Offen gestanden versuche ich, das Wort ›Praktiken‹ inzwischen möglichst selten zu verwenden. Denn bei den letzten Malen zerfiel es mir manchmal wie ein modriger Pilz im Mund. Wenn ich es von anderen höre, reagiere ich skeptisch: Kaum ein anderer Begriff kommt innerhalb der Wissenschaftsgeschichte und den angrenzenden Kulturwissenschaften nämlich mit einer so massiven Selbstevidenz daher. Meistens nicht allein, sondern von einem Attribut begleitet. Dann ist von ›diskursiven‹, ›epistemischen‹ oder ›kognitiven‹ Praktiken die Rede. Stets geht es darum, etwas, das mit Wissen, mit Denken oder Begriffen zu tun hat, in Wirklichkeit als Praxis zu erweisen. Soweit ich sehe, ist das seit den achtziger Jahren der Fall. Doch anders als damals werden die Voraussetzungen, die Ansprüche und Implikationen dieser Umdeklarierung heute kaum noch diskutiert. Eine diffuse Bedeutung, die immer mittransportiert wird, lautet: »Hier wird keine Ideengeschichte getrieben.« – »Und das ist auch gut so!«, könnte der oder die Betreffende sogleich hinzufügen, denn einer weiteren Begründung bedarf es nicht. Mit Roland Barthes gesprochen haben wir es mit einem Alltagsmythos der Wissenschaftsgeschichte zu tun. Wer ankündigt, ›Praktiken‹ erforschen zu wollen, weiß den common sense der Kolleginnen und Kollegen auf seiner Seite. Doch worauf stützt sich diese Übereinkunft eigentlich? Welche theoretischen Referenzen sind in sie eingeflossen? Oder ging sie in den achtziger Jahren nicht aus Theorie, sondern aus einer besseren Empirie hervor?
Für die Autoren, die die sogenannte ›praktische Wende‹ in der Wissenschaftsforschung und -geschichte eingeleitet haben, stellte die intime Kenntnis der Laboratorien in der Tat eine wichtige Argumentationsgrundlage dar. Hans-Jörg Rheinberger war ein ausgebildeter Molekularbiologe. Andrew Pickering, der sich der Soziologie von Teilchenbeschleunigern und Nebelkammern widmete, hatte in science studies und Physik promoviert. Auch Bruno Latours 1979 erschienene Ethnologie des Salk Institute Laboratory Life schöpfte ihre Legitimation aus der in geduldiger Feldforschung gewonnenen Vertrautheit mit ihrem Gegenstand.1 Gleichzeitig wurden für die neue praxeologische Perspektive aber auch ältere Gewährsleute wiederentdeckt. Zu den Vorläufern, die hierzulande kaum bekannt oder weitgehend vergessen waren, gehörten Ludwik Fleck und Gaston Bachelard, die in den späten siebziger Jahren ins Pantheon der Suhrkamp-Kultur aufgenommen wurden. Schon im ersten Drittel des zwanzigsten Jahrhunderts hatten sie zu erkennen gemeint, dass in den modernen Experimentalwissenschaften das Hantieren mit Apparaten, das Messen und Aufschreiben eine kaum überschätzbare Rolle spielte – oder besser: dass es durch die Existenz dieser Wissenschaften obsolet geworden war, über die Möglichkeitsbedingungen von Erkenntnis im Rahmen einer allgemeinen Erkenntnistheorie zu diskutieren, die das, was Bachelard als »Phänomenotechnik« bezeichnete, nicht in ihre Überlegungen einbezog.2
Doch möchte ich im Folgenden eine andere Linie verfolgen, die weniger mit der Tätigkeit von Experimentatoren als mit Theorie zu tun hat. Ian Hacking, neben Latour wohl der wichtigste Stichwortgeber für die Hinwendung zur Praxis in den achtziger Jahren, schrieb in Representing and Intervening, es gebe »einen weniger komplizierten, altmodischeren Geschichtsbegriff, wonach die Historie nicht von dem handelt, was wir denken, sondern von dem, was wir tun«.3 Um welchen Geschichtsbegriff es sich handelte, führte Hacking nicht weiter aus. Doch macht die Textstelle klar, dass seiner Darstellung offenbar nicht nur seine empirische Vertrautheit mit den Naturwissenschaften, sondern darüber hinaus auch so etwas wie eine Idee von Geschichte zugrunde lag. In der Tat knüpfte der practical turn an eine intensive theoretische Reflexion über das Verhältnis von Geschichte, Theorie und Praxis an, die sich seit den sechziger Jahren – vor allem in Frankreich – entwickelt hatte. Müsste man einen Autor benennen, der für Hacking in diesem Zusammenhang besonders wichtig war, wäre das ohne Zweifel Michel Foucault.
Vermutlich hat niemand die Rede von den Praktiken des Wissens stärker befördert als Foucault. Seit der Archäologie des Wissens, seiner tastenden Methodenschrift aus dem Jahr 1969, sind seine Texte von ›Praktiken‹ bevölkert, darunter an erster Stelle die in der Archäologie eingeführten ›diskursiven Praktiken‹. Wie François Dosse in seiner Geschichte des Strukturalismus gezeigt hat, reagierte Foucault mit diesem Praxisbegriff auf die Kritik, die der Pariser Cercle d’épistémologie 1968 an seinem allzu statischen Begriff der »Episteme« geübt hatte, indem er den historischen Prozess zu verflüssigen und einen Moment der Veränderung einzuführen suchte und sich dabei ostentativ von einer wissenschaftlichen Begriffsgeschichte abgrenzte, wie sie noch sein Lehrer Georges Canguilhem vertreten hatte.4 Den Status der Praktiken in der Archäologie des Wissens zu bestimmen, fällt allerdings nicht ganz leicht. So heißt es etwa, die »diskursive Praxis« dürfe nicht mit dem »expressiven Tun« eines individuellen Sprechers verwechselt werden, sondern sei die »Gesamtheit von anonymen, historischen […] Regeln, die in einer gegebenen Epoche […] die Wirkungsbedingungen der Aussagefunktion definiert haben«.5 Das klingt dann doch wieder sehr strukturalistisch und lässt an die historischen Großformationen denken, die Foucault bis dato als »Episteme« bezeichnet hatte. Und trotzdem kommt er immer wieder auf den Praxisbegriff zurück. Seine Motive für diese Insistenz muss man sich aus verstreuten Andeutungen zusammensuchen. So fragt Foucault in dem berühmten Dialog, der das Ende der Archäologie ausmacht, seine imaginären idealistischen Gegner etwa: »Hat die Praxis des revolutionären und wissenschaftlichen Diskurses in Europa seit mehr als zweihundert Jahren Sie nicht von der Idee befreit, daß die Wörter Wind, ein äußerliches Geflüster, ein Flügelschlagen sind, das man nur mit Mühe in der Ernsthaftigkeit der Geschichte hört?«6 Was auch immer hier genau gemeint war, es ist klar, dass die »Praxis des revolutionären und wissenschaftlichen Diskurses«, die in der Archäologie des Wissens nur an dieser Stelle auftaucht, in die Sphäre der Politik gehört. Ich würde behaupten, dass Foucault hier Traditionen des kritischen Sprechens und Schreibens ins Spiel brachte, die bis in die Aufklärung zurückreichten und zu denen seit dem 19. Jahrhundert auch der Marxismus zu zählen war. Für diese letzte Annahme spricht, dass der Cercle d’épistémologie, auf dessen Kritik Foucault reagierte, aus Schülern von Louis Althusser bestand, des marxistischen Meisterdenkers jener Jahre, der sich als Anführer einer elitären »Partei des Begriffs« verstand.7 Erstmalig im Sommer 1968 in den vom Althusser-Kreis herausgegebenen Cahiers pour l’analyse verwendet, verweist Foucaults Begriff der diskursiven Praxis auf die Konjunktur des Politischen in dieser Zeit.8
Louis Althusser bleibt als Marx-Exeget in Erinnerung, der das Kapital einer epistemologischen oder »symptomalen« Lektüre unterzog, um dessen Philosophie, die Marx in Althussers Augen nur hatte andeuten können, in explizite Begriffe zu übersetzen.9 Als Modell für seine Operation diente ihm die Epistemologie des bereits genannten Gaston Bachelard. Althusser gebührt das Verdienst, Bachelards Begriff des »wissenschaftstheoretischen Einschnitts«, wie es in der Suhrkamp-Übersetzung noch heißt, überhaupt erst kurrent gemacht zu haben. Seine Mission bestand darin, Marx, den er als Quelle seines eigenen Denkens begriff, ebenso gegen kommunistisch-orthodoxe wie gegen humanistische Lesarten zu verteidigen. Ein zentrales Ergebnis dieser Relektüre war Althussers Begriff der »theoretischen Praxis«, das Herzstück seiner Erkenntnistheorie oder besser: seiner materialistischen Theorie der Erkenntnisproduktion. »Unter Praxis«, schreibt er in seiner 1965 erschienenen Aufsatzsammlung Pour Marx, »verstehen wir im allgemeinen jeden Prozeß der Veränderung einer bestimmten gegebenen Grundmaterie in ein bestimmtes Produkt, eine Veränderung, die durch eine bestimmte menschliche Arbeit bewirkt wird, indem sie bestimmte (›Produktions‹-)Mittel benützt.«10
Das ist unverkennbar von Marx her gedacht, der die »materielle Praxis« als »wirkliche Basis der Geschichte« mit jener Sphäre der Produktion identifiziert hatte, die für die industriellen Gesellschaften auf so unübersehbare Weise geschichtsmächtig war.11 Eine Neoaristotelikerin wie Hannah Arendt, die auf dem Unterschied von praxis und poiesis bestand, lastete Marx das als Begriffsverwirrung an.12 Nicht so Althusser. Sein Unternehmen bestand im Gegenteil darin, den Marxschen Praxisbegriff zu entfalten und auszuweiten. Innerhalb der als umfassend gedachten »sozialen Praxis« unterschied er verschiedene »Praxis-Arten«, wie die »politische«, die »ideologische«, die »empirische« und die »technische Praxis«. Hier deutet sich bereits die Pluralisierung an, die aus dem Singular der Praxis die uns heute geläufigen ›Praktiken‹ machen sollte. Die Praxis-Art, die Althusser und seine Leser jedoch am meisten interessierte, war die »theoretische Praxis«, eine paradoxe Kategorie, die darauf hinauslief, eine weitere aristotelische Differenz, nämlich die von praxis und theoria, zu kassieren.13 In Althussers zweitem Hauptwerk Das Kapital lesen heißt es: »Es gibt nicht einerseits die Theorie als reine geistige Schau ohne Körper und Materialität und andererseits eine durch und durch materielle Praxis, die dann ›Hand anlegte‹. Diese Dichotomie ist ein ideologischer Mythos.«14 Stattdessen, so Althusser weiter, sei auch Theorie eine Form von Praxis, eine produktive Arbeit, bei der durch Veränderung einer Materie aus empirischen Tatsachen und ideologischen Vorstellungen eben Erkenntnisse produziert würden.15
Die Finessen und Kurzschlüsse dieser Marx-Übertragung wurden in den sechziger und siebziger Jahren in allen Einzelheiten diskutiert. Auf der einen Seite entspann sich der Faden einer epistemologischen Rezeption, die den Begriff der »theoretischen Praxis« für die Analyse – und Kritik – der Wissenschaften fruchtbar machte.16 Von den »diskursiven Praktiken«, die Foucault in der Auseinandersetzung mit Althusser in die Diskussion einführte, bis zu den »materiellen Praktiken«, die die Autoren des practical turn in den achtziger Jahren nicht nur in der Wissenschaftsgeschichte, sondern auch in den Kulturwissenschaften etablierten, rückte diese Rezeption die praktische Seite der Forschung ins Zentrum und führte ihr die Aufmerksamkeit zu, die bisher den Ideen und Theorien vorbehalten gewesen war.17 Hans-Jörg Rheinberger hat sich daran erinnert, wie bedeutsam seine Althusser-Lektüre der späten sechziger und frühen siebziger Jahre für seinen Werdegang als Wissenschaftshistoriker gewesen war. Hier sei er zum ersten Mal mit der Idee konfrontiert worden, die Wissenschaft »aus der Perspektive ihrer Praxis« zu thematisieren. Doch konnte Althusser dafür nicht mehr als den Anstoß liefern, denn sein Begriff der theoretischen Praxis war immer noch viel zu abstrakt gedacht. »Nach einigem Zögern«, so Rheinberger weiter, habe er daher die Entscheidung getroffen, sich »in eine Wissenschaft zu versenken« und ein zweites Studium zu absolvieren. Er wurde Molekularbiologe und kam um diese Kompetenz bereichert in den achtziger Jahren zur Epistemologie zurück.18
Nicht zuletzt, weil er in der Zwischenzeit auf Derrida gestoßen war und dessen différance zum Leitbegriff seiner eigenen Arbeiten gemacht hatte, war diesen Arbeiten ihre Herkunft von einer marxistischen Theorie der Erkenntnisproduktion kaum noch anzumerken. Daher ging auch ein Aspekt verloren, der für die Diskussion des Begriffs der theoretischen Praxis in den späten sechziger und frühen siebziger Jahren entscheidend gewesen war. Althussers Wissenschaftstheorie zielte nicht nur auf die Naturwissenschaften ab, sondern bezog sich ebenso auf die Wissenschaft der Geschichte, deren Konturen er im Zuge seiner Marxlektüre zu umreißen suchte. Wenn er von »theoretischer Praxis« sprach, intendierte er folglich auch seine eigene Theorieproduktion, die durch ihre hohe Abstraktionslage ebenso berühmt wie berüchtigt war. Der Begriff betraf seine Existenz als marxistischer Intellektueller. Wenn man bedenkt, zu was für einem Politikum die Figur des Intellektuellen in den sechziger Jahren geworden war, kann es nicht verwundern, dass dieser Aspekt für die Zeitgenossen der eigentlich Entscheidende war. Das lässt sich exemplarisch an Rheinbergers Magisterarbeit Zur Kritik von Louis Althussers Auffassung der marxistischen Erkenntnistheorie ablesen, die er 1973 am Fachbereich 11, Philosophie und Sozialwissenschaften, der Freien Universität Berlin einreichte. Althussers Oxymoron impliziere, heißt es in einem Auszug, den Rheinberger zwei Jahre später in der marxistischen Zeitschrift Das Argument publizierte, dass »der Denkvorgang […] Dank seiner Praxisförmigkeit […] dem Realprozeß prinzipiell gleichwertig« sei.19 Marx hatte seinerzeit gefordert, dass der Mensch »in der Praxis […] die Wahrheit, i.e. Wirklichkeit und Macht, Diesseitigkeit seines Denkens beweisen« müsse.20 In Rheinbergers Augen wandelte Althusser, der behauptete, dass jede Theorie immer schon die Züge einer Praxis trage, diese normative kurzerhand in eine deskriptive Feststellung um. So wenig aristotelisch, wie Althussers Philosophie der Praxis sonst auch angelegt war, wiederholte sie an dieser Stelle eine Geste, die man bis zu Aristoteles zurückverfolgen kann. Beim Abwägen von praktisch-politischer und theoretisch-kontemplativer Lebensweise hatte Aristoteles der theoria die Weihen der vornehmsten praxis verliehen – ein Argument, das einer Apologie seiner eigenen philosophischen Existenz gleichkam.21 Mit einer analogen Wendung legitimiere Althusser, so ein weiterer deutscher Kritiker, »ea ipsa« die Tätigkeit des revolutionären Theoretikers.22 In der zunehmend schärfer geführten Auseinandersetzung um das Verhältnis von marxistischer Theorie und revolutionärer Praxis, die die sechziger Jahre kennzeichnet, war das eine attraktive Position, die westeuropäische Linksintellektuelle, Tony Judt zufolge, »wie ein Mantra« wiederholten.23 Bei dem italienischen Operaisten Lucio Colletti stößt man in diesen Jahren zum Beispiel auf eine in vielerlei Hinsicht vergleichbare Haltung. Und auch Adorno, der spiritus rector der westdeutschen Studentenbewegung, erklärte angesichts eskalierender Konflikte mit seinen Schülern in seinen Marginalien zu Theorie und Praxis von 1969: »Denken ist ein Tun, Theorie eine Gestalt von Praxis; allein die Ideologie der Reinheit des Denkens täuscht darüber.«24
1976 skizzierte der englische Historiker und Herausgeber der New Left Review Perry Anderson eine intellektuelle Physiognomie des »westlichen Marxismus«, zu dem er Althusser ebenso wie Colletti und die Frankfurter Schule rechnete. Für Anderson war die Entwicklung des Marxismus seit dem Ersten und noch eklatanter seit dem Zweitem Weltkrieg durch dessen wachsende Entfernung vom Klassenkampf geprägt. Der Typus des Parteiintellektuellen sei durch den Typus des Universitätsprofessors abgelöst worden. Das theoretische Interesse habe sich von der Ökonomie auf die Kultur verlagert. Auch die Suche nach den Vorläufern des Marxismus, die bei ›bürgerlichen‹ Denkern wie Hegel, Schelling oder Spinoza landete, kam für Anderson dessen Entpolitisierung gleich. Er betrachtete diese miteinander verbundenen Vorgänge als Reaktion auf eine traumatische »historische Niederlage«: auf das Stocken des weltweiten revolutionären Prozesses und die Verwandlung der Sowjetunion in einen totalitären Staat. Der Idee der »theoretischen Praxis«, so wie er sie bei Althusser oder Adorno formuliert fand, kam dabei aus Andersons Sicht eine besondere Bedeutung zu. Er identifizierte sie als Symptom, in dem das Trauma seinen prägnantesten Ausdruck fand: »Den trotzigen Theoretizismus dieser Äußerungen, die das materielle Problem der Einheit von Theorie und Praxis als dynamischer Verbindung zwischen dem Marxismus und dem revolutionären Kampf der Massen völlig übergehen, indem sie von Anfang an behaupten, die beiden Begriffe seien identisch, könnte man als das Motto betrachten, das über dem ganzen westlichen Marxismus in der Epoche nach dem Zweiten Weltkrieg steht.«25
Im Jahr 1972 hatte die Zeitschrift L’Arc ein Gespräch zwischen Michel Foucault und Gilles Deleuze unter dem Titel »Les intellectuels et le pouvoir« publiziert. In einem entscheidenden Punkt waren sich die beiden Theoretiker einig. »Es gibt keine Repräsentation mehr«, erklärte Deleuze, »es gibt nur Aktion: die Aktion der Theorie und die Aktion der Praxis«. Worauf ihm Foucault mit der Bemerkung beipflichtete: »Theorie [ist] nicht der Ausdruck, die Anwendung, die Übersetzung einer Praxis; sie ist selbst eine Praxis.«26 Seit den Tagen der Althusserschen Observanz hatten sich die theoretischen Referenzen stark verschoben. Foucault und Deleuze diskutierten das Verhältnis von Theorie und Praxis nicht mehr in einem marxistischen Horizont, sondern vor dem Hintergrund ihrer Nietzschelektüre, die in ihren Augen die Idee der Repräsentation und damit jeder politischen Avantgarde überhaupt diskreditierte. Doch trotz dieser Differenz war es ihnen nach wie vor um den Aufweis der Gleichwertigkeit von Theorie und Praxis zu tun. Im Gespräch mit Deleuze machte Foucault diese Äquivalenz für seine Tätigkeit als Intellektueller geltend. In seinen historischen Untersuchungen erhob er sie zur Leitvorstellung seiner genealogischen Methode. Was in den achtziger Jahren in den Genpool der neueren Wissenschaftsgeschichte eingewandert ist, das Axiom, dass Wissen als Praxis aufgefasst werden muss, verweist auf die politische Konstellation von Achtundsechzig: Damals gehörte es zum self-fashioning linker Intellektueller.
1 Zur ›praktischen Wende‹ vgl. Hans-Jörg Rheinberger: Historische Epistemologie zur Einführung, Hamburg 2007, S. 119ff.
2 Gaston Bachelard: Der neue wissenschaftliche Geist, Frankfurt/M. 1988, S. 18.
3 Ian Hacking: Einführung in die Philosophie der Naturwissenschaften, Stuttgart 1996, S. 40.
4 Vgl. François Dosse: Geschichte des Strukturalismus, Bd. 2: Die Zeichen der Zeit, 1967–1991, Frankfurt/M. 1999, S. 288f., 300f.
5 Michel Foucault: Archäologie des Wissens, Frankfurt/M. 1995, S. 171.
6 Ebd., S. 298f.
7 Die Formulierung geht auf Marx zurück. Vgl. Etienne Balibar: »Althusser and the Rue d’Ulm«, in: New Left Review 58 (4), 2009, S. 91–107, hier S. 98.
8 Vgl. Michael Foucault: »Über die Archäologie der Wissenschaften. Antwort auf den Cercle d’épistémologie«, in: Ders.: Schriften in vier Bänden. Dits et Écrits, Bd. 1: 1954–1969, Frankfurt/M. 2001, S. 887–931.
9 Vgl. Robert Pfaller: Althusser: Das Schweigen im Text. Epistemologie, Psychoanalyse und Nominalismus in Louis Althussers Theorie der Lektüre, München 1997.
10 Louis Althusser: Für Marx, Frankfurt/M. 1968, S. 104.
11 Karl Marx: Die deutsche Ideologie, in: Marx-Engels Werke, Bd. 3, Berlin 1969, S. 38f.
12 Vgl. Hannah Arendt: Vita activa oder vom tätigen Leben, München 1960, S. 92ff.
13 Althusser: Für Marx, a.a.O., passim.
14 Ders.: Das Kapital lesen, Bd. 1, Reinbek 1972, S. 76.
15 Vgl. ders.: Für Marx, a.a.O., S. 105.
16 Als Beispiel einer von Althusser inspirierten Kritik der Naturwissenschaften vgl. Jean-Marc Lévy-Leblond: Das Elend der Physik. Über die Produktionsweise der Naturwissenschaften, Berlin 1975.
17 Der practical turn hatte freilich nicht nur marxistische Wurzeln, sondern knüpfte auch an ethnologische und sozialanthropologische ›Theorien der Praxis‹ wie die von Pierre Bourdieu oder Henri Lefebvre an, die die Eigenlogik der Praktiken, ihren unordentlichen, fragmentierten oder disparaten Charakter zum Thema machten. Vgl. Andrew Pickering: The Mangle of Practice. Time, Agency, and Science, Chicago, IL 1995, S. 3. Dieser Zusammenhang kann hier nicht weiter ausgeführt werden.
18 Hans-Jörg Rheinberger: »My Road to History of Science«, in: Science in Context 26 (4), 2013, S. 639–648, hier S. 642. Vgl. auch ders.: »Orte des wilden Denkens. Ein Interview«, in: Ders.: Rekurrenzen. Texte zu Althusser, Berlin 2014, S. 113–160.
19 Hans-Jörg Rheinberger: »Die erkenntnistheoretischen Auffassungen Althussers«, in: Das Argument 17 (11/12), 1975, S. 922–951, hier S. 931. Auch die Magisterarbeit ist neuerdings publiziert: Ders.: »Zur Kritik von Louis Althussers Auffassung der marxistischen Erkenntnistheorie«, in: Rekurrenzen, a.a.O, S. 21–78.
20 Karl Marx: Thesen über Feuerbach, in: Marx-Engels Werke, Bd. 3, Berlin 1969, S. 5.
21 Vgl. Heinz Kleger: »Praxis, praktisch«, in: Joachim Ritter (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 7, Basel 1989, Sp. 1283f.
22 Ulrich Müller: »Althussers strukturalistische Umdeutung des ›Kapital‹«, in: Das Argument 17 (1/2), 1975, S. 85–92, hier S. 92.
23 Tony Judt: Reappraisals. Reflections on the Forgotten Twentieth Century, New York 2008, S. 108.
24 Theodor W. Adorno: »Marginalien zu Theorie und Praxis«, in: Ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 10.2, Frankfurt/M. 2003, S. 759–782, hier S. 761.
25 Perry Anderson: Über den westlichen Marxismus, Frankfurt/M. 1978, S. 109.
26 »Gespräch zwischen Michel Foucault und Gilles Deleuze. Die Intellektuellen und die Macht«, in: Michel Foucault: Von der Subversion des Wissens, Frankfurt/M. 1974, S. 107f.
ist ein deutscher Kulturwissenschaftler und Historiker. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen die Wissenschaftsgeschichte der Alpen und die Geschichte der Kartografie des 19. Jahrhunderts. Bis 2011 war er als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Professur für Wissenschaftsforschung der ETH Zürich, ab 2011 ist er Juniorprofessor für Geschichte der Humanwissenschaften am institut für Kulturwissenschaften der Huboldt-Universität zu Berlin.
Nils Güttler (Hg.), Margarete Pratschke (Hg.), Max Stadler (Hg.)
Nach Feierabend 2016
Wissen, ca. 1980
Broschur, 272 Seiten
PDF, 272 Seiten
Ob Medien, Technik, Bilder, Körper oder Ökologie: Was die Geistes- und Kulturwissenschaften heute bewegt, gewinnt bereits in den frühen 1980er Jahren an Aktualität. In den Blick gerät ein Jahrzehnt, in dem sich Medien- und Technikrealitäten in den westlichen Gesellschaften spürbar wandelten und das Versprechen einer ›Wissensgesellschaft‹ in greifbare Nähe rückte. In die Karriere des »Wissens« um 1980 mischten sich historisch spezifische Erfahrungen und Zukunftsversprechen, politische Auseinandersetzungen und soziale Visionen – eine Konstellation, deren Gefüge sich inzwischen verschoben hat oder deren Bedeutung schlicht in Vergessenheit geriet.
Die aktuelle Ausgabe von »Nach Feierabend« widmet sich dieser Konstellation, aus der auch die neuere wissenshistorische Forschung hervorgegangen ist. Wie hängt das heutige Theorieangebot mit den Lebenswelten der achtziger Jahre zusammen? Wie viel bleibt von den visionären Entwürfen der damaligen Zeit übrig, wenn man sie an den historischen Problemhorizont zurückbindet? Und nicht zuletzt: Was blieb auf der Strecke?