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Guy Debord war der Christus der ­Avantgarde

Mehdi Belhaj Kacem

Grabmal für Guy Debord

Übersetzt von Michael Heitz

Veröffentlicht am 11.07.2019

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Guy Debord war der Christus der Avantgarde, geopfert für seine Ideologie, die er wie kein anderer an ihre äußersten Grenzen getrieben, deren Möglichkeiten er alle ausgeschöpft, deren Sackgassen er sämtliche abgeschritten hat. Angesichts seiner maßlosen Ansprüche konnte es dabei weder Erfolg noch Scheitern geben. Seine Wegstrecke kann heute nur nach dem beurteilt werden, was uns nach dem Tod der Avantgarden aufgegeben bleibt.

Um es mit Reiner Schürmann zu sagen: Die Wahrheit ist ein »Konflikt ohne Übereinkunft«. Und es liegt an den unüberwindbaren Widersprüchen des Guy-Ernest Debord, dessen existenzielle, ethische und politische Obsessionen ein makelloses Ganzes bilden, dass wir die uns aufgegebene Wahrheit zu suchen haben. Guy Debord war der Marathonmann in den Sackgassen der Avantgarde. Von daher ist sein Weg, der gewundener und vertrackter war, als seine Radikalität es auf den ersten Blick erkennen ließ, prägend für alles, was Avantgarde gewesen sein wird. Will man verstehen, warum die Gespenster der Avantgarde nicht aufhören uns heimzusuchen, dann muss man sich den »Fall Debord« immer wieder von neuem vornehmen.

Aus dem Bürgertum stammend, aber enterbt, der Seele nach Aristokrat, und doch als arbeitsloser Alkoholiker in schäbigen Bars herumhängend, vertrat er stets die Sache des Proletariats, dem er einzig unter dem Prädikat »Lumpen« angehörte. »Arbeiten« wollte er nicht, doch gab er alles für eine stachanowistische Arbeit des Negativen (»Ich würde einen exzellenten Profi abgeben, doch auf welchem Gebiet?«). Wie alle Avantgardisten, mehr noch als alle anderen, war er ein Verfechter einer Tabula rasa, und doch machte er gerade das »Détournement«, die Entwendung, Zweckentfremdung zur Hauptwaffe des Situationismus: Alles ist wiederverwendbar. Man erschafft mit nichts als mit Resten. Mit einer Sprache, die es mit den Gipfeln der französischen Prosa des 17. Jahrhundert (Bossuet, Pascal) aufnehmen konnte; entlang von Kunst und Dichtung, doch – so nicht als veraltet erklärt – einzig im Licht ihrer aktuellen Bedeutung; in der Gestalt des Kinos (in seinen Filmen gibt es so gut wie kein »Originalbild«); in Form von Comics (Hegel als Besitzer einer Spelunke).

Die Sprache Debords also. Weder Joyce noch Artaud noch Guyotat finden Gnade vor seinem Blick. Die Revolution des täglichen Lebens geht bei ihm mit einem hochmütigen Konservatismus einher, der in der Sprache wirksam wird. An die Prosa rührt Debord nicht (so wie Mallarmé im Zusammenhang mit dem »Fall Hugo« sagen wird: »Wir haben an den Vers gerührt«, an dessen Pulverisierung er sich sodann machen wird). Die Zerstörung war seine Beatrice, und doch bestand die...

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Mehdi Belhaj Kacem

Mehdi Belhaj Kacem

ist ein tunesisch-französischer Autor und Philosoph. Bereits mit 20 Jahren schrieb er seinen ersten Roman Cancer. Schon vor dem Erscheinen seines zweiten Romans 1993  begann er sich der Philosophie zuzuwenden und veröffentlichte in den letzten Jahren zahlreiche, kontrovers diskutierte Essays. Auf Deutsch sind u.a. erschienen: Artaud und die Theorie des Komplotts (2017), Protreptikos zur Lektüre von ›Sein und Sexuierung‹ (2012), Inästhetik und Mimesis (2011). ­Gemeinsam mit Jean-Luc Nancy ist er Herausgeber der neuen Reihe ­­anarchies bei DIAPHANES.