Man muss sich ihrem Geheimnis so weit überlassen, dass der Blick davon nicht behindert wird. Allein der Schlaf enthüllt es dem Träumer in Form von Traumbildern, doch nur ihm allein. Seinen Traum teilt man mit niemandem. Man teilt ihn nicht einmal mit der Sprache. Das Schamgefühl betrifft das Geschlecht als Geheimnis. Dieses Geheimnis ist der Sprache nicht zugänglich, nicht nur, weil es bereits Jahrtausende vor der Sprache bestand, sondern vor allem, weil es an ihrem Ursprung ist, und zwar jedes Mal. Es ist der Sprache für immer entzogen. Wie es dem sprechenden Menschen für immer entzogen ist, weil er die vulva für immer verlassen hat. Weil er nicht mehr infans, sondern maturus, adultus ist. Weil er Sprache geworden ist. Darin liegt zunächst der Grund, warum dieses Geheimnis, „das nicht spricht“ (infans), so selten seine Sprache durcheinanderbringt. Und warum das „Bild“ dieses Geheimnisses den Menschen so sehr verwirrt. So sehr, dass er träumt. Deshalb lässt ihn der Anblick dieser Szene in Schweigen erstarren und hüllt ihn in dunkle Nacht.
Plutarch zeigt Apollonios, der Thespesion im Gespräch erklärt, dass man durch Nachahmung nur darstelle, was man sieht, während die Phantasie auch das Nicht-Sichtbare hervorbringe. Dann sagt Apollonios plötzlich: „Die mimesis entfernt sich oft durch ein Erschrecken von ihrem Ziel, die phantasia dagegen niemals.“ (Flavius Philostratus, Das Leben des Apollonius, VI, 19).
Cicero schrieb, mehr als alles andere auf der Welt fürchte er die Stille, die im Senat eintritt, wenn jeder darauf wartet, dass einer das Wort ergreift.
Wenn man die Villa der Weinbauern südlich von Pompeji betritt, kommt zuerst die Stille, dann der Schrecken. Platon sagte, der Schrecken sei das erste Geschenk der Schönheit. Ich füge hinzu, dass das zweite Geschenk der Schönheit vielleicht die Feindseligkeit gegenüber der Sprache ist (das Verstummen). Auf dem stummen Fresko liest ein Kind. Man hört nicht einmal, wie die Schriftrolle abgerollt wird, die es in seinen Händen hält.
Ich glaube nicht, dass die unerhörte Schamhaftigkeit dieses Fresko je bemerkt worden ist. In gewisser Hinsicht könnte man dieses Fresko das Schamgefühl nennen. Ganz links sitzt eine Matrone in ihrem Sessel. Dazu das Kind, das in der Stille des kleinen Raums liest. In der Mitte ein verschleiertes Objekt. Die drei Wände zeigen dem menschlichen Blick das Mysterium der Scham, die Frauen, Kinder, Männer, Dämonen und Götter überkommt.
In der dionysischen Orgie, von den Römern Bacchanal genannt, erschien die Scham den Römern als eine Gottlosigkeit. Die bacchatio bestand darin, einen Mann erst zu kastrieren, ihn dann zu zerstückeln und schließlich roh zu essen. Nur das nicht zurückgehaltene, phallische Begehren konnte den Körper der Venus „verehren“ (venerare).
Und dennoch stellen diese drei kleinen Wände im Halbdunkel das Schamgefühl dar. Selbst wenn die Figuren nackt sind, sind sie unbewegte und feierliche Verdichtungen. Das Kind liest. Es ist eine Erinnerung. Es ist die Erinnerung des „Erinnerns ohne Erinnern“ in uns.
Ein Kind liest, und was es liest, wird gezeigt. Es liest, beklommen vor Entsetzen. Alle an der Szene beteiligten Menschen sind wie vom Donner gerührt. Auf der chora der Wand umgibt der Maler sie mit furchteinflößender und stiller Erhabenheit.
Jedes antike Fresko hat eine Erzählung als Ganzes im Blick und hält im entscheidenden Moment inne, in jenem tödlichen Augenblick, den es nicht preisgibt. Das Gemälde erzählt das ganze Ritual in „einem“ Augenblick. Es ist der Moment, der das augmentum vorbereitet, den Eintritt, die Krise, die Gegenwart des Andauernden, das anasyrma, bei dem der Fascinus entblößt wird, das Bacchanal, die Tötung und die omophagia. Auch wenn der Text fehlt, jedes römische Gemälde sieht aus wie ein Rätsel.
Der Schrecken ist das Zeichen des Phantasmas. Schrecken, Furcht und Angst sind keine Synonyme. Die Angst erwartet die Gefahr, auf die sie sich vorzubereiten glaubt. Die Furcht meint die Ursache für die Angst zu kennen. Der Schrecken bezeichnet einen Zustand, der einen überkommt, wenn man in eine gefährliche Situation gerät, auf die man durch nichts vorbereitet sein konnte. Der Schrecken ist mit Überraschung verbunden. In diesem Sinne ist das Mysterienzimmer in der Villa der Weinbauern die Kammer des Schreckens angesichts des Phantasmas.
Das Mysterium tritt auf, wenn zum Schrecken die Faszination hinzukommt. Die Faszination setzt die Gegenwart eines Fascinus voraus. Der Fascinus steht im Mittelpunkt, verhüllt von einem dunklen Tuch, in seinem heiligen Binsenkorb. Der religiöse oder furchtbare Schrecken koppelt das Gefühl, überfordert zu sein, mit dem Gefühl, beherrscht zu werden. Diese Kopplung versteinert das Subjekt in einem Zustand, den die Römer sowohl als tremendum wie als maiestas bestimmten. Das Gefühl, beherrscht zu werden, ist in Verbindung mit Faszination dasselbe wie das Gefühl der Kreatur vor ihrem Schöpfer, des Kindes vor dem Paar, das dominus und domina bilden, des Blicks, der sich der Urszene zuwendet.
Die unsichtbare Szene hinter dem sichtbaren Fresko ist die Entblößung des Mannes, gefolgt vom Menschenopfer beim Bacchanal.
Tritt man ins tablinum der Villa, steht man neunundzwanzig Figuren gegenüber. Von rechts nach links:
In ihrem standesgemäßen Sessel, vom Geschehen weggerückt, beim Eintritt ins Zimmer dem Blick entzogen, hält die domina den Vorsitz über die Zeremonie.
Mit einem Brautschleier über dem Haar und in einen griechischen peplos gekleidet, lauscht eine Frau der Stimme, die liest.
Das nackte Kind, die Füße in hohen Stiefeln, rollt das volumen auf und liest das Ritual.
Eine sitzende junge Frau legt die rechte Hand auf die Schulter des lesenden Kindes. Die linke Hand, an der ein anulus steckt, hält eine aufgerollte Buchrolle.
Eine mit Lorbeer bekränzte Mänade trägt mit beiden Händen ein rundes Tablett voller Kuchen.
Am Tisch hebt eine Priesterin, die mit dem Rücken zum Betrachter steht, ein Tuch über einem Korb an, dessen Inhalt dem Blick entzogen ist.
Eine Helferin gießt ein Trankopfer über einen Olivenzweig, den ihre Herrin ihr hinhält.
Ein Silen schlägt mit dem Plektrum die Saiten seiner Lyra an.
Ein Satyr mit Ziegenohren führt seine Syrinx an den Mund.
Ein weiblicher Faun reicht einer kleinen Ziege die Brust zum Trinken.
Eine stehende Frau, den Kopf in den Nacken geworfen, tritt erschrocken zurück und weist mit der linken Hand zurück, was sie sieht. Das Tuch, das ihre rechte Hand festhält, wird vom Wind, der ihr entgegenweht, über ihrem Kopf aufgebauscht.
Ein alter, mit Efeu bekränzter Silen reicht einem Satyr eine mit Wein gefüllte Schale und dieser trinkt daraus.
Hinter ihnen hebt ein junger Satyr eine persona (eine Theatermaske) in die Höhe.
Ein Gott lehnt sich an eine Göttin. Das Fresko ist an dieser Stelle für immer zerstört. (Vielleicht ist es Bacchus, der sich an Ariadne oder vielleicht an Semele lehnt.)
Auf den Knien, barfüßig, eine Frau in einer Tunika. Ihr Überwurf ist auf ihre Schenkel hinabgerutscht. Sie beginnt den Fascinus zu enthüllen, der im liknon (einem geflochtenen Worfelkorb) steht.
Ein stehender weiblicher Dämon mit großen, schwarzen Flügeln schwingt eine Reitpeitsche.
Die Hiebe treffen eine junge Frau, die am Boden kniet und sich auf die Knie einer sitzenden Helferin mit dem Kopfputz einer Amme stützt.
Eine stehende Frau in dunkler Kleidung, das Gesicht von Bändern eingefasst, hält in der Hand den zeremoniellen thyrsus, den weinbekränzten Stab der Bacchantinnen.
Eine nackte Tänzerin in Rückenansicht dreht sich um sich selbst mit über den Kopf erhobenen, sich schließenden Armen und schlägt die Zymbeln.
Eine sitzende Frau frisiert sich.
Eine stehende Dienerin hilft ihr bei der Toilette.
Ein kleiner Cupido mit weißen Flügeln hält der Frau, die sich frisiert, einen Spiegel entgegen, der ihre Gesichtszüge wiedergibt.
Ein kleiner Cupido mit weißen Flügeln hält den Bogen in der Hand.
*
Die Mysterien haben ihr Geheimnis bewahrt. Niemals wird man wissen, was die Orgia von Eleusis waren. Aristoteles erklärte, die Mysterien hätten aus drei Teilen bestanden: ta dromena, ta legomena, ta deiknumena (gespielte Handlungen, rezitierte Formeln, Dinge, die enthüllt werden). Drama, Sprache, Ausstellung. Theater, Literatur, Malerei. Diese „mysteriösen“ Dinge (also Dinge, die „den Mysten vorbehalten“ waren) drehten sich um die Sexualität und die Totenwelt. Wir werden sie nie erfahren (aber wir erfahren sie, indem wir uns fortpflanzen, durch das Begehren wie durch den Tod).
Üblicherweise datierte man die Mysterienvilla auf das Jahr 30 v.u.Z. Aufgrund ihrer Ähnlichkeit mit einem makedonischen Grab haben Gelehrte jedoch eine Datierung auf 220 v.u.Z. vorgeschlagen. Die Person, die die sakrale Enthüllung des Bildnisses vornahm, wurde Hierophant genannt. Den geweihten Korb, in dem sich der phallos befand, den man zeigen würde, nannte man liknon. Die rituellen Formeln (legomena) kommen aus dem Mund des nackten, schlaffen Kindes, das das fatum, den Götterspruch, liest. Das ganze Fresko führt rituelle Handlungen (dromena) nebeneinander vor.
„Die Rhomben (rhombi) haben versagt, kein Zauberspruch (magico carmine) skandiert mehr die Drehung ihres Spinnrads, der Lorbeer liegt im Herdfeuer, das erloschen ist; und jetzt weigert sich auch Luna, vom Himmel herabzusteigen.“ (Properz, Elegien, II, 28 B)
Die Zeremonie hat keinen Hintersinn, und auf keinen Fall sollte ein solcher in ihr gesucht werden: Sie soll das sinnlose göttliche Spiel des Bacchanals ausführen. Man kann weder von Innerlichkeit noch von Offenheit sprechen. Es sind so viele Rollen, wie das Spiel sie erfordert. Dazu der Schrecken, der wie Luft zwischen den Individuen ist, wie die Leere zwischen den atomos. Es ist das heilige Spiel. Es ist der lusus, die illusio, die in-lusio, das Eintreten ins Spiel. Es sind viele Mermeros und Pheres, die unter den Augen ihrer Mutter mit Knöchelchen spielen. Bei jedem Spiel ist man „woanders“. Die Zeremonie hat nur einen Zweck: Sie soll den Initianten (den Mysten, der in die Mysterien eingeweiht wird) von dem unterscheiden, der nicht eingeweiht ist. Das Ritual des Mysteriums erfordert in keiner Weise einen Glauben. Es bringt die zusammen, die daran teilnehmen, und schließt die anderen aus – nach dem Muster, das wir selbst abgeben, wenn wir die Teilnehmenden in ihrem Schweigen betrachten.
Diese megalographia, dieses überlebensgroße, feierlich erhöhte Bild, dem als Podest eine „orthographische“ Linie dient, die ebenso der Bildhauerei wie der Tragödienbühne entlehnt ist, verstärkt die Fleischlichkeit der Körper (was die Römer den pondus nannten), indem sie die Stofflichkeit der Kleidung absichtlich verwischt, indem sie die Lichteffekte auf den Gesichtern und den Armen einander angleicht, indem sie die Gegenstände abdunkelt, indem sie jede Figur im Grenzbereich ihres Körpers, im „Äußersten“ ihrer extremitas vereinfacht und damit eine Illusion der endlichen Gegenwart schafft, indem sie die tragende Geste festhält und die konzentrierte innere Einsamkeit hervorhebt.
In der römischen Malerei erstreckt sich die in den Körpern konzentrierte Energie nicht auf ihre Umgebung in Form einer Interaktion zwischen den federleichten Körpern. Die Bewegung ist hier eingefroren. Vielleicht sind das die termata technes (die Grenzen der Kunst), die Parrhasios zutage förderte: Standbilder von der extremitas der Körper. Laut Quintilian muss der Maler Platz zwischen den Figuren lassen, damit keine Schatten auf die Körper fallen und die umrissenen Silhouetten als Körper im Raum deutlich werden. (Institutio oratoria, VIII, 5). Xenophon vertrat die Auffassung, der Raum in der Malerei sei eine Tiefe und keine Leere, genauer: eine chora im Sinne eines freien Platzes in der Mitte, den eine Linie durchzieht (Oikonomikos, VIII, 18).
Obwohl wir den Ritus nicht kennen, wirkt das Fresko durch seine Wahrhaftigkeit so anziehend. Sie beruht zugleich auf den schreckerfüllten Blicken und den stumm gewordenen, schicksalhaften Worten (dem fatum, gelesen von dem Kind, das das volumen entrollt). Die gesamte Bewegung des Freskos ist nicht Langsamkeit. Sondern ewige Gegenwart. Ewige Gegenwart heißt so viel wie Versteinerung. Der Ritus wiederholt verschiedene Stationen, in denen die Metamorphose unwandelbar ist. Es ist ein Theater ohne Publikum. Der einzige Zuschauer ist der Gott, den der Ritus zurückbringt: Bacchus. Das Fresko stellt den Augenblick vor der bacchatio zu Ehren von Bacchus dar.
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Wenn das Fresko aus dem 3. Jahrhundert stammt, dann ist der Fascinus in seinem liknon, unter seinem sudariolus, nicht Priapos. Es ist der Gott Liber Pater selbst. Aurelius Augustinus, Sohn eines Decurio namens Patricius, schreibt im siebten Buch seines Werks Vom Gottesstaat (VII, 21): „Dieses schändliche Glied wurde während der Festtage des Liber mit großem Gepränge auf einen Karren gestellt und dann zuerst von einer Straßenkreuzung zur nächsten über Land und danach in die Stadt gefahren. In der Stadtmitte (in oppido) von Lavinium war ein ganzer Monat dem Liber gewidmet, und während dieses Monats benutzte jeder täglich die schändlichsten Ausdrücke (verbis flagitiosissimis), solange bis das membrum in einer feierlichen Prozession über den Marktplatz geführt wurde und wieder in sein Heiligtum zurückkehrte. Dieses ehrlose (inhonestum) Glied wurde öffentlich von der ehrbarsten Matrone (mater familias honestissima) bekränzt. Damit wollte man sich den Gott Liber gewogen machen, damit er für das Gedeihen der Samen (pro eventibus seminum) und für die Abwendung des bösen Blicks sorgte (fascinatio repellenda).“
Liber Pater war der Gott der Fruchtbarkeit. An seinem Festtag erhielten die Jugendlichen die männliche Toga und traten ihrerseits in die Klasse der Patres ein. Junge Mädchen und Jungen versammelten sich, um gemeinsam zu trinken, zu singen, einander obszöne, erregende Verse entgegenzuschmettern, die „faszinierend“ genannt wurden. Seit Ende des 3. Jahrhunderts v.u.Z. breitete sich in Italien die dionysische Religion mit ihren Phallagogien aus, den Umzügen der Bacchanten und den als Satyrn Kostümierten: In das Fell eines Ziegenbocks gehüllt, trugen Männer einen olisbos aus Holz oder Leder um ihre Hüften gebunden, der über ihrem Bauch aufragte und selbst fascinum genannt wurde. Die Mysterien des Dionysos lösten die Orgien der gens ab, sehr schnell wurde Liber Pater dem Dionysos der Griechen gleichgesetzt, bei dessen Feiern die phalli auf dieselbe Weise angerufen wurden. Im antiken Etrurien war der etruskische Name von Dionysos anfangs Fufluns, später wurde die Gottheit Pacha genannt. Das Zentrum der Verehrung von Pacha und seinen Pachathuras lag in Bolsena. Nach und nach breitete sich der Kult bis Rom aus, wo Bacchus zum römischen Namen für Dionysos und Bacchanalien die Bezeichnung für seine Mysterien wurde. 186 v.u.Z. kam es dann zum Bacchanalienskandal, in dessen Folge der Senat harte Zwangsmaßnahmen ergriff. Römische Bürger hatten im heiligen Hain der Göttin Stimula am Fuß des Aventin die bacchantischen Riten gefeiert. In der Nacht waren Bacchantinnen mit aufgelöstem Haar und einer Fackel in der Hand bis zum Tiber gelaufen. Eine Kurtisane mit dem sehr fescenninischen Namen Hispala Fecenia meldete dem Konsul, ihr junger Liebhaber, Aebutius, habe beinahe den Tod gefunden, nachdem seine Mutter beschlossen hatte, ihn zum Abschluss einer heiligen Orgie (einer bacchatio) von den Anhängern des Bacchuskults opfern zu lassen. Der Senat leitete eine Untersuchung ein und forderte zur Denunziation auf. Die Dionysospriester wurden verhaftet, die Orgien verdammt, die Tötung von Menschen im Verlauf von Kulthandlungen sowohl in der Urbs als auch im Umland verboten.
Der Senatsbeschluss von 186 v.u.Z. hatte keine weitreichende Wirkung. Die dionysische Religion fand immer mehr Anhänger unter den Patriziern. In der Kaiserzeit wurde sie die beliebteste mystische Religion. In den Parks und in den Weingärten nahm Priapos den Platz des antiken Fascinus von Liber Pater ein.
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Die griechischen Tragödien (auf Griechisch „Bocksgesänge“) waren Geschichten, die während der großen Feiern zu Ehren des Dionysos vor der ganzen Polis aufgeführt wurden. Die Blütezeit der Tragödie dauerte von 472 bis 406 v.u.Z. Während ihres Niedergangs gegen Ende des 5. Jahrhunderts spekulierte Gorgias über das Wesen der Literatur. Es ist schwierig, die Kühnheit seines Denkens gebührend darzustellen. Er war der erste, der über das Vermögen der Sprache nachdachte, eine autonome Wirklichkeit innerhalb des Wirklichen zu schaffen. Er ist der erste „Schriftsteller“. Die Welt besitzt keine Realität, schrieb Gorgias, und besäße sie eine Realität, fügte er hinzu, würden wir sie nicht kennen. Doch wenn wir imstande wären, sie zu kennen, folgerte er, könnten wir sie nicht ausdrücken. Der Tragödiendichter Euripides bewunderte den Sophisten Gorgias. Er griff Gorgias’ Themen auf. Er schuf eine Helena ganz nach Gorgias, machte sie zu einem Traum: Der Trojanische Krieg war wie alle Kriege nur Blutvergießen im Namen eines Trugbilds. Von Euripides stammt die Tragödie Die Bakchen. Unter der sozialen Ordnung gibt es eine unbeschreibliche Unordnung, lautet ihre Botschaft. Eine städtische Gemeinschaft gründet nur auf der Schlachtung eines Opfers, das zum beliebigen Blitzableiter für ihre Gewalt wird.
Die Bakchen beruhen auf dem folgenden mythos: Bacchus (Dionysos) reist in Begleitung seiner Mänaden nach Theben, um das Grab seiner Mutter Semele zu ehren, die der Blitz des Zeus vernichtet hat. Auf Semeles Grab hat Dionysos einen ewigen Rebstock gepflanzt. Die Frauen von Theben schließen sich dem Bestattungskult des Dionysos an, den Teiresias und Kadmos begleiten. Pentheus, der König von Theben, verbietet die rituelle Orgie. Er lässt die Frauen von Theben einsperren. Er gebietet Dionysos Einhalt. Indem der Gott den König an der Stirn, am Bauch und an den Füßen berührt, bringt er ihn dazu, dass er das Gewand der Bacchanten anlegt. König Pentheus läuft so schnell er kann zum Kithairon, wo seine Mutter und die Mänaden ihm die Kleider vom Leib reißen, ihn mit ihren Händen zerfleischen und ihn roh verspeisen.
Es ist die bacchatio des geopferten Mannes. Die omophagia der Mysterien.
Zwischen Mann und Frau gibt es nur Zerfleischung. Die bürgerliche Gesellschaft ist nur ein dünner Schleier über der Grausamkeit und der Omophagie. Die Sitten und Künste einer entwickelten Kultur sind nur abgefeilte Klauen, die ständig nachwachsen. Omophagia: Die Mutter verschlingt ihren Sohn roh, der auf diese Weise, durch das Blut, zurückkehrt in den Körper der Frau, die ihn ausgestoßen hat. Das ist die blutige Ekstase, auf der die menschlichen Gesellschaften gründen. Jede Mutter überlässt ihr Kind, das aus ihrer Vulva kommt, dem Tod. Mänaden (mainades) bedeutet auf Griechisch „rasende Frauen“. Sie rollten den Kopf und drehten sich um sich selbst, bis sie umfielen.
Das ist das Thema des Freskos in der Mysterienvilla. Eine Mänade dreht sich um sich selbst. Ein Anhänger des Kults wird gegeißelt. Im nächsten Augenblick beginnt die bacchatio.
Bei Euripides ist König Pentheus willens, das Bacchanal zu verhindern, doch vergeblich nimmt er sich vor, Bacchus in seinem Palast einzusperren. „Vor ihm verschließe ich alle Tore ringsumher!“, sagt Pentheus bei Euripides. Worauf der Dichter Dionysos antworten lässt: „Was? Übersteigen Götter nicht auch Mauern?“
Dionysos, der Gott des tragischen Ziegenbockopfers, der Gott, der die Zuschauer mit seinen Tiermasken verzückt, der Gott, der einen zum Tanz verführt und mit Wein berauscht, ist der Gott, der die Sprache auflöst. Mit ihm endet jede Sublimierung im Kurzschluss. Er lehnt es ab, Konflikte auszugleichen. Er zerreißt jedes Kleidungsstück, das die ursprüngliche Nacktheit verhüllt.
Auf dem Fresko im Mysterienzimmer wird die Nacktheit gleich enthüllt werden. Bacchus ist bereits berauscht. Der Arm, auf den er sich stützt, zittert.
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Messalina galt als die unmoralischste Frau im antiken Rom: weil sie sich verliebte. Juvenal beschreibt, wie sich die blutjunge Kaiserin über Claudius beugt und wartet, bis er eingeschlafen ist. Sogleich schlüpft die Kaiserin in ihren Kapuzenmantel (cucullos), eilt mit einer fuchsroten Perücke, unter der sie ihr schwarzes Haar verbirgt (nigrum flavo crinem abscondente galero), durch die Straßen von Rom, schlägt den alten Türvorhang zurück, betritt das schwüle Bordell (calidum lupanar), legt sich in eine leere Kammer (cellam vacuam), wo sie den griechischen Namen Lycisca annimmt.
Wir sind in Rom: Lycisca bedeutet auf griechisch „kleine Wölfin“.
„Traurig, noch heiß von ihrer wollüstigen Brunst“ (ardens rigidae tentigine volvae), der Männer müde, aber noch nicht satt (lassata viris necdum satiata), kehrt Messalina in den Palast zurück. Ihr Gesicht ist blass und schmutzig vom Rauch der Lampe (fumoque lucernae). Ohne sich vom Dunst des Bordells (lupanaris odorem) zu säubern, schlüpft sie ins kaiserliche Bett (pulvinar).
Doch nicht wegen ihrer nächtlichen Ausflüge erschien die junge Kaiserin unsittlich, sondern weil sie einen Mann liebte. Gefühle (eine Kaiserin, die zur Sklavin eines Mannes wird) waren Matronen strenger untersagt als Ausschweifungen.
Messalina liebte Silius. Tacitus nannte ihn den schönsten aller Römer (iuventutis romanae pulcherrimum). Er war Senator. Um mit Messalina zusammenzuleben, war er bereit, seine Ehe mit einer Frau aus der ältesten aristokratischen Linie, Junia Silana, zu beenden. Messalina erregte Anstoß, weil sie nicht bereit war, einen Mann zu teilen. Sie gab sich ihrer Liebe rückhaltlos und mit einer Kompromisslosigkeit hin, die skandalös war. Claudius verschloss zuerst die Augen davor. Doch Messalina begriff das nicht: Sie besuchte Gaius Silius völlig unverhohlen vor den Augen der ganzen Stadt und in Begleitung ihres Gefolges von Sklaven. Für die Feste, die sie bei Silius gab, ließ sie Geschirr oder kaiserliche Möbel zu ihm bringen. Die Urenkelin von Antonius begann wieder, „das unnachahmliche Leben“ zu führen, das Antonius und Kleopatra vorgelebt hatten (ohne dass man beweisen konnte, dass sie auch den Pakt mit dem Tod erneuerte, mit dem das „unnachahmliche Leben“ ihres Urgroßvaters endete).
Silius erkannte, welche Macht ihm im Namen der Liebe durch die Kaiserin zukommen würde. Er schlug Messalina vor, ihre Kinder zu adoptieren. Sogleich befürchtete sie, Silius würde sie nicht mehr lieben. Sie hegte den Verdacht, er würde, statt sie mit Liebe zu überhäufen, vielmehr damit liebäugeln, durch sie das Imperium an sich zu bringen. Sie beschloss, Nägel mit Köpfen zu machen. Da sie keine anderen Mittel fand, fasste sie laut Tacitus (Annalen, XI, 26) den kühnen (audacia) Entschluss, auf das Kaiserreich zu verzichten. Sie beschloss, Silius zu heiraten. Jede Römerin hatte das verbürgte Recht, ihren Ehemann zu verstoßen: Auspizien wurden eingeholt, man opferte, setzte einen Vertrag auf, die Trauzeugen erschienen, die Ehe wurde geschlossen.
Rom war starr vor Entsetzen. Das Imperium war Messalinas Mitgift. Entweder Silius oder Claudius.
Am 23. August 48, dem Tag, an dem die Feiern zur Weinlese begannen, sollten laut Messalinas Verfügung Bacchanalia stattfinden. Als Bacchantinnen verkleidete Frauen hatten sich in Tierfelle gehüllt und ehrten tanzend die Trauben, die Weinpresse, den Most, Liber und Bacchus. Silius war als Bacchus verkleidet, Messalina als Ariadne. Mit wehendem Haar (crine fluxo) schwang sie den mit Weinlaub geschmückten Bacchusstab (thyrsum quatiens), und Silius an ihrer Seite trug, mit Efeu bekränzt (hedera vinctus), Kothurne an den Füßen (gerere cothurnos).
Claudius hielt sich in Ostia auf und schrieb an seiner Geschichte der Etrusker (Kaiser Claudius beherrschte die etruskische Sprache). Er befahl, man möge seine Gattin töten. Als die Zenturionen eintrafen, die Narcissus hatte rufen lassen, war sie nicht mehr auf dem Fest. Sie befand sich in ihren Gärten, die sie nicht so sehr liebte wie Silius, in denen sie sich aber wohler fühlte als überall sonst auf der Welt (es handelte sich um die Gärten, die einst Lucullus gehört hatten). Ihr Mutter Lepida war bei ihr. Messalina war noch immer als Ariadne verkleidet. Sie hatte eine alte Vestalin rufen lassen, Vibidia. Sie hatte den Bacchusstab (thyrsus) gegen einen Griffel (stilus) eingetauscht. Sie dachte nach. Sie presste den Stift gegen den Lippenwulst und war dabei, einen Brief an Claudius zu schreiben. Sie war zwanzig Jahre alt. Als sie Narcissus’ Soldaten hinter den Bäumen sah, wollte sie sich mit ihrem Griffel selbst töten, doch sie kamen ihr zuvor, und der Hauptmann, der den Trupp kommandierte, durchbohrte sie im Garten des Licinius Lucullus schweigend mit seinem Schwert.
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Augen, die sich fürchten, wenden sich ab von ihrem Betrachter.
Der Betrachter ist von einer allem Anschein nach geregelt ablaufenden, ernsten, genauen, unwirklichen, uneingeschränkten, immanenten, rätselhaften, beklemmenden und verhängnisvollen Zeremonie umgeben. Man muss dem gewalttätigen Gott feierlich danken, der der Zeremonie vorsteht, die er in dieser Weinbauern-Villa an der Straße von Pompeji nach Herculaneum unter Asche begraben hat. Mir fällt der Monolog ein, den Seneca der Jüngere Phaedra sprechen lässt: „Ich lasse die Webstühle stehen, die Pallas Athene erfunden hat. Wenn ich mit der Wolle arbeite, gleitet sie mir aus den Händen. Ich finde an nichts mehr Gefallen. Ich kümmere mich nicht mehr darum, die Tempel zu ehren, ihnen meine Gebete und Spenden zu entrichten, mit den Eingeweihten die heiligen Fackeln (sacris faces) zu schwenken nach Riten, über die man nicht sprechen darf. Nachts finde ich keinen Schlaf. Mein Leiden wird genährt, wächst und verzehrt mich von innen (ardet intus) wie das Feuer im Krater des Ätna brodelt (Aetnaeo vapor exundat antro).“ Diese Szene wird gesteigert durch das Brodeln und die Drohung, verschüttet zu werden. Als er den Ätna ablöste, wurde auch der Vesuv zur schroffen Maske der Medusa, die das wimmelnde, vom Donner gerührte Leben versteinerte, als die Katastrophe eintrat.
Das Fresko ist selbst in jenem Moment der Katastrophe erstarrt, den es vorbereitet.
Was nicht schön ist, was fürchterlich ist, was schöner ist als das Schöne, was die Neugier immer wieder anstachelt, die die Augen auf die Suche schickt, das ist das Faszinierende. Man sieht dem Geschlecht nicht an, dass es nicht zu sehen ist. Im Sog des Begehrens, das es anwachsen, anschwellen lässt, wird es seiner Sichtbarkeit beraubt. Im Sog der Lust, die es im Orgasmus aus der Erstarrung befreit, wird es dem Anblick entzogen.
In der Lust entführt ein Gott die Frauen. In der Lust stärkt ein Gott die Männer. Die antike Kunst war Belebung, Einfluss, Macht, Größe. Die Kunst war die Kraft der Macht. Die Kunst war das, was die Kraft des Gottes in seiner riesigen Statue stärkte, was die Macht der Menschen im Stein oder im Tafelbild oder in den Fresken verewigte wie einst der Held in den Versen des Aöden durch die Nennung seines Namens im Gedächtnis der Städte verewigt wurde.
Die Antiken wiesen der Kunst immer ein ambivalentes Ziel zu: eine Mischung aus Schönheit (griechisch kallos, lateinisch pulchritudino) und Herrschaft oder Größe (griechisch megethos, lateinisch maiestas). Die antiken Autoren warfen Polyklet Mangel an pondus (Würde) vor: zu viel Schönheit, nicht genug pondus. Das lateinische pondus übersetzt das griechische semnon. Erhabenheit, Würde, Langsamkeit, Größe, das sind die Attribute der Götter oder derer, die mit ihrem Körper göttliche Macht zeigen. Die ethische Schwere muss sich mit der ästhetischen Faszination zusammenschließen. Ein Kurzschluss zwischen pulchritudino und maiestas. Racine, der Tacitus aufgreift, sagte, er wolle „Größe im Leiden“ (tristesse majestueuse) darstellen. Aulus Gellius nannte es „eine Größe im Leiden, weder unterwürfig noch grausam, doch voller Schrecken, voll ehrfurchtgebietender Scheu“ (neque humilis neque atrocis sed reverendae cuiusdam tristitiae dignitate). Das ist der voltum antiquo rigore von Plinius: die sexuelle Strenge der Leiber und Gesichter in der Antike. Auf Bildung versessen studierten die amerikanischen Hollywoodschauspieler sorgfältig die Bücher von Varro, Quintilian und Vitruv. John Wayne stellt seine Füße, bevor er in Erscheinung tritt, auf die als Podest angelegte Linie (orthographia) der erhöhten Leinwand: Er ist nie zu früh da, sondern kommt immer mit dieser unmerklichen Verspätung, an der man die unverhoffte Erscheinung einer Gottheit erkennt; er spricht, nachdem er sich bewegt hat; er bleibt unerschütterlich. Man sagt nicht: „John Wayne spielt.“ Es muss heißen: „John Wayne ist der bessere Polyklet.“
Fescenninisch kommt von Fascinus. Die fescenninischen Verse, die zwischen den Lippen hervortretende, aggressive, ithyphallische Sprache wurde als unkultiviert (horridus) abgestempelt. Seneca der Ältere verweist in seiner scharfen Kritik am Stil von Arellius Fuscus auf den Traum von Schönheit, wie ihn das antike Rom geträumt hat: Nihil acre, nihil solidum, nihil horridum (weder Schärfe noch Festigkeit noch Härte). Manneskraft, Tiefe, Größe. Für Kaiser Caligula war der Stil von Seneca dem Jüngeren „Sand ohne Mörtel.“ Woran Tiberius – der große Sammler von Gemälden, die fünfhundert Jahre vor ihm in Griechenland geschaffen worden waren – Geschmack fand, lässt sich noch immer auf der Insel Capri besichtigen, deren fanatischer Verweser er wurde, als er sich ganze elf Jahre auf die Insel zurückzog. Wenn man von der Amalfiküste mit dem Schiff ankommt, ragt eine riesige, schroffe, rotschwarze Klippe aus dem Meer. Sie illustriert am besten die Bedeutung des Wortes horridus. Man taufte sie „Land der Sirenen“. Capreae ist ein verfallener und schroffer Koloss aus Stein. Im Tassili n’Ajjer im Osten des Hoggar-Gebirges erheben sich hohe Felsen, zu deren Füßen Hirtengesellschaften vor zwanzigtausend Jahren Felsbilder gemalt haben. Sie zeigen Kampfszenen, Rinder, die geschlachtet werden, Männer, die stehend vornübergebeugte Frauen penetrieren. Der Fels von Capri hat diesen wilden, aufragenden, schroffen Charakter, horridus wie ein Gott im Meer. Die in der Lava von Pompeji erhaltenen Malereien sind wie die Szenen aus dem Tassili, die dort am Fuß der Felsen, im Halbdunkel von Felsnischen verborgen, gezeichnet wurden und die dort vom Salz geschützt sind, die in der tausendjährigen Stille, die sie umgibt, vor sich hin träumen an einem Ort, wo der Wind ihnen nichts anhaben kann, im Schatten, der ihre Farben erhält. Dort überdauern sie abgeschieden von der Welt und der Geringschätzung der Menschen, ohne sich darum zu kümmern, ob jemand sie betrachtet.
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Es gibt einen Ort, den jeder kennt und der doch unbekannt ist: der Bauch der Mutter. Es gibt für jeden Menschen einen Ort und eine Zeit, die unerreichbar für ihn sind, nämlich die des absolutes Begehrens. Das absolute Begehren ist die Existenz jenes Begehrens, das nicht unseres war, aus dem unser Begehren aber hervorgeht. Es gibt für jeden Menschen eine Utopie und eine Uchronie. Es gibt eine Zeit des Mysteriums. Das Ungestüm, mit dem das Neugeborene an der Brust trinkt, ist die „Fortsetzung“ des Spasmus der Empfängnis. Der Milchfluss bei der Mutter ist die „Fortsetzung“ des Spermaergusses neun Monate zuvor. Es gibt einen großen Fascinus, dessen Erektion ewig währt und der den Zyklus der Mondphasen, der Jahre, der Geburten, der Kopulationen und der Tode beherrscht.
In seinem Worfelkorb gibt es immer ein atopisches und anachronistisches Objekt, das seine „Kinder“ fasziniert und das sich immer unter dem Tuch der menschlichen Sprache verbirgt. In diesem Sinn ist der Fascinus immer das Geheimnis. Das sexuelle Objekt bleibt immer Herr des erotischen Spiels. Das sexuelle Subjekt, vor allem das männliche Subjekt, verliert alles (die Erektion in der voluptas, die Euphorie im taedium, das Begehren im Schlaf).
Dieses Geheimnis ist verborgener als das Verborgene.
Apelles versteckte sich hinter seinen Bildern (ipse post tabulas latens), um zu hören, was ihre Betrachter über sie sagten. Immer steht ein Kind hinter der Tür des geheimen Zimmers (des „mystischen“ Zimmers, dem der Entbindung), um zu belauschen, was es nicht sehen kann. Musik ist Zurückweisung dieses Klangs. Wie der Maler immer hinter seinem Gemälde kauert, so gibt es immer eine Szene hinter dem, was gesagt wird. Renan sagte, man könne in der Vergangenheit der Menschen nicht eine einzige große Sache angeben, die auf eine Weise zustande gekommen ist, zu der man stehen könne. So wie man Gott nicht sehen kann, ohne zu sterben. So wie man der Animalität des Menschen nicht ins Auge sehen kann, ohne bestraft zu werden. Der Anblick des männlichen Glieds ist grauenerregend selbst in Gesellschaften, in denen er durch die Zurschaustellung des Glieds banal und durch die Häufigkeit der Zurschaustellung lächerlich wird.
Die Erfindungen der dionysischen Tragödie und der Pornographie (der tabellae, die libidines genannt wurden) verdanken wir den Griechen. Juden und Römer stritten sich um die Erfindung der Unterhose (subligaculum). Eines Tages, nachdem er seinen Weinberg bepflanzt und Wein getrunken hatte, legte sich Noah betrunken und nackt in sein Zelt (nudatus in tabernaculo suo). Während er schlief, kam sein Sohn Ham ins Zelt. Unter dem Bauch seines Vaters sah er die virilia patris, die ihn gezeugt hatten; er sah die ruhende mentula; dafür wird er verflucht (maledictus); er wird der niedrigste Knecht (servus servorum) seiner Brüder (Genesis 9, 21). Die Herkunft der Unterhose im Okzident ist eine doppelte: eine jüdische, gekennzeichnet durch Verfluchung und Todesdrohung, und eine römische, gekennzeichnet durch Schrecken und Melancholie (in der Republik wirbt Konsul Cicero für das Tragen des subligaculum unter der Toga).
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Menschen betrachten nur das, was sie nicht sehen können.
Der Blick, von dem die Römer wollten, dass er zur Seite geht, gehört zur Kategorie des verhängnisvollen Blicks. Der verhängnisvolle Blick ist der Blick des fatum (der rituellen Formel, die das Kind beim Entrollen der Papyrusrolle spricht, deren Lektüre seinen Blick vollkommen in Anspruch nimmt und die Tod und Wiedergeburt de natura rerum ausrollt). Der verhängnisvolle Blick hat kein Bewusstsein zur Folge. Sondern die Fortdauer des Zwischenfalls, der die katastrophische Verkettung des Schicksals (den ursprünglichen Koitus) ausgelöst hat. Er fasst die Grausamkeit der aufeinanderfolgenden Augenblicke zusammen, deren Bedeutung, über die man nicht bestimmen kann, bis hin zum Glauben (fides) in der Schwebe bleibt. Das ist wie beim unvorhersehbaren Augenblick, in dem der erwartete Orgasmus uns dennoch von uns selbst entfernt und über Enttäuschung oder Glück in uns bestimmt. Was geschieht, hat einen solchen Vorsprung vor unserem Meinen, dass wir es niemals einholen und nie erfahren, wie es wirklich aussah, sagt Rilke. Erst werden wir überrumpelt, dann kommen die Ursachen. Der Verstand kann das Wirkliche nur in der Sprache darüber trösten, dass es wirklich war, und die folgenden Tage nur durch eine neuerliche Improvisation bannen, die nie in der Macht der Sprache steht.
„Niemand verfügt über sein eigenes Geheimnis.“ Das ist der Irrtum von Narziss in Ovids Metamorphosen. Es ist nicht gut, sich zu kennen. Alles, was einen seiner selbst beraubt, ist geheim. Man kann keinen Unterschied machen zwischen seinem Geheimnis und seiner Ekstase.
Es ist kein Tempel: Es ist ein kleines Zimmer in einer dunklen Villa mit einem Fenster, das auf die Bäume hinausgeht. Die Tür öffnet sich auf einen verschleierten Fascinus, der in seinem Worfelkorb im Dunklen steht.
Durch eine schmale Tür in einen riesigen Raum zu treten, das ist der Grundtraum. Es ist die regressio ad uterum. Jeder Traum ist eine Nekyia, ein Abstieg in die Totenwelt. Eine unabhängige libidinöse Welt, so lautet die Definition des Traums. Und das ist auch dieses Zimmer. Das Schlafzimmer.
geboren 1948, zählt zu den renommiertesten Gegenwartsautoren Frankreichs. Er ist Verfasser eines bedeutenden literarischen Werks aus über dreißig Romanen, Erzählungen und Essays, das in viele Sprachen übersetzt wurde, in Deutschland bislang jedoch weitgehend unbeachtet blieb. Ebenso innovativ wie erfolgreich bedient er immer wieder das historische Genre. Sein Roman »Tous les matins du monde« (dt.: »Die siebente Saite«) lieferte das Buch zu Alain Corneaus gleichnamigem Film. Aufgewachsen in Le Havre in einer Musikerfamilie, lebt Pascal Quignard heute fernab vom Pariser Literaturbetrieb in der Normandie und verfolgt unverbrüchlich sein schriftstellerisches Projekt, das sämtliche Gattungen sprengt und die Gewalt der fernsten Vergangenheit zu unserer nächsten macht.
Übersetzt von Holger Fock und Sabine Müller
Gebunden, 320 Seiten
PDF, 320 Seiten
Einen unbegreiflichen Umschwung gilt es zu verstehen: von der fröhlichen Erotik des helllichten Tages, die im alten Griechenland gefeiert wurde, zur Verbannung des sexuellen Akts ins Dunkle, Angsterfüllte, Verborgene bei den Römern. Wo ließe sich dem besser nachspüren als in Pompeji – dort, wo der Schrecken von Erdstößen und glühender Lava uns im Augenblick des Todes das faszinierende Bild des Zusammenstoßes dieser beiden Zivilisationen erhalten hat?
Ausgehend von den verstörenden Fresken in Pompeji erzählt Pascal Quignard eine Geschichte über den Tod, die antike Malerei und den abendländischen Sex, die zu einer ganz neuen Sichtweise auf die römische Welt gelangt: als Ursprung des Ekels, des Grauens, der Melancholie und des Puritanismus.