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Friedrich Schleiermacher: Gelegentliche Gedanken über Universitäten in deutschem Sinn
Gelegentliche Gedanken über Universitäten in deutschem Sinn
(S. 59 – 79)

Friedrich Schleiermacher

Gelegentliche Gedanken über Universitäten in deutschem Sinn


[…]


3. Nähere Betrachtung der Universität im Allgemeinen.


Die Vergleichung der Universität mit den Schulen und Akademien hat uns ihren wesentlichen Charakter gezeigt, vermöge dessen sie nothwendig in die Mitte tritt zwischen beide, daß nemlich durch sie der wissenschaftliche Geist in den Jünglingen soll gewekt, und zu einem klaren Bewußtsein gesteigert werden. Und dies haben wir fast ohne Beweis, wie es denn höchst anschaulich ist für sich, hinzugenommen, daß hiezu die formelle Speculation allein nicht hinreiche, sondern diese gleich verkörpert werden müsse in dem realen Wissen. Auch genügt hiezu nicht etwan eine beliebige Auswahl von Kenntnissen, wie auf Schulen zur gymnastischen Uebung. Denn der wissenschaftliche Geist ist seiner Natur nach systematisch, und so kann er unmöglich in einem Einzelnen zum klaren Bewußtsein gedeihen, wenn ihm nicht auch das Gesammtgebiet des Wissens wenigstens in seinen Grundzügen zur Anschauung kommt. Noch weniger können sich in den Einzelnen der allgemeine Sinn und das besondere Talent vereint zu einem eigenthümlichen intellectuellen Leben ausbilden, wenn nicht auf der Universität Jeder dasjenige findet, was sein besonderes Talent anregen kann. Die Universität muß also alles Wissen umfassen, und in der Art, wie sie für jeden einzelnen Zweig sorget, sein natürliches inneres Verhältniß zu der Gesammtheit des Wissens, seine nähere oder entferntere Beziehung auf den gemeinschaftlichen Mittelpunkt ausdrükken. Nur Eine Abweichung hievon, scheint es, kann man gestatten, daß nemlich dasjenige überwiegend hervorgezogen werde, wohin sich überhaupt das Talent der Nation vorzüglich neigt; eine Abweichung, die sich auch nur in den der Akademie sich nähernden Veranstaltungen der Universität zeigen dürfte.


So müßte es sein, wenn ohne fremden Einfluß der wissenschaftliche Trieb allein die Universitäten errichtete und ordnete. Sehen wir aber, wie sie sind, so finden wir alles ganz anders. Wissenschaftlich angesehen erscheint das meiste höchst unverhältnißmäßig, dem unbedeutenden ein großer Raum vergönnt, vieles, was an sich gar nicht zusammenzugehören scheint, äußerlich verbunden, wichtiges dagegen verkürzt, oder noch ganz neu aussehend, als ob es erst hinzugekommen wäre, vieles auch so behandelt, als wäre es gar nicht für die bestimmt in denen wissenschaftlicher Geist sich entwikkeln will, sondern für die, denen er ewig fremd bleiben muß.


Offenbar geht dieser Geist nicht in Jedem auch nicht in allen denen auf, die wol fähig und geneigt sind eine schöne Masse von Kenntnissen zu sammeln, und in gewissem Sinne zu verarbeiten. Deshalb soll schon die gelehrte Schule nur eine Auswahl junger Naturen in sich fassen, und aus diesen selbst wiederum nur eine Auswahl zur Universität senden; allein weil...

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Friedrich Schleiermacher

war protestantischer Theologe, Altphilologe, Philosoph, Publizist, Staatstheoretiker, Kirchenpolitiker und Pädagoge. Er gilt als Begründer der modernen Hermeneutik und zählt in vielen Disziplinen als bedeutendster Autor seiner Zeit.

Unbedingte Universitäten (Hg.): Was ist Universität?

Der Band versammelt Essays, Positionen und Untersuchungen aus zwei Jahrhunderten, die auf je eigene Weise einen Begriff von Universität zu denken versuchen: Material, aus dem es Standpunkte zu formen gilt, um Widerstand zu leisten gegen die bedrohliche Vereinnahmung der Universität im Kampf um ihre Bestimmung. Material, weder kanonisch noch einer historischen Ideengeschichte verpflichtet, und daher ohne Anspruch auf Vollständigkeit. In der Radikalität von Analyse, Kritik und eigener Neubestimmung bieten sich dem Leser heterogene Positionen und entscheidende Gedanken, die hilfreich sind, um für die heute dringend erforderliche Reaktion auf die Veränderung des Hochschulwesens bereit zu sein.

Inhalt
  • 7–9

    Vorbemerkung

  • 11–16

    Postskriptum über die Kontrollgesellschaften

    Gilles Deleuze

  • 17–26

    An das Seminar

    Roland Barthes

  • 27–45

    Deducirter Plan einer zu Berlin zu errichtenden höheren Lehranstalt

    Johann Gottlieb Fichte

  • 47–57

    Das Leben der Studenten

    Walter Benjamin

  • 59–79

  • 81–86

    The Emancipated Spectator. Ein Vortrag zur Zuschauerperspektive

    Jacques Rancière

  • 87–93

    An Albrecht Schöne

    Peter Szondi

  • 95–103

    Über die innere und äußere Organisation der höheren wissenschaftlichen Anstalten in Berlin

    Wilhelm von Humboldt

  • 105–120

    Die posthistorische Universität

  • 123–132

    Die Bildung des wissenschaftlichen Geistes

    Gaston Bachelard

  • 133–154

    Vorlesungen über die Methode des akademischen Studiums

    Friedrich Wilhelm Joseph Schelling

  • 155–178

    Der Widerstand gegen die Theorie

    Paul de Man

  • 181–184

    Notiz über Geisteswissenschaft und Bildung

    Theodor W. Adorno

  • 187–196

    Die unbedingte Universität

    Jacques Derrida

  • 197–229

    Über die Universitäts-Philosophie

    Arthur Schopenhauer

  • 231–247

    Ein Appell an diejenigen, die mit der Universität zu tun haben im Hinblick darauf, eine andere aus ihr zu machen

    Gérard Granel

  • 249–269

    Vom lebendigen Geist der Universität

    Karl Jaspers

  • 273–279

    Die politische Funktion des Intellektuellen

    Michel Foucault

  • 281–293

    Rundfunkgespräch mit Adorno über die »Unruhe der Studenten«

    Peter Szondi

  • 295–300

    SDS-Hochschuldenkschrift. Hochschule und Gesellschaft

  • 301–307

    Präambel zu einer Charta

    Jean-François Lyotard

  • 311–330

    Der Schauplatz des Lehrens

  • 331–338

    Zum Studium der Philosophie

    Theodor W. Adorno

  • 339–342

    Junge Forscher

    Roland Barthes