Tiere stehen im Unterwasserzirkus für Tiere: und zwar Fische für Säuger.
In Disneys Gesamtwerk stehen Tiere für Menschen.
Es ist dieselbe Tendenz: eine Wandlung, eine Verschiebung, ein eigenartiger Protest gegen die metaphysische Unbeweglichkeit des ein für alle Mal Gegebenem.
Bezeichnenderweise ist eine derartige ›Flucht‹ in die Tiergestalt und die Vermenschlichung von Tieren offensichtlich charakteristisch für viele Epochen, in deren Gesellschaftssystem oder in deren Philosophie besonders wenig Menschlichkeit zu spüren ist, sei es das amerikanische Maschinenzeitalter in seiner Wirkung auf Lebensweise, Existenz und Moral – oder die Epoche … der mathematischen Abstraktion und der Metaphysik in der Philosophie.
Dabei ist interessant, dass eines der kraftvollsten Beispiele für die Renaissance des Tierepos ausgerechnet vom Zeitalter der systematisierten Metaphysik, dem 17. Jahrhundert, beigesteuert wird. Genauer gesagt: dem 18. Jahrhundert, das unter dem Zeichen ihrer Überwindung verlief.
»[…] Je weiter das siebzehnte Jahrhundert ins achtzehnte hinüberwächst, desto strenger werden die Regeln. Die Sprache wird immer verfeinerter, das Hübsche tritt an die Stelle des Schönen, das Etikett legt die kleinste Geste und die Konversation fest; ein Regelwerk bestimmt, wie man Platz nimmt und wie man sich kleidet, wie man eine Tragödie schreibt und wie man eine Rede hält, wie man zu kämpfen und zu lieben, zu sterben und zu leben hat: Die Literatur wird zu einer Maschine, die Phrasen ausstößt, und der Mensch zur Puppe, die sich verbeugt. Es scheint, dass Rousseau als erster die Natur entdeckt hätte, als er gegen die Begrenztheit dieses künstlichen Lebens in seinen Reden rebellierte; La Fontaine hat die Natur vor ihm erkannt, jedoch ohne zu rebellieren und zu deklamieren […]« Hippolyte Adolphe Taine, La Fontaine et ses fables (1853), Paris, Libraires Hachette, 1870 [übersetzt ins Russische von Eisenstein].
Was Rousseau in offener Polemik vertrat und in Losungen formulierte, hatten La Fontaines Werke vor ihm durch das künstlerische Bild und die Form getan: »Er verteidigte seine Tiere gegen Descartes, der aus ihnen Maschinen gemacht hatte. Er gestattete es sich nicht, zu philosophieren wie die Akademiker, sondern schlug schüchtern vor, ja bat bescheiden um die Erlaubnis, Ratten und Kaninchen zu ihrem Gebrauch à l’usage eine Seele erfinden zu dürfen.« Mehr noch: »Ähnlich wie Vergil bemitleidet er Bäume und schließt auch sie nicht vom allgemeinen Leben aus. ›Die Pflanze atmet‹, sagt er. Während die künstliche Zivilisation die Bäume von Versailles zu Kegeln und anderen geometrischen Körpern beschnitt, wollte er ihrem Grün und ihren Sprössen die Freiheit erhalten […]«1
Seelenloser Geometrismus und Metaphysik bringen so als Antithese die überraschende Renaissance des allgemeinen Animismus hervor.
Einen Animismus, in dem die Vorstellung und das Empfinden einer inneren Verbundenheit aller Elemente und Bereiche in der Natur schlummert, lange bevor die Wissenschaft die Anordnung dieser Beziehungen in ihrer Abfolge und stufenweisen Entwicklung enträtselt hat. Parallel dazu verlief die objektive Erkenntnis der Natur, die uns umgibt.
Bis dahin kannte die Menschheit keinen anderen Weg, als der Umgebung die eigene Seele zu verleihen und über sie – analog zur eigenen Seele – zu urteilen.
Das [künstlerische] Bild des Menschen in Gestalt eines Tiers.
Das ist der buchstäblichste Ausdruck jeglicher Poetisierung, jeglicher Form: Form und Inhalt auf verschiedenen Stufen!
»Die Form« des Tiers bedeutet einen Schritt zurück auf der Evolutionsleiter, bezogen auf den »Inhalt« – den Menschen!
In der Psychologie (»Wecke nicht das Tier in mir«, d. h. wecke keine Urtriebe) hatte das immer Gültigkeit.
Hier [im Tierepos] wurde das an die Oberfläche geholt und ist fühlbar geworden.
Totemismus und Darwinismus – die Abstammung vom Tier!
Wenn man so will, ist die Idee der animated cartoons an sich eine direkte Realisierung der Methode des Animismus. Die momentane Belebung und Beseelung eines toten Gegenstandes, die wir rudimentär bewahren, wenn wir über einen Stuhl stolpern und ihn ausschimpfen wie ein lebendiges Wesen, oder die Langzeit-Belebung, mit der der Urmensch die tote Natur beschenkt.
So hängt das, was Disney macht, mit den Tiefenstrukturen menschlicher Psyche zusammen.
NB. Hierher die Abbildung aus Ataschewas Buch geben, wo die Sicherheitsnadeln animiert sind etc.2
Webster:
Animal – L fr. anima breath, soul.
Animate – L animatus p.p. of animare, fr. anima, breath, soul, akin to animus soul, mind.
Greek άνεμος wind.
Sanskrit an to breath, live.
L to give natural life to, to make alive, to quicken, as the soul animates the body.
Animated picture.
Animism L anima soul … the belief that all objects possess natural life or vitality or that they are endowed with indwelling souls. The term is usually employed to denote the most primitive and superstitious forms of religion …
[»Animal – das lat. gebräuchliche anima – Atmen, Seele …, verwandt dem lat. animus – Seele, Verstand.
Griech. άνεμος – Wind.
Sanskrit anima – atmen, leben … Natürliches Leben verleihen, beleben, ähnlich wie die Seele den Körper belebt …
Belebtes Bild.
Animismus – von lat. anima – Seele. Der Glaube daran, dass alle Gegenstände ein natürliches Leben oder Lebenskraft haben und sie alle mit einer inneren Seele ausgestattet sind. Dieser Begriff wird gewöhnlich zur Bezeichnung primitivster und abergläubischster Religionsformen gebraucht.«]
In Snow White schaut die böse Königin in das Feuer, und eine Gestalt aus dem Feuer prophezeit ihr und erzählt über Schneewittchen (zu Moses, Buddha, Zoroaster).
Was ist das, wenn nicht die Rückkehr zum »Stadium« [des früheren Denkens]?
Die Unmöglichkeit [dieser Rückkehr] ist im Leben tragisch. Dargestellt als realisiert, wirkt sie komisch – wie ein Greis in Windeln.
Hyperion stürzt ins Feuer.3
[D. H.] Lawrence und Tiere bei ihm.
Aber T[aine] macht einen weiteren Schritt: Er macht zu Thesen das, was jeder emotional empfindet.
Ein lyrisches Intermezzo.
Revenons à la nature [Zurück zur Natur]. Zitat.
Nicht zufällig entsteht hier die Magie der Faszination und wie nah zu Disney. Zusammenfassen.
Weil er mit allen seinen Mitteln und Verfahren, wie wir es vorher gesehen hatten, mit Animismus, mit Tieren und Pflanzen, wie wir jetzt sehen, uns zur Rückkehr in jene Epoche auffordert, die nicht [die Trennung von der Natur] kannte etc. […]
Eine belebte Zeichnung ist die unmittelbarste Realisierung des … Animismus! Etwas offensichtlich Totes, die Zeichnung, wurde belebt – animiert – animated.
Die Zeichnung an sich ist – unabhängig vom Gegenstand der Abbildung! – zum Leben erweckt worden.
Doch untrennbar davon ist auch das Sujet, der Gegenstand der Abbildung, belebt worden: Tote Gebrauchsgegenstände, Pflanzen und Tiere sind beseelt und vermenschlicht.
Der Prozess einer mythologischen Personifizierung von Naturerscheinungen (Wald durch Waldgeist, Haus durch Hausgeist etc.) – nach menschlichem Vor- und Ebenbild kommt in Gang.
Ein plötzlicher Schreck – der Mensch stößt sich in der Dunkelheit an einem Stuhl – führt dazu, dass er ins sinnliche Denken zurückfällt: Er schimpft den Stuhl aus, als sei dieser ein lebendiges Wesen.
So erlebt, wer den Stuhl als lebendiges Wesen, den Hund als Menschen sieht, den Zustand der psychischen Verschiebung, des Schocks, eines ›Wonnegefühls‹ des sinnlichen Stadiums.
Die optisch-akustische Synästhetik ist offensichtlich und spricht für sich.
Ich bediene mich der Definition Wesselowskis aus dem Aufsatz »Psychologischer Parallelismus und seine Formen im Spiegel des poetischen Stils« (NB. Über Parallelismus polemisiere ich gegen Wesselowski an anderer Stelle, hier nutze ich lediglich das von ihm zur Illustration angeführte Faktenmaterial und unstrittige Grundsätze):
»Der Mensch eignet sich die Gestalten der Außenwelt in den Formen seines Bewusstseins an; insbesondere der Urmensch, der sich noch keine Gewohnheiten abstrakten, nichtbildlichen Denkens erarbeitet hat, obwohl auch letzteres nicht ohne einen gewissen Grad an Bildhaftigkeit auszukommen vermag. Wir übertragen auf die Natur unser eigenes Lebensempfinden, das in Bewegung und vom Willen gesteuerter Kraftäußerung zum Ausdruck kommt; in jenen Erscheinungen und Objekten, in denen der Mensch Bewegung beobachtete, vermutete er Anzeichen von Energie, Willen, Leben. Diese Weltanschauung nennen wir animistisch.« (»Istoritscheskaja Poetika«, S. 125)
(Die auf ein partizipierendes Bewusstsein bezogene Definition von Lévy-Bruhl und andere Definitionen, die vom undifferenzierten Bewusstsein ausgehen, das ein undifferenziertes soziales Milieu widerspiegelt, gefallen mir besser. Beispiele anführen.)
Diese Betrachtung der Welt »beruht auf dem Vergleich Subjekt–Objekt nach der Kategorie der Bewegung« (NB. Einen »Vergleich« gibt es noch nicht. Weil es noch keine Differenzierung in Subjektives und Objektives gibt. Hierher rührt auch die »Beseelung« der Natur: Ich und die Natur sind ein und dasselbe, später identisch, noch später einander ähnlich. Bis zum Stadium des Empfindens der Verschiedenheit wirkt all das auf die Beseelung der Natur, auf den Animismus hin. Diesen Gedanken muss man deutlich herausstellen und prinzipiell ausfeilen.)
»[…] nach der Kategorie der Bewegung, der Handlung als Merkmal willensgesteuerter Tätigkeit. Als Objekte fungierten natürlich Tiere; sie erinnerten am meisten an den Menschen: Hier liegen die tieferen psychologischen Ursprünge für Tier-Apologs; doch auch Pflanzen wiesen Ähnlichkeiten auf: Sie wurden geboren und verblühten, grünten und beugten sich im starken Wind. Die Sonne schien sich ebenfalls zu bewegen, aufzusteigen und zu versinken, der Wind trieb die Wolken, der Blitz raste, das Feuer umarmte, fraß die Äste usw. Die anorganische, reglose Welt wurde unwillkürlich in diese Reihe einbezogen … sie lebte genauso …« (S. 126)
Disneys bewegliche Zeichnung heißt im Englischen … animated cartoon.
In dieser Bezeichnung vereinten sich zwei Begriffe: »Beseelung« (anima – Seele) und »Bewegung« (animation – Belebung, Munterkeit).
Und tatsächlich: die Zeichnung wird »durch Bewegung belebt, beseelt.«
Sogar dieser Grundsatz der Untrennbarkeit von Beseelung und Bewegung ist zutiefst »atavistisch« und entspricht ganz dem sinnlichen Denken.
Ich selbst habe, ausgehend von nordischen Mythen, über diese Einheit geschrieben – im Zusammenhang mit den göttlichen Funktionen, die die nordische Welt dem Gottvater Odin-Wotan zuschrieb, jenem Produkt der »Beseelung« der Naturkräfte.
In meinem Aufsatz »Realisierung eines Mythos« schrieb ich anlässlich der Inszenierung von Wagners Walküre (Zeitschrift Teatr, Oktober 1940, Nr. 10):
[»Wotan ist das Element Luft überlassen … Doch da die Wahrnehmung dieses Elements nur in der Bewegung möglich ist, verkörpert Wotan zugleich auch die Bewegung, Bewegung schlechthin. Diese Bewegung umfasst alle Arten – vom leisesten Hauch des Windes bis zum alles vernichtenden Orkan.
Aber das die Mythen hervorbringende Bewusstsein kennt keinen Unterschied zwischen wörtlichem und übertragenem Sinn. Wotan, die Personifizierung der Bewegung schlechthin und vor allem der Naturkräfte, verkörpert gleichzeitig die gesamte Skala der Seelenbewegungen: zärtliche Gefühle der Verliebten und die lyrische Inspiration des Dichters und Sängers, der Kampfeifer der Krieger und die tapfere Tollheit der Helden vergangener Zeiten.«]4
Aus genau demselben Prinzip folgt: Was sich bewegt, ist also beseelt, das heißt angetrieben von einem inneren, selbständigen Willensimpuls.
Bis zu welchem Grad wir demselben Phänomen – nicht rational-logisch, sondern mit unserem sinnlichen Empfinden – unterliegen, kann man an der Wahrnehmung der »lebendigen« Zeichnungen Disneys ablesen.
Wir wissen doch, dass es Zeichnungen sind und keine lebendigen Wesen.
Wir wissen doch, dass es die Projektion von Zeichnungen auf die Leinwand ist.
Wir wissen doch, dass es »Wunder« und technische Tricks sind, dass es derartige Wesen auf der Erde nicht gibt.
Und davon untrennbar
empfinden wir sie als lebendige,
empfinden wir sie als handelnde,
empfinden wir sie als existierende und sogar denkende Wesen!
Die »Animisierung« von unbeweglichen natürlichen Objekten, Gebrauchsgegenständen, Landschaftslinien usw. hat ihren Ursprung in demselben Vorstellungskreis desselben Denkstadiums.
Das Auge des Betrachters (des Subjekts) überfliegt, »schreitet« das zu Beobachtende (das Objekt) »ab«. In diesem Ausdruck ist ein früheres Stadium aufgehoben, als das »Umfassen« eines Gegenstandes mit den Armen und, wenn die Arme nicht reichten, das »Abschreiten« um den Gegenstand mit den Beinen erfolgte. Später konzentrierte sich dieser Prozess im »Erfassen« mit einem Blick, der den Gegenstand überfliegt.
Der Unterschied zu dem vorherigen Beispiel besteht darin, dass hier das Subjekt (Auge), den Umrissen des Objekts (Gegenstand) folgend, sich bewegt, das Objekt selbst (der Gegenstand) sich im Raum jedoch nicht bewegt.
Bekanntlich gibt es in diesem Entwicklungsstadium noch keine Abgrenzung des Subjektiven vom Objektiven. Die Bewegung des Auges, das die Linie eines Gebirgskamms überfliegt, kann ebenso als Flug dieser Linie selbst wahrgenommen werden.
Der Blick verliert sich in der Weite des Weges, und das wird genauso wahrgenommen wie ein Weg, der sich in der Weite verliert.
Auf diese Weise wird in der sprachlichen Metapher folgender Prozess fixiert, wobei die sprachliche Metapher selbst Produkt dieses Prozesses ist und als Abdruck eines Denkstadiums im Sprachmaterial existiert: In einer Reihe von Fällen werden die Handlungen des eigenen Auges (das im übertragenen Sinn die Handlungen des ganzen Menschen auf sich, also auf einen Teil des Menschen, genommen hat) dem Objekt der Betrachtung »animistisch« zugeschrieben.
Hier ein paar Beispiele von Wesselowski, die ich bei der Hand habe (»Istoritscheskaja Poetika« S. 127):
»…Un parc immense grimpait la côte«
(Daudet, L’évangéliste, ch. VI)
[Ein riesiger Park erkletterte den Hügel (Der Evangelist, Kapitel VI)]
»Behaglich streckte dort das Land sich
In Eb’nen aus, weit, endlos weit …
…
Hier stieg es plötzlich und entschlossen
Empor, stets kühner himmelan …«
(Lenau, »Wanderung im Gebirge«)
»Sprang über’s ganze Heideland
Der junge Regenbogen …«
(Ders., »Die Heideschänke«)
»Doch es dunkelt tiefer immer
Ein Gewitter in der Schlucht
Nur zuweilen übers Tal weg
Setzt ein Blitz in wilder Flucht.«
(ders., »Johannes Ziska«)
»Fernhin schlich das hagre Gebirg, wie ein wandelnd Gerippe,
Streckt das Dörflein vergnügt über die Wiesen sich aus …«
(Hölderlin, »Der Wanderer«)
»Der Himmel glänzt in reinem Frühlingslichte,
Ihm schwillt der Hügel sehnsuchtsvoll entgegen …«
(Mörike, »Zu viel«).5
Der Prozess der Metaphernbildung ist ganz offensichtlich.
Das Auge »steigt empor«, »streckt sich«, »springt über«. Der ganze Akt des »Emporsteigens«, des »sich-Streckens«, des »Überspringens« eines ganzen Menschen wird nach einem Merkmal der Bewegung, nach deren Schema, Rhythmus, Zeichnung, rekonstruiert – nach dem Prinzip pars pro toto.
Dank der Identität zwischen Subjekt und Objekt, dank der Untrennbarkeit des einen vom anderen in diesem Stadium des Denkens, werden all diese Bewegungen und Handlungen der Landschaft, einem Hügel, einem Dörflein, einem Gebirge zugeschrieben.
Eine solche motorische Metapher ist der älteste Metapherntyp, ein unmittelbar motorischer, genauso wie Wotan, der Vater der Götter, die Personifizierung der Bewegung war. Die Über-tragung ist ein späterer Prozess, der sich nur dank diesem, ihm vorausgehenden früheren Zustand (affektive Identität – Identität im Affekt) verwirklichen und wirksam werden konnte.
Die »Verb«metapher ist Handlungsmetapher, Prozessmetapher, aber keine Gegenstandsmetapher.
Sie ist nicht objektiv visuell, noch weniger aber will sie »das eine mit dem anderen vergleichen« (etwa zwei objektive Erscheinungen, was erst in einem späteren Stadium erfolgt), sie ist eher motorisch, subjektiv spürbar par excellence.
Das ist so zutreffend, dass beispielsweise Chamberlain (Goethe, München, F. Bruckmann, 1912) diesen Vergleichstyp ›übersieht‹.6 Er meint etwa, für Goethe, für dessen realistischen Genius, sei das Vermeiden metaphorischer Vergleiche charakteristisch. Zum Beweis führt er »Still ruht der See« an und stellt seine nichtmetaphorische Strenge der Üppigkeit metaphorischer Vergleiche eines Wieland’schen Sonnenuntergangs gegenüber.
Dabei bemerkt er gar nicht, dass es bei Goethe eine Fülle von Verbmetaphern gibt. Eine Fülle von ursprünglichen, tiefen und deshalb am meisten sinnlich anregenden, die obendrein wenig objektiv »visuell« sind, eher körperlich, in der Muskulatur über die Nachahmung der Bewegung spürbar werden, also »vorbei« (russ. »mimo«) an den visuell wahrnehmbaren (das russische »mimo« bedeutet sowohl »vorbei« als auch »mimisch«). Nebel »schleichen«, der See »ruht« etc.
Genau dieser Prozess ist es, den Disney in seinen Zeichnungen spürbar und gegenständlich darstellt.
Das sind nicht nur Wellen, die auf die Bordflanken eines Dampfers faktisch »einboxen« (und der bekannten Formel des Komischen folgend, in ihren Umrissen zu Boxhandschuhen werden!).
Es ist auch das erstaunliche, plastische Spiel der Konturen von Disneys Zeichnungen.
Bei Verwunderung dehnen sich die Hälse.
Bei panischer Flucht strecken sich die Beine.
Bei Angst zittert nicht nur der Held, sein Umriss ist gewellt.
Hier, in diesem Element der Zeichnung, wird das wirksam, was ich mit so vielen zitierten Beispielen belegen wollte.
Das ist eine hochinteressante Erscheinung.
Wenn sich der Hals eines Pferdes oder einer Kuh vor Schreck dehnt, dann dehnt sich die Darstellung der Körperfläche und nicht der Umriss als selbständiges Element!
In einer solchen Halsdehnung fehlt noch das, was über das »schleichende« Gebirge und den »schwellenden« Umriss des Hügels angemerkt wurde.
Erst wenn der Umriss des Halses über die möglichen Grenzen einer Halsdehnung hinauswächst, verkörpert er auf komische Weise, wie sich der sinnliche Prozess in den angeführten Metaphern vollzieht.
Die Komik entsteht, weil jede Zeichnung eine Doppelexistenz aufweist: als ein Komplex von Linien und als Bild, das daraus entsteht.
Die hier vorgelegte, neue Übersetzung (erscheint in Sergej Eisenstein: Disney, hg. und übersetzt von Oksana Bulgakowa und Dietmar Hochmuth, Berlin 2012) stützt sich auf die bislang vollständigste Textversion, die 2009 bei PotemkinPress im Original erschien im Rahmen der vierbändigen Ausgabe von Eisensteins Die Methode (Band III, S. 769–888). Die Herausgeber bei PotemkinPress haben versucht, dieses Original so komplett und behutsam wie möglich in all seinen Besonderheiten – sprunghafte Chronologien, notizenähnliche Einschübe, offenkundig nicht zu Ende geführte Sätze und Passagen, schließlich die Eigenart von Eisensteins Fremdsprachengebrauch – zu erhalten und in die deutsche Sprache zu übertragen. Runde Klammern stammen vom Autor, Kommentare, Anmerkungen und Übersetzungen der Herausgeber bei PotemkinPress sind in eckige Klammern gesetzt, auch die Fußnoten stammen von den Herausgebern. Zitate wurden dort eingefügt, wo Eisenstein selbst auf die exakte Herkunft seiner Quellen verweist. Die Herausgeber haben im Interesse der Lesbarkeit des unvollendeten Manuskripts auf die Kennzeichnung, aus welcher Sprache einzelne Worte und Zitate übersetzt wurden, verzichtet.
1 Hippolyte Taine: La Fontaine et ses fables, Paris 1870, S. 179f. [übersetzt ins Russische von Eisenstein].
2 Pera Ataschewa (1900–1965), sowjetische Journalistin, Eisensteins Frau, bereitete für den Verlag »Iskusstwo« einen Sammelband über den amerikanischen Trickfilm vor – innerhalb einer Serie über amerikanische Filmschaffende, in der auch Bücher über D. W. Griffith (1944) und Chaplin (1945) erschienen sind. Beide Bücher enthielten auch Texte von Eisenstein.
3 Griechischer Licht- und Sonnengott, der von Titanen getötet wird. Im Manuskript steht daneben durchgestrichen »Endymion« (Personifizierung der Dämmerung und des Schlafs). Möglicherweise meint Eisenstein Empedokles, der sich ins Feuer eines Vulkankraters stürzt.
4 Dt. Übersetzung des Aufsatzes »Die Inkarnation des Mythos«, in: Alexander Kaempe (Hg.): Eisenstein über Kunst und Künste, München 1978, S. 68–110. Siehe auch Eisensteins Regienotizen zur Inszenierung in: Oksana Bulgakowa (Hg.): Eisenstein und Deutschland. Texte. Dokumente. Briefe, Berlin 1998, S. 55–64.
5 [Anm. d. Herausgeber: Die Zitate aus den deutschen Gedichten sind auch im Manuskript auf Deutsch.]
6 Houston Stewart Chamberlain (1855–1927), englischer politischer Philosoph, Richard Wagners Schwiegersohn. Eisenstein kaufte sein Buch Goethe (München: F. Bruckmann 1912) am 8. September 1937.
(1898–1948) war ein russischer Regisseur und Theoretiker der Avantgarde, den man vornehmlich für seine umfassende Theorie und Praxis der Montage kennt. Viele seiner späten Filme und Schriften blieben wegen der Stalinistischen Zensur unvollendet oder unveröffentlicht. Mit Oktober (Oktjabr’) reinzenierte er 1928 ebenfalls den Sturm auf den Winterpalast mit filmischen Massenszenen.
Irene Albers (Hg.), Anselm Franke (Hg.)
Animismus
Revisionen der Moderne
Broschur, 320 Seiten
PDF, 320 Seiten
Der »Animismus« ist eine Erfindung der Ethnologie des 19. Jahrhunderts, geprägt auf dem Höhepunkt des europäischen Kolonialismus. Animisten bevölkern die unbelebte Natur mit Seelen und Geistern. Das erklärt man als eine die materielle Realität verkennende »Projektion«, durch die den Dingen und der Natur Leben und Handlungsmacht zugeschrieben wird. Animismus wird so zum Gegenbild moderner Wissenschaft, zum Ausdruck eines »Naturzustands«, in dem Psyche und Natur als ungeschieden gelten. Wenn sich letzthin ein neues Interesse am Animismus herausgebildet hat, liegt das nicht daran, dass der Begriff als wissenschaftliche Kategorie rehabilitiert wurde. Vielmehr ist die kategorische Trennung von subjektiver und objektiver Welt selbst in Bewegung geraten.