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Vom Verrinnen der Zeit in der absoluten Gegenwart

Marcus Quent

Verrinnen der Zeit und Glaube an die Welt

Veröffentlicht am 10.12.2017

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Es war Gilles Deleuze, der in verschiedenen Zusammenhängen betont hat, dass es der »Glaube an die Welt« sei, der uns am meisten fehle. Die eigentümliche Bemerkung taucht beispielsweise in einem Gespräch über das revolutionäre Werden und die politische Kraft der Minoritäten auf, das der italienische Marxist Antonio Negri im Frühjahr 1990 mit dem französischen Philosophen geführt hat. In dem Dialog beleuchtet Negri das Denken seines Gesprächspartners Deleuze ausgehend vom »Problem des Politischen«, das zwischen den verschiedenen Stationen seiner intellektuellen Biografie einen Zusammenhang stifte. Deleuzes Bemerkung ist dort zugleich die Reprise eines Motivs, das dem Leser des zweiten Kino-Buchs, das 1985 erschienen ist, bereits vertraut sein dürfte. Dort behauptet Deleuze, die »Macht des modernen Kinos« sei in seiner Fähigkeit begründet, uns den verlorenen Glauben an die Welt »zurückzugeben«.

Am Ende des Gesprächs befragt Negri seinen Dialogpartner zur Möglichkeit von Subjektivierungsprozessen in der Gegenwart. Nachdem er in seiner Antwort zunächst die »rebellische Spontaneität« solcher Prozesse hervorhebt, äußert Deleuze in einem Akt, der mit dieser Form der Spontaneität in Verbindung steht, schließlich den folgenden Satz: »Der Glaube an die Welt ist das, was uns am meisten fehlt; wir haben die Welt völlig verloren, wir sind ihrer beraubt worden.« Im Zusammenhang des Gesprächs nimmt der Satz den Charakter einer seltsamen gedanklichen Eskapade an. Die Äußerung, die das Fehlen eines Glaubens beklagt, einen Verlust oder Raub der Welt feststellt, ohne dabei zwischen beiden ein eindeutiges Verhältnis der Kausalität herzustellen, bildet ein gedankliches Einsprengsel, das in einem gewissen Sinn unvermittelt bleibt, sich der Einordnung entzieht, weil es weder durch das zuvor Gesagte vorbereitet wird noch einen neuen Gedankengang einleitet.

Lässt man für einen Moment die Reizreaktionen außer Acht, die diese Bemerkung bei vielen Kommentatoren hervorgerufen hat, und lässt man darüber hinaus auch für einen Moment die Irritation beiseite, die dadurch entstehen mag, dass die Instanz des Glaubens hier affirmativ besetzt und gerade dort ins Spiel gebracht wird, wo es um eine diesseitige und innerweltliche Praxis der Veränderung geht, kann man versuchen, den Gedanken weiter zu treiben, ihn in unsere Gegenwart zu verlängern.

Wenn der »Glaube an die Welt« fehlt, wenn man die Welt verloren hat oder ihrer beraubt wurde, so ist alles, was in einem solchen Zustand des Unglaubens übrigbleibt, das Verrinnen der Zeit. Das Verrinnen der Zeit, das heute mehr und mehr zu sich selbst zu kommen scheint, sich seiner Vollendung zuneigt, ist ein Prozess, der von den Einzelnen als undurchsichtiges und widersprüchliches Geschehen...

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Marcus Quent

studierte Philosophie und Theaterwissenschaft in Leipzig und Wales, UK. Er ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität der Künste Berlin. Zuletzt erschien sein Buch Kon-Formismen. Die Neuordnung der Differenzen (2018). Er ist zudem u.a. Herausgeber der Bücher Absolute Gegenwart (2016) und Das Versprechen der Kunst (2014, mit Eckardt Lindner).
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