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Hinter einem Gemälde in der Antike steckt immer ein Buch

Pascal Quignard

Die römische Malerei

Aus: Sexualität und Schrecken, S. 45 – 66

In einem Dialog Xenophons erkundigt sich Sokrates bei Parrhasios über das Wesen der Malerei. Sokrates wurde 399 v.u.Z. zum Tode verurteilt und hingerichtet. Xenophon verfasste die Memora­bilia um 390 v.u.Z. in Skillus.


Eine Tages betrat Sokrates in Athen das Atelier des zographos Parrhasios. Zographos ist das griechische Wort für Maler (der­jenige, der lebendig schreibt). Auf Latein heißt es artifex (derjenige, der Kunst, ein künstliches Werk – artificialis – herstellt).


„Sag, Parrhasios“, begann Sokrates, „ist nicht die Malerei ­(grafike) eine Abbildung der Dinge, die man sieht (eikasia ton oromenon)? Bildet ihr nicht Vertiefungen und Erhebungen, Helles und Dunkles, Hartes und Weiches, Unebenes und Glattes, Jugend und Alter des Körpers mit Hilfe der Farben nach?“


„Ganz recht“, antwortete ihm Parrhasios.


„Und wenn ihr nun wirklich schöne Gestalten darstellen wollt (kala eide), so fügt ihr, da es nicht leicht ist, einen Menschen zu finden, an dem alles tadellos ist, von mehreren zusammen, was an jedem das Schönste ist. Daraus schafft ihr dann einen Körper, der vollkommen schön ist?“


„In der Tat, so machen wir es“, sagte Parrhasios.


„Wie aber“, rief Sokrates aus, „ahmt ihr nach, was am lieb­reizendsten ist, was am meisten berührt, was am angenehmsten, am überzeugendsten und am begehrenswertesten ist, nämlich den Ausdruck der Seele (to tes psyches ethos)? Oder kann man es überhaupt nicht nachbilden (mimeton)?“


„Wie sollten wir es denn nachbilden, Sokrates?“, erwiderte Parrhasios. „Die Seele hat weder Gleichmaß (symmetrian) noch Farbe (chroma) noch sonst eine der Eigenschaften, die du soeben genannt hast. Sie ist nicht sichtbar (oraton).“


„Aber“, wandte Sokrates ein, „erlebt man nicht immer wieder, dass Menschen einen manchmal freundlich und ein anderes Mal feindselig (blepein) anblicken?“


„Das mag schon richtig sein“, erwiderte Parrhasios.


„Lässt sich dies nicht durch den Ausdruck der Augen ­(ommasin) nachbilden?“


„Aber sicher“, sagte Parrhasios.


„Und sind die Gesichter (ta prosopa) von Freunden, die am Glück oder Unglück eines Menschen Anteil nehmen, dieselben wie die Gesichter derer, die sich nicht darum kümmern?“


„Bei Gott, nein!“, sagte Parrhasios. „Beim Glück strahlt die Freude auf dem Gesicht. Beim Unglück legt sich ein Schatten über den Blick (skythropoi).“


„Man kann diese Blicke also nachbilden (apeikazein)?“, fragte Sokrates.


„Aber sicher“, antwortete Parrhasios.


„Sollen im Gesicht (prosopou) und an den Körperhaltungen (schematon), die die Menschen zeigen, wenn sie stehen oder sich bewegen, nicht Erhabenes und Edles, Demut und Unterwürfigkeit, Mäßigung und rechtes Maß, das Übermaß (hybris) und auch das, was keine Vorstellung von Schönheit (apeirokalon) hat, durchscheinen (diaphainein)?“


„Ganz recht“, sagte Parrhasios.


„Dann müssen also auch diese Dinge nachgebildet werden (mimeta)“, sagte Sokrates.


„Aber sicher“, erwiderte Parrhasios....

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Pascal Quignard

Pascal Quignard

geboren 1948, zählt zu den renommiertesten Gegenwartsautoren Frankreichs. Er ist Verfasser eines bedeutenden literarischen Werks aus über dreißig Romanen, Erzählungen und Essays, das in viele Sprachen übersetzt wurde, in Deutschland bislang jedoch weitgehend unbeachtet blieb. Ebenso innovativ wie erfolgreich bedient er immer wieder das historische Genre. Sein Roman »Tous les matins du monde« (dt.: »Die siebente Saite«) lieferte das Buch zu Alain Corneaus gleichnamigem Film. Aufgewachsen in Le Havre in einer Musikerfamilie, lebt Pascal Quignard heute fernab vom Pariser Literaturbetrieb in der Normandie und verfolgt unverbrüchlich sein schriftstellerisches Projekt, das sämtliche Gattungen sprengt und die Gewalt der fernsten Vergangenheit zu unserer nächsten macht.

Weitere Texte von Pascal Quignard bei DIAPHANES
Pascal Quignard: Sexualität und Schrecken

Pascal Quignard

Sexualität und Schrecken

Übersetzt von Holger Fock und Sabine Müller

Gebunden, 320 Seiten

PDF, 320 Seiten

Einen unbegreiflichen Umschwung gilt es zu verstehen: von der fröhlichen Erotik des helllichten Tages, die im alten Griechenland gefeiert wurde, zur Verbannung des sexuellen Akts ins Dunkle, Angsterfüllte, Verborgene bei den Römern. Wo ließe sich dem besser nachspüren als in Pompeji – dort, wo der Schrecken von Erdstößen und glühender Lava uns im Augenblick des Todes das faszinierende Bild des Zusammenstoßes dieser beiden Zivilisationen erhalten hat?


Ausgehend von den verstörenden Fresken in Pompeji erzählt Pascal Quignard eine Geschichte über den Tod, die antike Malerei und den abendländischen Sex, die zu einer ganz neuen Sichtweise auf die römische Welt gelangt: als Ursprung des Ekels, des Grauens, der Melancholie und des Puritanismus.