Photographie: »Die helle Kammer«. Das »studium«, so meint er dort, also die ganze weite Welt des Wissens, mag zwar eine Photographie einordnen und bewerten, man kann an ihr alles mögliche abhandeln, die Politik, die Soziologie, die Psychologie. Doch ihn interessiert ein ganz anderes Moment: Das »punctum«. Es ist ein unerklärbares Detail, an dem das Auge hängen bleibt wie das Ohr an dem »grain de la voix«.
Das Körnige der Stimme und der Photographie lässt uns stolpern – aus der Welt des Wissens ins Nichtwissen hinein. Das Punktum zerreißt wie das Trauma den Schleier unseres Bewusstseins und durch den Riss tritt das ganz Andere, das Unheimliche, das Vergessene, das Ureigenste in uns hinein.
Dabei irrt Barthes wie Prousts kleiner Junge durch die Ruinen seiner eigenen Vergangenheit – stets auf der Suche nach der Photographie seiner »maman«. Im Buch bildet er die Photographie seiner Mutter im Wintergarten nicht ab – denn gerade als abwesendes Photo soll sie »punctum« sein: Jeder Leser muss an jene Leerstelle nicht ein Abbild seines Wissens, sondern den Schattenriss seiner eigenen größten Sehnsucht projizieren.
Der Wissende liest voll »plaisir«, voll Freude und Selbstgenuss. Barthes aber sucht eine »jouissance«, die Lust der Ejakulation, in der das Subjekt mit dem Objekt verschmilzt, in einem »-jekt«, wo das Bewusstsein aussetzt und nur noch Bewusstseins-Strom, reiner Fluss ist. In diesen Momenten wird man auf sich selbst zurückgeworfen und entdeckt jene ureigenste Per-version, die uns »um-dreht«, umwendet, die uns beim Lesen von der Welt abwendet und in eine stille Orgie stürzt.
Roland Barthes entdeckt selbst bei den Schlächtereien des Marquis de Sade immer noch ein »principe de délicatesse«. Es ist das »détail qui change«, das ihn fesselt, der Feinsinn etwa der rosa Schleifen, mit denen die Henker ihre Opfer markieren und anzeigen, wie, wann und wo sie entjungfert werden sollen. Wenn er aber solche Details in seinen Kritiken herausstellt, liefert er sich selbst so schutzlos aus, wie wenn er in der Studie über die Photographie das Feld des »studiums« verlässt und ganz über punktuelle Blitzereignisse spricht, die seine Netzhaut durchbrechen und sein Innerstes erleuchten wie eine helle Kammer.1
Statt sich in der Weite des »studiums« zu verlieren und in der antiquarischen Ansammlung von Wissen zu verstauben, soll man jenes »punctum« suchen, an dem Hirn und Herz hängen bleiben. Am medialen Nullpunkt der Literaturkritik angekommen, wo die Kritiker/innen panisch um Aufmerksamkeit buhlen, eröffnet sich die Möglichkeit, die Literaturkritik für uns neu zu erfinden. Wo ist das »punctum«, das mich und meine Leidenschaft in Bann zieht? Welche Art von Kritiker/in möchte ich werden? Ich ahnte es zum ersten Mal im Gespräch mit Peter von Matt, dessen Hebammen-Kunst nicht nur vielen von uns literarische Werke erschlossen hat, sondern mir: mich selbst.
Als »accoucheur« also brachte er mich dank seiner analytischen Kunst dazu, erstmals meine Ohnmacht und meine Sehnsucht zu formulieren, und entließ mich ins Offene. Es war mir, als hätte er mich gedeutet, als wäre ich ein Text, er brachte mich ins freie Assoziieren und ins Sprechen, wie wohl nur er Texte – und Menschen – zum Sprechen bringen kann.
Als Vor-Worte las Peter von Matt einen Vortrag über »Das Deuten« vor, den er 1987 an einer psychoanalytischen Tagung gehalten hatte. Man kann ihn im Band »Öffentliche Verehrung der Luftgeister«2 nachlesen, weshalb hier nur eine einzige Fährte gelegt wird:
»›Kusch!‹ und ›kuschen‹ stammen aus der Sprache der Jagd. Der Hund bringt die Beute, die er gerne selbst fressen würde, aber nicht darf, und kuscht, das heißt, er streckt sich flach am Boden aus, bis der Jäger ihm das tote Tier abnimmt. Zum Kuschen braucht es also zwei. Einer allein kann nicht kuschen. So auch zur Couch des Analytikers.
Zum Kuschen braucht es einen Aufrechten und einen Liegenden. Hier wie dort ist einer in der Vertikale, der andere in der Horizontale. Kuschen und Couch haben zur Voraussetzung das Verhältnis zweier lebendiger Körper im Winkel von 90°. Das entspricht der Ordinate und Abszisse im Koordinatensystem. Daraus entspringt die Kurve der Deutung.
Deutung setzt also voraus, dass lebendige Körper sich rituell zueinander anordnen, und zwar so, dass einer, der Wissende, der Eingeweihte, sich der Senkrechten nähert, der andere, der Unwissende, vom Unwissen Geplagte, der Waagerechten. Was sie gemeinsam haben, ist das Rätsel, so wie der Jäger und der Hund das geschossene Tier gemeinsam haben.
Ich lebe vom Deuten. Die Rätsel, vor denen ich stehe, sind Gedichte, Romane, Essays und Theaterstücke. Die Literatur ist ein Kontinuum von Rätseln, und sie ist nichts anderes. Nur weil sie aus Rätseln besteht, gibt es sie überhaupt. Es sind alles Rätsel von der Struktur der alten Orakel. Das Orakel löst ein Rätsel grundsätzlich nur mit einem neuen Rätsel. So ist die Literatur, ist die Kunst immer das neue Rätsel, das ein altes löst. Die immense Produktion von Kunst und Literatur rund um den Planeten beweist, dass die Menschheit die Lösung ihrer Rätsel durch neue Rätsel braucht, das heißt, dass sie der Lösung ihrer Rätsel durch den Logos nicht traut.«
Die Urszene der Psychoanalyse ist bekanntlich Ödipus, der das Rätsel der Sphinx löst. Die Pest, die in Theben wütet, kommt zum Stillstand. Und so möchte der Logos immer die Rätsel lösen, stillstellen, ersticken. Zuletzt aber öffnen sich neue Abgründe und Ödipus blendet sich, blendet seine Augen, damit nicht wieder das Licht der Sonne, das Licht der Vernunft in sie dringt, das den Mythos löst und tötet. Die Literatur nimmt eine seltsame Position ein, zwischen Logos und Mythos. Sie wird literaturwissenschaftlich untersucht, aber sie entzieht sich der Literaturwissenschaft.
Die erste Anordnung in der Praxis der Deutung: Einer sitzt, einer liegt, der Sitzende und Deutende mit dem Kopf hoch hinauf zu Apollo, zur Vernunft, die das Dionysische bändigt. In der Psychoanalyse aber ist das Verhältnis etwas anders, denn der Patient legt sich freiwillig hin, sucht sich seinen Analytiker aus, während sich die Texte ja ihre Deuter nicht aussuchen. Und so droht in der psychoanalytisch geschulten Literaturwissenschaft, wo die Texte wie in eine Klinik gegen ihren Willen eingeliefert werden: das Kuschen.
Man legt bestimmte Konzepte und Muster, etwa das ödipale Muster, über den Rätseltext, den der Autor vor uns auf die Couch legt, und erstickt mit dem Logos der Psychoanalyse die Vielfalt der Geschichten. Freud aber hat auf die »Fälle« nicht einfach nur mit Formeln geantwortet, sondern mit Fallstudien, mit Texten wie dem »Rattenmann«, der in seinem Namen das Wort »Hei-rat« versteckt, aber auch »Lite-rat-ur«. Und Freuds Literatur wurde von seinen eigenen Schülern oft und oft verkürzt zu griffigen Formeln.
Von Matt hat selbst 1971 in seiner Studie über »Literatur und Psychoanalyse« davor gewarnt, über alles das ödipale Muster zu stülpen, aber auch gezeigt, wie das psychoanalytische Wissen den Blick für Texte schärft. Für ihn bleibt Sophokles’ Erzählung vom König Oedipus eine gewaltige Erzählung, in der ein Überschuss an Sinn immer auch über Freud hinausweist. Als Interpret sollte man also nicht wie eine Logosspinne über dem »Opfer« schweben und den Giftstachel des grausamen Allwissens in den Textkörper treiben, sondern frei schwebend warten, bis sich aus Freuds Zigarrenrauch und den Wolken der Worte ein Gebilde formt, eine Deutung.
Solches Deuten kann man nie »beherrschen«, keiner der beiden Dialogpartner hat die Abläufe des Sinnstiftens »in der Hand«. Die Position der Macht, in der der Deuter sitzt, muss der Ohnmacht weichen. Beziehungsweise dem Gemeinsam-Machen. Analytiker und Patient, Text und Leser machen gemeinsam eine Geschichte.
Die Literatur und die Psychoanalyse sind je und je ein unendlicher Prozess. Freud hat, wenn man die Protokolle über seine Psychoanalysen liest, mit den Patienten über seine eigenen Erzählungen gesprochen, sie mit ihnen gedeutet. Bei einem Basler Patienten, Ernst Blum, erwähnt er Hamlet und Ödipus und meint: Meine Deutung dieser Werke ist keine endgültige Deutung, denn diese Werke haben noch viele andere Dimensionen. Von Matt nennt das in einem Buch3 die »Überdeutung«. Ein Überschuss von Sinn. Die Literatur ist, wie er in seiner Rede an den Salzburger Festspielen gesagt hat, ein Fest, das sich der ökonomischen Vernunft entzieht.4
Die Texte ziehen uns in einen Sog der Verschwendung, wo die exakten Formeln der Vernunft dem Formlosen der Triebe weichen. Dieser Formlosigkeit kann man nur mit Metaphern antworten. In der Metapher ist immer ein Überschuss an Sinn vorhanden. Man kann sie nie stillstellen. Sie ist ein aus sich rollendes Rad. Das Zentrum ihres Sinns, das sie wie die Nabe eines Rades umkreist, entgrenzt sich immer zum Exzess. Auf Texte, die selbst immer Metaphern sind, kann man nur mit Metaphern antworten, auf die Geschichten der Literatur nur mit einer neuen Erzählung. Und so wird das alte Rätsel durch ein neues gedeutet, das sich wiederum der Deutung preisgibt.
In der Psychoanalyse gibt es die Übertragung des Patienten auf den Analytiker, er sieht in ihm dann eine Figur seiner Biographie, aber es gibt auch die Gegenübertragung. Dann sieht der Psychoanalytiker etwas in seinem Patienten. Das dämmerte mir im Gespräch mit von Matt: Ich erhoffe mir beim Lesen, dass der Text mich aus der vertikalen Position des gesicherten Wissens hinausbringt, in die Tangente zur Paranoia, wo aller Sinn so schief zur Welt steht, dass er mich in den Exzess und in die »innere Erfahrung« der Ekstase treibt, ins Nirgendwo, ins Nietzschewo, ins Nichtverstehen - in den Schock der Schönheit.
In diesem Blitzaugenblick lese nicht ich das Werk, sondern das Werk liest mich. Das »punctum« dringt durch die Netzhaut des Wissens in mich ein und rührt an traumatische Erfahrungen, die mir sonst nicht zugänglich sind. Auf diesen Schock kann man nicht mehr wissend antworten, sondern nur stammelnd.
Und so fragte ich Peter von Matt im Gespräch:
— Im Moment des Schocks kann man nicht mehr deuten. Wie erleben Sie diese Momente von Schock beim Deuten?
— Bei einem Kunstwerk – auch bei Musik, bei bildender Kunst – treten wir in einer Haltung der Überlegenheit an das Werk heran und sagen: »So gefalle mir bitte!« Ich sage dem »die Höhensonnen-Haltung« dem Kunstwerk gegenüber: Sei schön und beweise mir, dass du Kunst bist. Sonst verwerfe ich dich. Und im Grunde genommen funktioniert die Kunst erst dann, wenn ich die Erfahrung mache, dass ich ihr nicht gewachsen bin. Das heißt, ich muss mich mit dem Werk und dem Text in einen Prozess hineinbewegen. Und dieser Prozess ist dann oft wieder erzählerisch, insofern ich beschreibe, berichte, was in mir vorgeht. Das Werk ist in der Erfahrung nicht eine absolut gegebene Größe, etwas, das ich unter die Lupe nehme wie ein Naturwissenschaftler den Querschnitt eines Pflanzenstengels. Es gibt ja nicht den Roman an sich, es gibt nur: Papier und Druckerschwärze. Der Roman entsteht erst, wenn ich ihn lese. Dann ist es der von mir gelesene Roman. Was in mir entsteht, wenn ich Flauberts »Madame Bovary« lese. Dann ist Flauberts Werk jenes Werk, das in mir entsteht. Jeder, der die »Madame Bovary« liest, fühlt sich an sein eigenen Leben erinnert, und dabei entsteht eine Sache, die es nur einmal gibt: das Produkt aus dem Leseakt und der Vorlage, die ihm der Autor hinlegt. Das ist ein Widerspruch in sich. Denn wenn ich dann deute, deute ich etwas, was ich selber gemacht habe. Ich bin in dem Prozess drin. Es kommt auf diese Prozesshaftigkeit an.
— Und doch gibt es Blitzaugenblicke, wo man sich sagt: Jetzt ist mir das Werk klar. Auch Franz Kafka. In jener Nacht, wo er »Das Urteil« schreibt: ein Momente der Ekstase, wo der enge Kreis seines Ichs gebrochen wird. Kafka sagt, wie Sie in einem Buch erwähnen, über dieses Offensein: Dieses große Erlebnis beim Schreiben in der Nacht sei ihm wichtiger ist als eine Ehe. Diese einsamen ekstatischen Momente in der Nacht, bei Kafka, aber auch bei Flaubert, diese Nacht, wo das Bett für alle anderen Menschen nur ein Bett ist, aber für die Autoren wird es zum Diwan, zur Ottomane von Flauberts »Salambo«, und Flaubert wirft sich drauf, schwitzend und heiser vom Brüllen, wenn er den Klang der Konsonanten testet. In solchen Nächten entsteht, was wir dann als Tagtraum der Dichter wieder lesen – um in eigene Nachtabgründe einzutauchen.
— Es ist nun aber nicht so, dass Flaubert oder Kafka im Moment, wo sie Ja sagen zu ihrem Werk, dieses Werk verstehen. Wir wissen nur, dass es jetzt für sie »richtig« ist. Kafka hat diese Vatererzählung »Das Urteil« in einer Notiz kommentiert und man würde denken, wenn ein Autor wie Kafka ein eigenes Werk auslegt, dann hat man endlich die wirklich verbindliche Deutung: Die Deutung stammt vom Autor und der muss es ja wissen. Aber die Notiz bleibt verworren, man kann sich nicht auf sie verlassen, denn für ihn ist das Entscheidende an ihr, dass er am Morgen sagen kann: Nur so kann geschrieben werden, darauf hin lebe ich von nun an. So zu schreiben, dass ich am Morgen sagen kann: Ja, so ist es richtig. Aber damit ist noch gar nichts verstanden. Wenn wir von Kunst erfasst werden, fällt es nicht zusammen mit einem Verstehen, sondern mit einem Ja. Ja, so ist es. Dann beginnen wir darüber zu reden und versuchen diesem existentiellen Jasagen dem Werk gegenüber auf die Sprünge zu kommen. Es genügt nicht, einfach zu sagen: Potzdonner. Wir wollen mehr dazu sagen.
— Dieses Jasagen des Autors zu seinem Text ist ja der Moment der reinen Präsenz. Er sagt dazu Ja in dem Moment, wo er den Text schreibt und abschließt, und auch der »Idiot« von Dostojewski ist ganz bei sich in der absoluten Präsenz. Der Epileptiker Flaubert in seinen Anfällen ist auch ganz bei sich. Von daher spricht aus dem, was Sie sagen, auch eine Sehnsucht des reflektierenden Geistes, diese Reflexion zu verlieren im Jasagen zum Werk. Dieser Moment der absoluten Blendung. Die Augen von Orest. Das ist ja schon ein Wunsch, wo man hin will, und paradoxerweise kommt man ja als Deutender nicht da hin. Da ist dann die Frage: Möchte man nicht eigentlich auch dieser Schriftsteller sein, der in diesem Moment, einmal in dieser Nacht, im September 1912 ja gesagt hat? Ist es nicht eine Sehnsucht, einmal in diese absolute Selbstpräsenz zu kommen, die so verlockend ist?
— Ich glaube, gerade diese Erfahrung kann man als Leser und Rezipient mit der Literatur, mit dem Kunstwerk machen. Den Moment dieses unbedingten Jasagens, wo gar kein Zweifel mehr herrscht und das Urteil aufgehoben ist … Nur sind wir damit eigentlich von der Frage der Deutung weggekommen. Wir haben die Deutung reduziert auf die Begeisterungssekunde, in der gar keine Frage mehr besteht.
— Das ist doch etwas ganz Seltsames, dass die großen Dichter und Werke diesen Sog haben, dass man eigentlich so werden möchte, wie dieses Werk ist. Auch das Übersetzen, das ja auch eine Form des Deutens ist, ist ein Vorgang, wo man die Distanz zum Werk weitgehend aufheben möchte. Ihre Position ist ja aber dann immer schnell der Schnitt, auch die Analyse, also der Rückzug aus diesem Geblendetsein, aus diesem reinen Ja.
— Dieser Anruf »Deute mich«, »Verstehe mich«, das ist wahrscheinlich eines der Hauptphänomene, wo man von literarischer Größe sprechen kann. Und doch: Bevor wir etwas vom Werk wissen, wissen wir, dass wir es bejahen. Es ist ein Ja zu einem Rätsel, zur Magie des Rätsels.
Und da merkte ich, dass ich an der Spannung dieser Dialektik zerbreche, dass ich nicht die Geduld des Auslegens besitze, um wie von Matt einen Text so zu enträtseln, dass das Rätsel nicht einfach »gelöst« ist, sondern sich zu einem neuen Rätsel formiert, wie es uns seine großen Studien immer wieder vorführen. Ich rette mich dann in romantisches Raunen, weil ich nicht die Kunst beherrsche, mich vom Text zu distanzieren, sondern immer zur Identifikation neige.
Anstatt den Patienten im rechten Winkel der Vernunft zu überwältigen und zu verstehen, wie man es nach dem von Peter von Matt hinterfragten Klischee vom Kritiker erwartet, lockt mich die Lust der Gegenübertragung. Als Kritiker freue ich mich dann, dass sich der Text (sein Patient) allem entzieht. Allen Begriffen der Literaturwissenschaft, allen Begriffen der Psychiatrie und Psychoanalyse. Ich sitze vor dem Text und möchte ihn nicht in den Griff kriegen, sondern mich von ihm auf die schiefe Bahn des Wahns werfen lassen, um endlich alles hinter mir zu lassen: die Vernunft, die Grammatik, die Praxis mit ihren vier Wänden der Normalität.
»Unter der Grammatik ist mein Denken begraben«, meinte Antonin Artaud. Und unter ihr ist 95 % der Gegenwartsliteratur immer noch begraben. Der gesunde Menschenverstand und das Schön-Schreiben schwebt über den Texten wie ein Totschläger. Plot, plot, plot, plattplappert es aus allen Kanälen.
Der Schizo aber entzieht sich, stammelnd und stotternd. 90% aller Fälle von Wahn, schreibt Jung an Freud, ließen sich erledigen, wenn man Schizophrene wie Groß heilen könnte. Doch vielleicht sollte man sie nicht heilen, sondern ihnen folgen: Hinaus aus dem Schrebergarten der Begriffe, wie der Präsident Schreber, der sich gar nicht, wie Freud meinte, dem ödipalen Zwang unterwerfen und sich von Papa vögeln lassen, sondern sich dem analen Strahlen der Sonne hingeben wollte, den Hintern hoch in der Luft, so dass die Strahlenfäden unter seine Haut eindringen, durch den Körper wandern konnten, ein Netz bilden, nicht das Netz der Vernunft, wo in der Mitte immer die fette Spinne hockt, sondern ein neues Netz der Spinnenden, die über die Jahrhunderte hinweg miteinander verbunden sind, deren Ideen unter der Oberfläche der großen Texte von Hölderlin bis Bolaño irren.
Friedrich Glauser wollte, wie Arthur Rimbaud, in seinen Dichtungen dem Fremden dienen, der Legion jener Fremden, die man als Irre mit Etiketten versieht und als Dichter in sogenannte Schulen einteilt, dabei gibt es keinen Paranoiker, keinen Schizophrenen, sondern immer nur: Freuds »Rattenmann«, den Präsident Schreber, de Sade im Irrenhaus, Hölderlin im Turm – einmalige Individualitäten, deren Krankengeschichte höhere Poesie ist.
Es ist kein Zufall, dass die letzten beiden gigantischen Texte der Weltliteratur, David Foster Wallace’ »Unendlicher Spaß« und Roberto Bolaños »2066« in Kliniken spielen. Bei Bolaño, der die Avantgarde als Après-garde noch einmal aufblühen lässt, bläst der irre Dichter ein paar Rauchwölkchen aus, er will gar nicht mehr aus der Klinik flüchten, denn er hat gemerkt: Hier ist mein Ort.
Der Aufstand und das Toben der Irren, all ihr Rütteln an den Gitterstäben der Vernunft, die mit ihren Rastern die Welt einteilt, ist ein Versuch, das Denken und Fühlen wieder in Fluss zu bringen und all jene Mauern zu unterspülen, die uns davon abhalten, ins Reale einzutauchen, dessen Sinneseindrücke einfach überwältigend sind, so überwältigend wie es das Kind noch erlebt, lallend, weil es eben noch sprachlos ist, »infans«.
Es hat für die einzelnen Eindrücke noch nicht Namen, die sie voneinander sondern, sondern es bleibt ganz Sonderling, ein kleiner Idiot, der bei sich ist, in seinem Idiolekt, jener unentschlüsselbaren Sprache, zu der nur ganz wenige Schriftsteller zurückfinden, Hölderlin etwa, wenn er sich in den Strom des Rheins wirft und darin plötzlich Rousseau auftauchen lässt: Rousseaus Glück in der Paranoia auf der Petersinsel, Rousseau, dessen Insel im Strom des Reimes liegt.
»Oui, oui« stammelte Hölderlin zuletzt nur noch, wenn er sich, im Garten und in den Landschaften rund um Tübingen über eine Blume beugte. JaJa. Aber dem Deutsch ganz entflohen in die Sprache des Anderen, für die hier das Französische steht. In diesem Lallen ist die Blume ganz da. Ja. Ja. Es ist die reine Affirmation der Gegenwart. Es ist offen wie der Mund, wenn er das französische »Oui« formt, offen für den Eindruck, den die Blume hinterlässt, die blaue Blume von Novalis, die romantische Sicht auf die Welt, wo die Welt ganz im Ich aufgeht und das Ich mit der Welt verschmilzt, jenseits aller Zwänge der Ratio. Und so möchte ich, wenn ich Rousseau lese, wenn ich Rousseau übersetze, nur noch eins: Rousseauwerden.
Mich im Wahn und Wogen der Vokale auflösen, wenn Rousseau, am Ufer der Petersinsel sitzend, dem Rieseln (»ruisseler«) eines Baches laucht, sich ganz dem Fluss der »e« hingibt, von jener goldenen Urzeit träumend, als im Süden sich die Frauen und Knaben an Brunnen einfanden, um das Wasser der Liebe zu schöpfen, das Glück der Tränen zu trinken, voll Ah und Oh beseligend im Auge des Gegenübers ertrinken, weich und weich seufzend »Aimez-moi«, »Liebe mich«.
Dann vergaß er das konsonantische Knattern und Krachen jener Kutsche eines Grafen, der ihn in einer Pariser Gasse überfahren hatte, ihm das Kinn zerschmetterte, seine Zähne brach, seine Glieder, die sich gerade noch beim Gang zu den Blumen vor Paris im Duft des Grases geweitet und gedehnt hatten wie die Vokale, wieder in sein Bewusstsein brachte, und mit den Gliedern eben die Artikulation, die Trennung der Wörter in Silben, klar voneinander getrennt, wie damals, in Rousseaus Zeit schon, die Bürger eben nicht mehr in den Tränen des Anderen versanken, sondern von einander getrennt waren, getrennt von einer Sprache, die ganz kalt wurde, als Gott, so Rousseaus Sprachtheorie und Wahntheorie, den Pol der Erde kippte und es im Norden kalt und kälter wurde, so dass die Menschen einander nur noch zuklappern konnten: »Aidez-moi«, »Hilf mir«.
So trennten sich die Vokale wie die Menschen voneinander, noch schlimmer: Die Schrift ließ die Kette des Sinns fest und fester erstarren, die Sprache war nicht mehr reine Präsenz, sondern nur noch Repräsentation, am Hof etwa, wo die Höflichkeit gilt, aber auch in den Straßen, in die die Abgesandten der Höflinge Plakate und Schilder trugen, in denen sie Subjekte anwarben, für den Krieg, für das Kettenhemd der Gewalt, die Rousseau mit seinem Text über die Kutsche und seinem Sehnen am See eben überwinden wollte, sich wegträumend aus der Welt in sein Ich, sein Insel-Ich am Bielersee, wo ihn all die Steine des Pariser Pflasters, aber auch die Steine, mit denen man im Jura die Fenster seiner Wohnung einwarf, um ihn zu vertreiben und zu verfolgen, nicht mehr erreichen konnten, sondern höchstens noch tanzten, dahingleitend über die Wellen des Wassers und die Wogen des Wahns.
Um seine Schriften vor den bösen Kritikern zu retten, damit in ferner Zukunft vielleicht eine neue Generation von Lesern sie doch noch richtig lesen könnten, wollte er sie auf den Altar einer Kirche legen… Rousseau kann man nicht mit dem Begriff der klinischen Paranoia erklären, meinte Jean Starobinski, der selber als Arzt gearbeitet hatte, bevor er einer der größten Literatur-Deuter unserer Zeit wurde. Auch Artaud könne man nicht mit klinischen Begriffen erklären, meinte Jacques Derrida. Aber auch nicht, fügte er schelmisch hinzu, mit den »kritischen« Begriffen der Literaturwissenschaft.
Assonanzen und Assoziationen sind Symptome, die auf etwas anderes verweisen. Doch dieses Andere lässt sich, letztlich, nicht fassen. Man kann es nur in die Klinik einsperren. Diese Bemerkungen stehen im Spannungsfeld eines jahrhundertelangen Ringens, die Dichtungen der Paranoiker und die Paranoia der Dichtung zu deuten. Und sie zeigt die Grenzen aller Deutung: Große »Irre« wie der »Rattenmann« oder der »Präsident Schreber« weben ein Netz von Bezügen, die selbst Freud nie ganz auflösen konnte. Genauso kann man die Texte großer Autoren, nie einfach als »Symptome« entschlüsseln. Die Wahn-Welten der Irren erweisen sich wie die komplexen Werke von Flaubert, Proust oder Joyce als unausschöpfbar. Man kommt mit ihnen nie an ein Ende. Manchmal aber kommt man, dank der Deutkraft eines Kritikers und accoucheurs, zu sich.
Die Gesprächsauszüge stammen aus der Begegnung von Stefan Zweifel und Peter von Matt, die am 23. Januar 2013 als Teil der Reihe
»Zweifels Reflektorium« im Burgtheater Wien stattfand.
1 Roland Barthes: Die helle Kammer, Frankfurt/M. 1999.
2 Peter von Matt: Öffentliche Verehrung der Luftgeister. Reden zur Literatur, München 2006.
3 Peter von Matt: Literatur und Psychoanalyse, Stuttgart 2001, S. 37ff.
4 Peter von Matt: Kunst, Verschwendung und Gerechtigkeit. Eröffnungsrede der Salzburger Festspiele 2012. (salzburgerfestspiele.at/Portals/0/Rede_Matt.pdf).
studierte Philosophie, Komparatistik und Ägyptologie an der Universität Zürich. Seine Doktorarbeit in Philosophie verfasste er gemeinsam mit Michael Pfister über Sade, Hegel und La Mettrie. Bekannt wurde er durch die ebenfalls mit Michael Pfister erarbeitete Neuübersetzung von Sades Hauptwerken Justine und Juliette. Darüber hinaus wirkte er federführend bei Ausstellungen über den Dadaismus und den Surrealismus mit. Bis 2004 betreute er die dreisprachige Kulturzeitschrift Gazzetta. Er schreibt unter anderem Beiträge für die Neue Zürcher Zeitung und die Zeitschrift »du« und übersetzt literarische Werke zuletzt u.a. von Rousseau und Roussel aus dem Französischen.
Laienherrschaft
18 Exkurse zum Verhältnis von Künsten und Medien
Broschur, 320 Seiten
Inkl. Mit Zeichnungen von Yves Netzhammer
PDF, 320 Seiten
Die vielfach geforderte Freiheit des Einzelnen, Kunst nach eigenem Gutdünken zu rezipieren, zu genießen, aber auch zu produzieren und damit zu definieren, ist heute weithin Realität geworden. Wir leben im Zeitalter der Laienherrschaft in den Künsten und den mit ihnen verbundenen Medien: einem Regime, das auf der Dynamik der Massen-Individualisierung und dem Kontrollverlust etablierter Autoritäten beruht, in dem jede Geltung relativ ist und die Demokratisierung in ihrer ganzen Ambivalenz zum Tragen kommt.
Die Essays und Interviews des Bandes kreisen um die Figur des Kulturpublizisten. Wie wirken Ökonomisierung und Digitalisierung auf sein Selbstverständnis ein? Wie sieht es mit der gegenwärtigen Rollenverteilung zwischen Publizist und Künstler aus? Wie verhält sich der Publizist gegenüber dem immer eigenmächtiger auftretenden Rezipienten? Der zeitgenössische Kulturpublizist tritt als Diskursproduzent und als Weitererzähler flüchtiger Wahrnehmung auf; doch auch als Interpret, der als Leser und in diesem Sinne als »Laie« seine Stimme entwickelt – jenseits aller Reinheits- und Absicherungsgebote, die etwa die Wissenschaft aufstellt. Eine Kultur des Interpretierens als eine von der Laienperspektive her gedachte Kultur der Subjektivität, der Aufmerksamkeit, der Sprache und der Auseinandersetzung mit den Künsten ist in Zeiten der Digitalisierung eine unschätzbar wertvolle, omnipräsente und zugleich bedrohte Ressource.
Mit Zeichnungen von Yves Netzhammer.