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Im Schlaf sieht Patrick, was er wach nicht glaubt.

Dietmar Dath

Your Sprache Never Was
Eine Niederlage

Veröffentlicht am 11.12.2017

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Im Schlaf sieht Patrick, was er wach nicht glaubt:

Das Verzeichnis rechnet alles an. Ankündigungen von Belohnung, meist unwahr, leuchten auf und sterben. Der dopaminergische Haushalt ernährt die Liste. Limbische Strukturen tragen sie. Hirn heißt Haus, hat angeblich Fenster.

Es sind aber Langzeitbilder der Vergangenheit.


Sechs Minuten nach vier Uhr früh wacht Patrick von einem Störgeräusch auf.

Er liegt im kleinen Zimmer. Renate schläft im großen.

»Vielleicht hab’ ich nachts ’ne Idee«, hat er ihr

seinen Umzug auf die Couch erklärt, »die muss ich denen dann schicken. Wir reichen das Ding übermorgen ein.« Er fürchtet sich davor, im Schlaf zu sagen, was er von Kerstin weiß, wenn er neben Renate liegt. Im Dunkeln spürt er, dass der Raum ihn anbrummt. Das Hirn gibt dem Brummen Antwort, singt Zucker und Proteine, spricht perineurales Geflecht, das Herausbildung und Funktion der Synapsen kontrolliert, die alle zwischenzelluläre Kommunikation der Neuronen steuern.

Patrick fröstelt von den Füßen her.

Er möchte bei Renate bleiben, nicht nach Amerika fliegen zur Nichtschwimmerin Kerstin.

Renate ist dreißig Jahre alt und ein solider Mensch, die Nichtschwimmerin Kerstin dagegen lebt so lange wie Patrick, zweiundfünfzig Jahre schon, und ihr schreckliches Genie hat nichts Solides.

Renate ist sportlich, hat langes, aschblondes Haar und lacht musikalisch. Dass Patrick einerseits loyal zu seinem heiklen Freund Karel Landau steht, andererseits aber das nicht deckt, was der getan hat, findet sie »heroisch«, ein Wort aus der Literatur, sie liest Romane. Kerstin wiederum hasst Romane, ist knochig und bleich, hat maschinenrasiert kurzes, an den Schläfen schon ergrautes Haar, drei Millimeter, schätzt Patrick, nach letzten Skype-Eindrücken.

Wenn sie lacht, klingt’s dreckig und allwissend, klirrender Riss im inneren Grinsen. Immerhin liest sie Gedichte.


Seit Kerstin das letzte Mal hier in Frankfurt war, auf der Durchreise, nach der Konferenz in Brescia, sind sechzehn Monate vergangen. In dieser Zeit ist der Boden zerbrochen, auf dem Patrick dem Wissen standhalten wollte, das sie ihm in einer Pizzeria verraten hat – nicht auf dem Friedhof, nicht in der Tiefgarage, nein: in der Pizzeria, ein Witz.

Boden?

Seine Arbeitsgruppe, die auf nächtliche Ideen wartet, um das geplante Paper aufzumotzen, forscht im Fassbaren herum, aber dieser Boden ist Sumpf: chirale Magneten, Skyrmionen, Festkörperzeug.

Seinen alten Studienfreund Karel Landau hat Patrick dabei als externen Kollegen aushelfen lassen, wollte ihn sogar in die Gruppe holen, bevor Landau als Fälscher von Tunnelmikro-
skop-Daten überführt wurde.

Anhörung, unehrenhafte Entlassung, Peinlichkeiten. Ein Bruch.

Patricks Beziehung zu Renate bietet erst recht keinen Boden, sondern kommt ihm im Gegenteil immer ausgedachter vor – er will eine junge Freundin, sie will einen Mann, der sich auskennt, was für blasse Wünsche sind das denn?

Kerstin hat ihn nach Boston eingeladen: »Wenn du den Rest wissen willst, musst du kommen.«

Das freche Gesicht dazu kennt er seit Schulzeiten.

Ein Paar waren sie nie. Als Kerstin ihren ersten Freund hatte, war Patrick allerdings zwei Wochen lang ganz hirnverbrannt vor Eifersucht. Dabei gab sie nicht mal alle gemeinsamen Gewohnheiten auf, Freund hin, Freund her. Die Spaziergänge morgens um fünf zum Beispiel fanden zwar seltener statt, zwei- statt viermal die Woche, gingen aber weiterhin vom Treffpunkt am Hauptbahnhof aus, am Mainufer lang, Gespräche über Gott (sie glaubte nicht dran), die Welt (er glaubte nicht dran) und pubertäre Amateurphilosophie (daran glaubten beide).


Das richtige Wort für seine Nähe zu ihr kennt er bis heute nicht. In den Eifersuchtswochen dachte er kurz, es könnte »Liebe« heißen. Aber Liebe, denkt er heute, gibt’s nicht, während die Verbindung zwischen ihnen beiden offensichtlich hält.


Ist es bloß Dankbarkeit, weil Kerstin damals der leidigen Gina entgegentrat, als die ihn 1983 »Schmieröltyp« nannte, nachdem er’s mit dem Haargel übertrieben hatte? Dankbarkeit in beide Richtungen: Auch er hat Kerstin gegen Spott verteidigt, nämlich als sie sich weigerte, am Schwimmunterricht teilzunehmen, und dann mit ihrer gefürchteten Hartnäckigkeit die Eltern nötigte, sie zu einem Kinder- und Jugendpsychiater zu schicken, der ihr schließlich ein Attest schrieb, in dem stand, dass ihre Angst vor dem Ertrinken eine Hemmung sei, die man nicht per Willensakt loswird. Noch heute kann und will sie nicht schwimmen. Kerstins Abseits: Keine Tanzstunden, kein Führerschein, kein Religionsunterricht, kein Schwimmen.


Das Störgeräusch dringt durch die Schaumstoffohrstöpsel und den Pullover, den Patrick sich um den Kopf geschlungen hat, weil es im kleinen Raum ohne Jalousien vor dem Fenster sonst zu hell ist zum Einschlafen.

Patrick denkt: Ich bin ein Verräter, dabei habe ich nix verraten, sondern geschwiegen. Der Verrat besteht darin, dass ich nicht sagen wollte: Er hat keine Daten gefälscht. Hat er aber. Der Witz ist: Wir haben die Versuche mit den Magneten nachgeholt, die Resultate gleichen den erfundenen. Karel weiß, dass das Modell stimmt, da hat er die Belege eben fingiert. Man nennt ihn Lügner, für die Wahrheit. Mich nennt er Verräter, fürs Schweigen. Verrat, Lüge, sind die Wörter kaputt? Kerstin sagt: »Du erwartest zu viel von Sprache.«


Patrick wickelt seinen Kopf aus dem Pulli, befreit sich von den Stöpseln und sieht Licht an der Wand zucken, vom Discman her, den er mit der Stereoanlage verbunden hat. Das Ding geht an, die Boxen brummen, das Ding geht aus, das Licht erlischt, Wiederholung. Der Adapter scheint zu spinnen. Patrick zieht den Stecker. Dann setzt er sich an den Rechner.


Im Internet erzählt ein Überlebender des jüngsten amerikanischen Amokmassakers: »When people were dying there was somebody there who was holding their hands or holding them in their arms, comforting them. When people had injuries, no matter how severe it was, people were trying to get them to safety, nobody suffered alone and I think that’s the takeaway from the whole entire situation.« Was sind Menschen eigentlich für Leute, dass sie so reden, als würden sie lieber getröstet verbluten als alleine entkommen?

Wenn’s wenigstens nur frommes Gerede wäre. Aber es ist tief empfunden, das weiß Patrick, weil er selbst schon so empfunden hat. Was hält dieses Empfinden zusammen? Eine Ordnung für den Austausch nicht nur von Informationen, sondern auch von Informationsverarbeitungsweisen, zu der lauter Regeln gehören, die andere Regeln ändern können? So sehen Philosophen Sprache, auch Linguisten.


Patrick erinnert sich an Kerstins Begeisterung im Studium, als sie auf ihren Lieblingsphilosophen Davidson stieß und auf dessen These, so eine Ordnung existiere nicht. Sie wollte sofort wissen, »ob man’s rechnen kann. Man darf’s nicht den Philosophen überlassen und nicht den Hirnforschern. Von den Philosophen nimmt man Ideen, von den Hirnforschern Daten, aber die Klärung gehört der Informatik.«

Informatik haben dann beide studiert, sie neben der Philosophie, er neben der Physik, weil er »nah an den Tatsachen denken« wollte, da schien ihm »mehr zu holen«. Jetzt ist es Kerstin, die etwas gefunden hat, das alles ändert, nicht er.


Bei den Tatsachen lag die Spur. »Es gibt«, verriet sie in der Pizzeria, »ein messbares Gefälle zwischen einerseits der Anzahl derjenigen sprachlichen Sinneinheiten, die nur die Kohärenz der jeweiligen Inferenzkette bestätigen sollen, und andererseits der Verarbeitungsmasse von Daten, die von außerhalb des Selbst- oder Mehrpersonengesprächs kommen. Der Kohärenzwert ist in den Sprachen, die wirklich gesprochen, geschrieben und gedacht werden, jedem Korrespondenzwert Richtung Nichtsprache vorgeordnet. Wir werden nicht mit Regeln geboren, die uns erlauben, die Welt zu beschreiben. Wir werden mit Regeln geboren, die uns in die Horde treiben, weil es uns sonst gar nicht gibt. Ich hab’ die einschlägigen Erhebungen der Neurolinguistik komplett ausgewertet: Die Art, wie das Menschenhirn Sprache denkt, habe ich durchformalisiert, als Grenzbestimmung für das, was diese Sprache allenfalls leisten kann. Stellt sich raus: Sie kann nicht konsequent von der Welt reden, es sieht nur oft so aus, aber das ist Exaption – der Zweck ist ein anderer, der Nebenzweck des Weltbezugs wird nur oft genug getroffen, um das Geschäft aufrechtzuerhalten, wie etwa ein Zeitungshoroskop ab und zu stimmt, weil es ungenau genug ist. Aber das ist nicht seine Funktion, dass es stimmt – es soll Zeitungen verkaufen. Funktion der hirntypischen Sprache kann nach meinem Beweis nur sein, eine Rechnung mit offenem Ende blind in Gang zu halten, deren Prämissen niemand mehr kennt, so wie es Funktion von Lebewesen ist, sinnlos Erbgut weiterzugeben – das je eigene Leben ist nur Kollateralgeschenk, manchmal Kollateralschaden. In den Sechzigern waren alle enttäuscht, als man sah, die Programmierspracheneinsichten sind weniger relevant für die wirklichen Sprachen, als Chomsky gehofft hatte. Die dachten dann alle: Programmiersprachen sind zu dürftig als Vergleichsspender wirkliche Sprachen. Es ist umgekehrt, das hab’ ich rausgekriegt:
Die Computer stutzen, weil wirkliche Menschensprachen viel schäbiger sind als solche, die der effizienten Verarbeitung außersprachlicher Daten dienen könnten. Natürliche Sprachen handeln von Wirklichem nur bei Kopierfehlern oder aus Strukturzwängen, weil’s nur eine Welt gibt und so weiter. Sie sind eine Fluchtbewegung aus der Natur in die operativ geschlossenen Wahnsysteme, das psychische und das soziale.«


Patrick scrollt, tippt und klickt.

Er entdeckt ein preiswertes Angebot, Premium Economy, in fünf Stunden von Frankfurt aus. Er kauft das Ticket und schreibt eine e-mail an Renate.

Dann reserviert er ein Apartment nah am Copley Square; die Gegend hat ihm sehr gefallen, als er vor vier Jahren in Boston war.

Sein Handy bestätigt die Flug- und Wohnarrangements. Er schaltet den Rechner ab, wäscht sich leise, zieht sich an, packt wenig, geht.


Sechseinhalb Stunden später sitzt er auf seinem Gangplatz mit Beinfreiheit und liest den Anfang eines Gedichts von Denise Riley:


An awkward lyric


It sits with itself in its arms. Out of

The depth of its shame it starts singing


Patrick fragt sich, wie er das übersetzen würde, »awkward«: ein befangenes, beklommenes Gedicht? Unbeholfen, ungeschickt?

Das Gedicht schämt sich: Ist das wie bei ihm, wegen Karel Landau?

Er stopft Rileys Bändchen in das Haltenetz und überprüft das Fernseh- und Filmprogramm: Abenteuer, Fantasy, Komödien für Kinder und Erwachsene. Er kann sich das nicht anschauen.

Seit dem Besuch der Nichtschwimmerin und der Enthüllung ihrer Funde sieht er deren Wahrheit überall, in Kunst und Nachrichten.

Alles will ihn berühren und bewegen, abholen und mitnehmen, erschüttern und ergreifen.
Alle sagen dauernd allen andern:
Mein Nervensystem ist wie deins, wir sind die Verletzten, die einander trösten.

Es ist ihm nicht mal neu.

Damals, in den Achtzigern, waren Kerstin und er am Main bereits einig, dass man die »Betroffenheit«, die »Wut« und »Trauer« der gesamten deutschen Filmscheiße, Protestkunst und Liedersingerei jener Zeit kaum aushalten konnte. Er weiß noch, wie sie einander versprachen, vor allem nie was mit Literatur am Hut haben zu wollen, »obwohl«, wie Kerstin sagte, »es der einfachste Weg zum Job wäre. Im Aufsatz sind wir ja leider noch besser als in Mathe.«

Das Gejammer geriet bald aus der Mode. In der neuen Popliteratur, die aufkam, als Kerstin und Patrick studierten, war man lieber »genervt« als betroffen, aber es ging natürlich auch da wieder nur ums Einverständnis, diesmal das der Genervten. Bald besuchte Patrick Lesungen, weil er sich die Typen anschauen wollte, um nichts von dem Zeug lesen zu müssen und doch unterrichtet zu sein. Popliteratur war da schon wieder vorbei, es blieb aber alles immer derselbe Hordenkram: Familie, Kindheit, Migration, Religion, Sozialisation, Krankheit, Abgrenzung von der politischen Vergangenheit als Kitt (Hitler, DDR usw.), Bejahung unpolitischer Vergangenheit, auch als Kitt, mal Party, mal Askese, kein Gedanke, keine Beobachtung, nur Hordeneuphorie oder Hordenblues.


Patrick weint still und weiß nicht, worüber. Er hat das Buch wieder in der Hand, ohne sich zu erinnern, es aus dem Haltenetz befreit zu haben.

Da steht:


To hold a true note could be everything.

Getting the hang of itself would undo it.


Mit dem Handrücken der Rechten wischt er sich die Wangen. Ein Seitenblick verrät ihm, dass die schlafende dunkle Frau am Fenster nichts mitbekommen hat.

Er ist erleichtert.

Zwanzig Minuten nach der Landung schaltet Patrick sein Handy wieder an, im Taxi Richtung Copley. Er kontrolliert Nachrichten, während im Rückenlehnen-TV der Sender MSNBC Neues behauptet, das strikter auf Hordenbestätigung zurechtgeschnitten ist als jede Fiktion sein könnte.

O2 teilt Patrick per SMS US-Tarife mit.

Renate erläutert in siebzehn Abteilungen, wie entspannt sie ihn hasst.

Im Rezeptionsbüro auf der Fairfield erledigt er Formalitäten, findet danach rasch das Gebäude mit seiner Wohnung nah der Kreuzung Fairfield und Newbury. Als alles ausgepackt und in Schränken verstaut ist, klärt er Berufliches am Tablet, wünscht der Gruppe viel Glück mit dem Paper und dämmert weg.

Er erwacht nach kurzem Erschöpfungsschlaf am frühen Abend, achtzehn Uhr Ortszeit.


Auf der abschüssigen Straße geht er Richtung Copley, besucht den Markt dort und isst auf der Treppe vor der Bibliothek, umstellt von Gedenkzeichen für Wissenschaft und Kunst, ein großes Salamisandwich. Dann geht er die Boylston lang bis zum Park, wo er bei Einbruch der Dunkelheit den Enten dabei zuschaut, wie sie Politik spielen. Auf dem überlaufenen Hauptweg schert er rechts aus, am Kino vorbei, Richtung Einkaufsmeile. In einer Seitenstraße findet er, was er sucht: »SECURITY« verspricht die Tafel im Schaufenster.

Der blaue elektrische Taser kostet 40 Dollar. Der Verkäufer erzählt, dass er aus Pakistan stamme. Patrick nickt, lächelt sinnlos, Thank you, raus.

Er dreht das Gerät in der Manteltasche mit der Hand mehrmals um sich selbst, als wollte er es warmhalten. Zurück in der Wohnung schläft er gleich wieder ein und träumt wirr bis gegen drei. Danach liegt er lesend am offenen Fenster. Um fünf bemerkt er, dass er Hunger hat.

In einem Starbucks auf der Boylston frühstückt er ein Croissant und trinkt Kaffee, dabei liest er etwas, das an der Wand steht:


We thank and honor the first responders who unselfishly and heroically rushed to care for those impacted by the events at the Boston marathon on April 15th, 2013. We thank our brave Starbucks partners who helped so many customers evacuate to safety. We are forever grateful for these acts of kindness as we come together.


Die Nichtschwimmerin denkt bestimmt, da stünde nichts. Aber was steht da, falls da doch was steht?


Auf der Newbury, um diese Zeit fast menschenleer, humpelt eine Frau unbestimmbaren Alters mit zerfetztem rechten Sweatshirt-Ärmel auf dem Gehweg vor ihm her. Er hält sie für obdachlos, betrunken oder verrückt, bis sie an einem nagelneuen, metallicroten Hyundai voller Einkaufstüten stehen bleibt, ihn aufschließt, einsteigt und davonfährt.


Patrick schlendert zum Fluss. Er zählt die Brücken, dann die Schritte beim langsamen Gang von der Freilichtkonzertanlage bis zum Museum für Naturwissenschaften. Im Goldlicht setzt er sich auf eine Bank und ruft Kerstin an.


»Echt, in Boston?«, fragt sie mit so viel Freude in der Stimme, dass er schon wieder den Tränen nahe ist und sie bremsen muss: »Dreh mal nicht durch.«
»Doch, dreh ich. Soll ich dich irgendwo abholen? Wollen wir frühstücken?«

»Hab’ schon…«, setzt er an. Sie unterbricht ihn fröhlich: »Klar, schläfst ja auch nie, wie ich, aber, nein, pass auf, wollen wir mittagessen?«
»Gern. Soll ich zum MIT kommen?«

»Wo bist du jetzt?«
»Irgendwie Back Bay, am Fluss, auf der Höhe von…«

»Okay, weißt du was, dann mach ich hier… dann bin ich in einer Stunde oder so auch da, dann können wir am Fluss rumdackeln wie früher, dann gehen wir essen, nicht?«
»Du musst wegen mir jetzt aber nichts stehenlassen oder fallenlassen oder…«
»Was? Abgemacht, am Museum in… um neun, gut?«
»Gut«, sagt er und freut sich jetzt auch.


Obwohl im Museumsfoyer an diesem Dienstagmorgen hunderte von Menschen unterwegs sind, finden die beiden einander sofort.

Kerstin wirkt gesünder als beim letzten Treffen, die Haare sind länger, ein verwegener Igel. Patrick hat, bevor sie eingetroffen ist, zwei Karten gekauft, weil er weiß, dass sie die Tierskulpturen von Katharine Lane Weems genau so sehr mag wie er. Zusammen bewundern sie den schlanken Hund, die hockenden Hasen.

Mit dem Taxi fahren sie zurück ins Copleyviertel, wo Kerstin einen tollen Italiener kennt. Patrick hat seit Jahren nichts so gern gegessen wie die Spinatgnocchi dort.

Beim Zitroneneis danach fragt er direkt: »Wie weit seid ihr?«
»Wer, ihr?«

»Wie weit bist du? Wirst du bald veröffentlichen? Oder ist es immer noch so, wie du in Frankfurt gesagt hast: Das meiste steckt im Kopf?«

»Jetzt steckt’s im Rechner. Einem einzigen, ohne Verbindungen, null vernetzt, den ich jedes Mal einschließe, im Spind, wenn ich ihn im Institut lasse und nicht abends mit ins Bett nehme. Die Sache ist groß, das wissen wir beide. Eine enorme Kränkung für die Menschheit.«

»Wie Darwin«, sagt er und versucht, an ihrer Miene abzulesen, ob der Vergleich ihr schmeichelt. Sie zuckt mit den Schultern: »Ich lasse andere Leute ein paar Hilfslemmata rechnen.
Der Hauptbeweis ist durch, maschinell. Dreihundertzwanzig Seiten. Ich checke das von Hand, und wenn’s Jahre dauert.«

Er verschweigt seine Erleichterung darüber, dass sie noch nicht publizieren will: »Darf ich es sehen?«

»Wenn du willst, klar«, sagt sie und steht auf.

Er folgt ihr, will zwar noch bezahlen, aber der Kellner und die Nichtschwimmerin wechseln einen Blick, bei dem es Patrick vorkommt, als sei damit gesagt, sie lasse hier anschreiben, Stammgastprivileg. Kerstin geht zielstrebig über die Straße zu einer Reihe von Taxis vor dem Hotel dort, als hätte sie geübt, was jetzt geschieht.


Ihr Büro ist kleiner, als er sich’s vorgestellt hat, aber genauso voll mit Bücherstapeln, Postkarten an der Wand, Ausrissen aus Zeitungen und Zeitschriften, wie schon ihre Zimmer und Wohnungen in Deutschland immer waren.

Auf einem weißen VAIO-Laptop liest er, was sie aus dem Irrtum der Sprachwissenschaft herausgeholt hat, eine Sprache sei ein Regelsystem inklusive Vokabular, das Sätze beliebiger Länge generieren kann, und zwar alle überhaupt vorstellbaren, unendlich viele, auch unendlich lange. Zufällig dürfen die Elemente dieser Sätze nicht sein, sonst bedeuten sie nichts. Hier setzt Kerstin an: Zufälligkeit von unendlichen Zeichenketten lässt sich formal definieren, von da aus sogar die intrinsische Zufälligkeit eines einzelnen Bits. Kerstin gibt messtheoretische und stochastische Tests an, die tieferliegende Beschreibungen von nur scheinbar Zufälligem ausschließen sollen, und arbeitet mit Unvorhersagbarkeit: Selbst dann, wenn man alle vorherigen Münzwurfergebnisse kennt, Kopf oder Zahl, kann man das nächste nicht wissen, wenn’s denn tatsächlich zufällig ist.

Nach dem definitorischen Vorspiel springt Kerstin sofort ins Spiel mit Größen wie der Entropie von berechenbaren und aufzählbaren Mengen, der Dimension von Packungsverfahren, dann diskutiert sie Haltewahrscheinlichkeiten für Programme und zieht die Schlinge um die Konzeption eines Regelsystems, das die der natürlichen Sprache zugeschriebenen Weltreferenzeigenschaften mit den tatsächlichen Befunden über Redundanz und Kohärenzschleifen vereinigen soll, immer enger, bei gleichzeitiger ständiger Erhöhung der Argumentationsreichweite – die gedanklichen Rücklagen Dutzender mathematischer Disziplinen werden mobilisiert, Algebra, Kombinatorik, Logik, Analysis, Topologie und Mengenlehre sind dabei, die gesamte Geschichte der Probleme im Zusammenhang mit Programmen und deren Komplexität in Gestalt ihrer bedeutendsten Köpfen zieht vorüber,
A. N. Kolmogorow und Gregory Chaitin, Solomon Marcus und Maria Semeniuk-Polkowska.


Bis Seite 30 scrollt Patrick ohne größere Verständnisschwierigkeiten durch.

Er braucht anderthalb Stunden dafür, weil er immer wieder in sich hineindenkt, seine rostigen Kenntnismaschinen knirschend in Gang setzt und dabei fürchtet, er habe zu viel Magnetkram gerechnet, zu wenige Programmprüfungen.


Schließlich sagt er halblaut: »Wenn da was falsch ist… ich seh’s nicht.«

Sie fragt: »Du hoffst, da wäre was falsch?«

Er gibt’s mit einem vagen Geräusch zu.

Sie wechselt das Thema: »Willst du was trinken?«

Das will er, aber »nicht hier«, und wendet sich von der schlechten Nachricht im Rechner ab, um mit ihr über anderes zu reden – Ausgehen in Boston, hiesige Lebenshaltungskosten, wie lange er bleiben wird und dergleichen.

Auf dem Gang trifft man Kollegen, sie stellt alle einander vor, Gerede, ein Kneipenbesuch schließt sich an. Patrick trinkt mäßig Whisky, dann Wasser, dann Saft. Kerstin verabschiedet sich schon gegen acht, sie hat einen Termin, macht aber auch weitere Treffen mit Patrick aus, der »etwa eine Woche« hier sein will, wie er sagt.


In den nächsten vier Tagen sehen die beiden einander oft.

Sie spielen Mühle in Kerstins Wohnung, die sechs Zimmer hat und das ganze Erdgeschoss eines schönen Holzhauses an einem waldigen Hang einnimmt. Er übernachtet nicht bei ihr, ist abends lieber in seinem Apartment, nach einem langen Spaziergang zum Fluss und zurück, bei dem er sich unterwegs die Positionen der Kameras an Häusern und Kreuzungen merkt.


Morgens trifft er sich zweimal früh mit ihr, am Fluss, wie seinerzeit.

Am Samstag gehen sie nachmittags in den Zoo, danach kaufen sie Bücher in einem kleinen Buchladen mit sehr guter Lyrikabteilung auf der Newbury Street. Kerstin nimmt ihn mit ins Freilichttheater zu Shakespeares »Tempest«, dann lädt er sie in die Eisdiele ein, wo sie ihm von ihrer letzten Beziehung erzählt, mit einem Mann beim Radio, vor kurzem zerbrochen.

Er redet von Renate und suggeriert dabei, er habe sich schon vor längerer Zeit von der jungen Frau getrennt, »das mit dem Altersunterschied war einfach nix.«


Am Sonntag wartet sie um halb vier Uhr morgens an der Freilichtkonzertanlage auf ihn.


Er hat vorgeschlagen, nochmal vor Tagesanbruch spazieren zu gehen, »bevor ich dann morgen Abend fliege«.

Diesmal, sagt er, will er über die schmale Brücke, wo bei seinem letzten Besuch noch »diese Monsterbaustelle« war. Kerstin versucht, sich bei ihm unterzuhaken, wie sie’s bei diesen Gelegenheiten oft tut, aber er bedauert: »Nee, hab mir irgendwie die Schulter verrenkt bei der Gymnastik vorhin, nach dem Aufstehen.«

Sie schüttelt belustigt den Kopf: »Gymnastik. Unfassbar.«


Er geht neben, auch einen Schritt hinter ihr.

Rechts greift Patrick in seine Manteltasche, spürt das kleine Gerät. Sie schaut aufs Wasser beim Gehen, aufs lebendig Unebene, die weißen Mondspiegel, die sich formen, zerbrechen, lautlos, dauernd.

Sie sagt leise, als wär’s ein Geständnis: »Ich versteh das ja, dass du an die Sprache glauben willst. Wir wollen so ein Verzeichnis, das sich für uns an alles erinnern kann und alles voraussagen. Donald Kingsbury, kennst du den?«
»Nein«, sagt Patrick.

Sie ist stehengeblieben, schaut in Meeresrichtung und sagt: »Es gibt eine Vermutung von ihm, noch unbewiesen. Würde ich gern noch beweisen: ein deterministisches Universum bräuchte mehr Speicherplatz als das wirkliche, das wir bewohnen. Die Welt vergisst viel von sich. Die Unsicherheit über die Zukunft, die wir ja inzwischen zugeben in der Physik, ist wegen der Symmetrien in den Gleichungen eben gespiegelt in einer genauso großen Unsicherheit über die Vergangenheit. Es kann so gewesen sein, wie die Spuren zu sagen scheinen, aber auch anders.«

Er erwidert kaum hörbar: »Dreh dich mal um, bitte.«

Sie tut es. Er hält ihr den Taser hin wie eine tote Maus und sagt: »Ich wollte… als du damals in Frankfurt gesagt hast, wenn dir was passiert, bevor es veröffentlicht wird, dann hat die Menschheit nochmal eine Gnadenfrist, bis jemand anders dasselbe rausfindet, da dachte ich… ich stoppe dich irgendwie. Elektroschock und in den Fluss schubsen. Wenn du ertrinkst, und wenn sie dich finden, war es ein Unfall.«
Sie seufzt: »Seriöser Plan.«

Patrick nickt und wirft das Ding von der Brücke.

Die ist so hoch, dass die beiden Deutschen das Platschen nicht hören, als das Gerät in den Fluss fällt.

»Das mit der Schulter war auch gelogen«, sagt Patrick. Einen Herzschlag weit weg, unerreichbar, will Rileys Zeile in seiner Seele übersetzt werden:


A hymn of pure shame, surging in the throat.


Was »shame« bedeutet, versteht Patrick jetzt: eine Lähmung, die Menschen brauchen, um einander wenigstens ganz kurz zu erkennen.

Am linken Ufer ist der Wald ganz dunkelblau, am rechten steht eine Felswand aus Bauten, mit kleinen Lichtern drin, wo Leute nicht schlafen.

Der Wind ist frisch und sanft. Patrick friert nicht mehr.

Kerstin umarmt ihn, er sie.

Die Wahrheit ist: Sie hält ihn fest, sonst zerfällt er.

Was sie mit dem kaputten Tier jetzt machen soll, wissen beide nicht.

Im Schlaf sieht Patrick, was er wach nicht glaubt:

Das Verzeichnis rechnet alles an. Ankündigungen von Belohnung, meist unwahr, leuchten auf und sterben. Der dopaminergische Haushalt ernährt die Liste. Limbische Strukturen tragen sie. Hirn heißt Haus, hat angeblich Fenster.

Es sind aber Langzeitbilder der Vergangenheit.

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Dietmar Dath

Dietmar Dath

ist Schriftsteller, Übersetzer und Publizist zu ästhetischen und politischen Themen. Von 1998 bis 2000 war er Chefredakteur des Popkulturmagazins Spex, von 2001 bis 2007 Redakteur im Feuilleton der F.A.Z., seit 2011 ebendort Filmkritiker. Sein Roman Die Abschaffung der Arten (2008) war für den deutschen Buchpreis nominiert und hat den Kurd-Laßwitz-Preis erhalten. 2013 hat Dath eine Gastdozentur zur Phantastik und den Spekulativen Künsten am Institut für Angewandte Theaterwissenschaften der Justus-Liebig-Universität Gießen.

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