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Selbstzensur ist das Schlimmste!

Lars von Trier im Gespräch mit Mehdi Belhaj Kacem & Raphaëlle Milone

Veröffentlicht am 18.10.2018

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Nach nur einer Stunde Schlaf während der vergangenen Nacht landen wir in Kopenhagen. Wir machen uns auf den langen Weg mit der Bahn zum Stadtrand in ein Wohngebiet. Große Häuser mit Garten, viel Wald und fast niemand zu sehen. Schließlich gelangen wir zu der uns genannten Adresse. Wir nähern uns dem Haus über den Garten und sind unmittelbar in einem Film von Lars von Trier: eine schwarze Limousine, ein kleiner Schuppen mit Computer und Stapeln von Papier, der ein Büro zu sein scheint. Ein enger Pfad führt zum Hauseingang. Die Tür steht offen.

Die Gestalt eines alten, zerzausten Samurais erscheint, barfuß, mit stämmigen Beinen in Bermuda Shorts. Schnell wird klar, wie leer das Haus ist. Das Heim eines Asketen ohne jeden Luxus; nur ein paar flämische Alte Meister und die Limousine draußen. Die Terrasse bietet eine wundervolle Aussicht in gedämpftem, ebenso erhabenem wie deprimierendem Licht. Ein helles Aufleuchten wie in Melancholia.

Unser Gesprächspartner erzählt uns, dass auch er kaum mehr als eine Stunde geschlafen hat. Er braucht lange, um den freundlich angebotenen Kaffee zu machen.


Raphaël Milone: Vielen Dank!

Lars von Trier legt die DVD von India Song von Marguerite Duras neben die Kaffetasse.

Lars von Trier: Kennen Sie diesen Film?

Mehdi Belhaj Kacem: India Song? Natürlich!

RM: India Song!

LVT: Sehen Sie: Der Fluß da draußen. Er sieht ein wenig aus wie der Fluß, der sich nicht in Indien befand.

MBK: Ein seltsamer Film.

LVT: Ein großartiger Film.

MBK: Das beste Geheul der Filmgeschichte.

RM: Das Lied ist erstaunlich. Wir Franzosen nennen das eine Litanei (sie pfeift).

LVT: Ja, absolut. Ein schönes Lied.

RM: Vielleicht sollten wir besser India Song hören und einschlafen.

MBK: Hypnose.

RM: Vielleicht würden wir im Schlaf reden, und das gäbe dann ein noch besseres Interview.

LVT: Ja.

MBK: Ein Interview ohne Zensur.

LVT: Keine Sorge.

MBK: Fangen wir an?

LVT: Zu Ihrer Verfügung.

MBK: Die erste Frage ist einfach: Was bedeutet das Wort »Zensur« für Sie?

LVT: Nun, ich kenne nicht ein Beispiel, wo Zensur gut gewesen wäre. Ich kann verstehen, warum die Leute es versuchen, aber für mich ist Zensur lächerlich. Es ist, als ob… im Dänischen haben wir eine Redensart: Wenn du einen Besen brauchst, dann fegst du den Staub einfach unter den Teppich.

RM: Kennen Sie den Text von Jonathan Swift mit dem Titel: A Meditation Upon a Broomstick? Darin macht er die Beobachtung, dass Menschen, die versuchen sauber zu machen, nur Staub aufwirbeln, wo zuvor keiner war. Das ist es, was die Zensur macht. Wir glauben, die »klassische« Zensur existiere nicht mehr, dabei ist Selbstzensur allgegenwärtig.

LVT: Selbstzensur ist das Schlimmste. Außerdem gibt es noch immer Zensur. Wir hatten so viel Ärger mit meinen Filmen in Frankreich. Die Franzosen sind katholische, gottesfürchtige Leute. Auf eine Art ist das verständlich, denn nach dieser Charlie-Hebdo-Sache musste man irgendwie reagieren. Doch wenn man von religiöser Seite her angegriffen wird, ist es keine gute Idee, mit Religion gegen die Opposition vorzugehen.

RM: Interessiert Sie wirklich, was die Leute in Frankreich denken?

LVT: Kommt darauf an wer. Natürlich gibt es eine Menge Leute, die mir egal sind. Aber das einzige, was Zensur bringt ist… Ich erinnere mich daran, dass, als man sich Filme beschaffen konnte – also, als ich noch zur Uni ging – und man herausfand, dass die eigentlich verboten waren oder was auch immer, man umso schärfer auf sie wurde. Das verleiht einem Film einen monumentalen Status.

MBK: Erinnern Sie sich an einen Fall, wo Sie sich selbst zensiert haben in einem Film?

LVT: Ja, ein Mal.

MBK: Wann?

LVT: Während den Arbeiten zu Manderlay. Wir brauchten einen Esel, der geschlachtet werden sollte, einen toten Esel.

RM: Um ihm den Kopf abzuschlagen?

LVT: Nein. Er sollte bei Beginn der Szene schon tot sein. Und da war dieser schwarze Kerl, der behauptete, er sei ein Experte im Esel Schlachten. Dann hatten wir den Metzger vor Ort – wir waren in Schweden. Bryce Howard war unsere Hauptdarstellerin, und wir hatten einen Schaupieler, dessen Name ich nicht erinnere, und der später am Tag anreisen sollte. Ich ging also fischen und fing einen sehr großen Fisch, den größten Fisch, den ich je gefangen habe, eine Lachsforelle. Ich sagte: »Also, lasst uns diesen Fisch für ihn zubereiten, als Willkommensgeschenk.« Er aber sah den Fisch nur verächtlich an und sagte: »Ich glaube nicht, dass du einen Fisch fangen solltest.« Ich sagte: »O.k., warum?« Seine Kinder hatten bis zum Erwachsenenalter warten müssen, um zu erfahren, was ich einem Hamburger drin ist. Er war sehr, nun ja… Dann sagte er: »Können wir dem Fisch wenigstens danken?« Ich sagte: »Sicher, klar.« »Danke sehr, Fisch, dass du unser Mahl bist.« Und dann sagte Bryce, die die ganze Zeit über gelacht hatte: »Wie gut, dass niemand über den Esel spricht.« Und er: »Was für ein Esel?« Und wir alle: »Ach nichts, nichts.« Und schließlich – er war gar nicht in der Szene – sagte er: »Ich werde in keinem Film mitspielen, in dem sie echte Esel benutzen. Sie sollten aus Plastik sein.« Ich sagte: »Ja, warum geben wir nicht alles Geld für die Herstellung eines Esels aus, der geschlachtet werden kann?« Der Esel, den wir schließlich bekamen, war aber irgendwie ein selbstmörderischer Esel.

RM: Wirklich? Wieso? Litt er unter Depressionen?

LVT: Er war sehr alt… wir mussten noch einen weiteren kaufen, um ihn neben ihn zu stellen, damit er sich nicht einsam fühlte. Wir hatten einen Tierarzt, der kam und ihm, nun ja, eine Spritze gab. So haben wir ihn also nicht wirklich geschlachtet. Es war eher eine Art… Als wir die Szene vorführten, bekamen wir so viele Hassmails – fünfhundert Hassmails – von Leuten, die… Normalerweise würde ich den Schauspieler nach Hause schicken. Ich sagte: »Du kannst nicht einfach daherkommen und das Drehbuch ändern, schon gar nicht bei einer Szene, in der du gar nicht dabei bist. Ich kümmere mich um den Esel, und du kümmerst dich einfach um deine Rolle.« Aber das tat er nicht. Am gleichen Tag noch nahm er den Flieger zurück nach LA. Doch als wir die Szene später vorführten, ich muss sagen… Dieser schwarze Kerl mit der Machete war ein fürchterlicher Metzger. Zudem sah er überhaupt nicht aus wie ein Metzger. Also, nach all dem, den Hassmails und so, ich muss gestehen, dass ich schwach wurde und die Szene herausnahm.

RM: War das das einzige Mal, dass so etwas vorkam?

MBK: Ich habe zum Beispiel nie verstanden, was hinsichtlich Zensur oder Selbstzensur im Umfeld von Nymphomaniac vorgefallen ist. Anscheinend haben Sie sich in dem Film nicht wiedererkannt.

LVT: Nein. Es gab einige vertragliche Probleme, und ich sagte. »Tut, was ihr wollt. Ich will nur sicher sein, dass es eine Fassung gibt, die von mir ist. Es sollte möglich sein, dass das erkennbar bleibt.« Ich weiß nicht warum, aber vielleicht waren es diese katholischen Leute…

MBK: Also die Produzenten…

LVT: Ja. Der Film war recht lang, um die fünf Stunden. Sie meinten, er solle etwas kürzer sein, aber ich habe ihn nicht gekürzt. Ich sagte: »Mit dieser Fassung habe ich nichts zu schaffen. Das wäre eine zensierte Fassung.«

RM: Vielleicht zensieren Sie sich also hinsichtlich der Dauer. Sie würden Zehn-Stunden-Filme machen, wenn Sie dürften!

MBK: Ich erinnere mich an eine großartige Vorführung von Idioten, vor langer Zeit in Paris, stundenlanger Andrang vor dem Kino. Das war alles so großartig wie der Film selbst, eigentlich noch großartiger. Es gab die Avantgarde in der Malerei, in der Literatur, aber nicht im Film.

RM: Du meinst auf gesellschaftlicher Ebene?

MBK: Ja, denn Idioten war eher eine Performance denn klassisches Erzählkino. Ich sagte zu meinen Freunden: »Das ist der beste situationistische Film aller Zeiten.« Als Teenager ließ mich Dogma davon träumen. Es war die letzte große Avantgarde, und das in Dänemark. Dorthin wollte ich auch. Deckt sich das mit Ihrer Vorstellung von Dogma? Und sahen Sie Dogma als eine Art Kriegsmaschinerie gegen Tabus und Zensur?

LVT: Nein, jedenfalls nicht bewusst. Ich betrachtete Dogma nicht als avantgardistisches Projekt, aber ich verstehe, was Sie meinen. Dogma stellte Regeln auf, die jeder anwenden konnte. Es war irgendwie demokratisch.

RM: Alles ist »irgendwie«.

LVT: »Demokratie« ist dieser Tage ein Reizwort. Das ist übrigens ein Zitat aus Nymphomaniac, wo sie sagt: »Die Leute sind zu dumm für Demokratie.« Nun, es ist schwierig, etwas anderes zu finden. Ich sehe keinen anderen Weg, die Gesellschaft in den Griff zu bekommen.

MBK: Ihr Produzent zu Dogma-Zeiten – ich erinnere seinen Namen nicht –  sagte etwas, was mir sehr gefällt: »Um Dogma zum Laufen zu bringen, nahm ich die besten Elemente zweier ausgezeichneter Systeme: Kommunismus und Kapitalismus, und dazu eine Prise Anarchie.« Haben Sie jemals daran gedacht, eine kollektive Erfahrung wie Dogma wiederzubeleben?

LVT: Ja. Ich schrieb eine Menge Regisseure an. Die allermeisten haben nicht geantwortet. Die einzige positive Antwort war von diesem japanischen Kerl… Wie war nochmal sein Name?

MBK: Kurosawa?

LVT: Kurosawa, genau. Er war der Einzige, der geantwortet hat. Er schrieb mir, dass es ihm nicht besonders gut ginge, er also etwas Zeit bräuchte, um einen Film zu machen. Am darauffolgenden Tag starb er. Er hatte eine Entschuldigung.

RM: Sie haben einmal gesagt, dass große Kunstwerke nie demokratisch, nur von einer Person alleine geschaffen werden könnten. Das steht im Widerspruch zu dem, was Sie über Dogma gesagt haben, das, wenn ich Sie richtig verstehe, aus einer Gemeinschaft bestand.

LVT: Ich verstehe, was Sie meinen, aber das war es nie… Ich glaube nicht an kollektive Filmarbeit. Dogma war ein Satz Regeln, die jeder anwenden konnte. Doch war es keine Zusammenarbeit am Set. Natürlich arbeiten wir zusammen, doch ich war der Regisseur, daran besteht überhaupt kein Zweifel. Ich habe aber nach und nach den Umgang mit den Schauspielern gelernt. Man muss ihnen Freiheiten geben. Tut man das nicht, bekommt man nichts von ihnen.

MBK: Was war ihre beste Erfahrung mit einem Schauspieler? Und um bei unserem Thema zu bleiben, die Frage nach Selbstzensur bei ihren männlichen, aber doch meist weiblichen Schauspielerinnen. Ist das ein Gebiet, das sie bewusst ausmessen? Haben doch alle Ihre Figuren eine starke, sehr mutige und Grenzen überschreitende Persönlichkeit.

LVT: Ich habe herausgefunden, dass ich nur wenige Hundert Meter von hier geboren wurde. In einem Haus da drüben. Und meine Mutter, die Architekten bewunderte, nannte dieses hier das Architektenhaus. Sie wollte es kaufen, doch sie konnte nicht. So habe ich mich an ein Rezept gehalten, das sie für mich vorbereitet hatte. Auf ihrem Sterbebett sagte sie mir, dass mein Vater nicht mein wirklicher Vater sei, dass sie sich um Kreativität in meiner DNA bemüht habe. Und dann schaute ich zurück auf all das, was ich geschaffen hatte, und mir wurde klar, dass sie das alles mehr oder weniger vorbereitet hatte. Diese starken Frauen… Sie war eine starke Frau. Sie war für ein paar Jahre die Vorsitzende der Dänischen Frauengesellschaft. Mir ist vor kurzem erst klar geworden, dass Sie mir diese Scham, ein Mann zu sein, eingepflanzt hat. In meinem letzten Film… Haben Sie den Film schon gesehen?

MBK: Nein. Wir waren in Berlin, als wir die Einladung zur Preview erhielten.

LVT: OK. Nun, ich versuchte, die Geschichte eines wirklich bösen Mannes zu erzählen. Die Leute sind aber recht unzufrieden damit.

MBK: Ja, ich habe die Reaktionen mitbekommen. Unglaublich vehemente Reaktionen.

LVT: In der Tat.

MBK: Raphaëlle sagte in schön feministischer Stimmung zuletzt: »Mann, es ist vorbei. Frauen sind so viel stärker.« Die Frage, die ich Ihnen stellen möchte, hat mit Zähmung zu tun: Mir scheint, dass Sie die Frauen in Ihren Filmen nicht zähmen können, während die Männer gezähmt werden können. Ich weiß nicht, wie es nennen soll… Es scheint, als wären sie unfrei.

LVT: Vielleicht sollten wir ein männliches #MeToo gründen. Im Stil von: »Wurden Sie in Ihrem Leben je von einer Frau vergewaltigt?« In meinem Fall lautet die Antwort: Ja. (Lachen)

MBK: Und nicht nur von einer. (Lachen)

RM: Glauben Sie, dass die Leute so negativ reagieren, weil sie es nicht ertragen können, Böses zu sehen?

LVT: Ja.

RM: Es ist ein Film. Aber mir scheint, dass die Leute nicht begreifen, dass der Film als ein Kunstwerk alles zeigt.

LVT: Nein. Was man geschrieben hat, hat nichts mit dem Film zu tun, nichts mit Schauspielerei, nichts mit irgendeiner Qualität, die das Kino zu einer Kunst macht. Man könnte sagen, das ist ein Film mit einer gewissen Stimmung, die man vielleicht nicht vergisst. Aber man schreibt nur über meine Absichten.

MBK: Ja, es wird viel psychologisiert, gar psychiatrisiert. Aber das ist bei Ihnen eigentlich immer der Fall. Das einzige Mal, dass es keinen Skandal gab, war bei Melancholia.

LVT: Ja, das stimmt.

MBK: Und dann haben Sie selber einen veranstaltet mit dieser Pressekonferenz in Cannes. Als ob Sie sagen wollten: »Tut mir leid, dass es dieses Mal keinen Skandal gab, aber ich werde da Abhilfe schaffen.«

LVT: Der Film war… Nun, ich war ein wenig enttäuscht über den Film, der zu gefällig war, ein bisschen zu sehr ein Film. Er sah zu sehr aus wie ein Film.

RM: Wissen Sie, was Marguerite Duras einmal gesagt hat? »Ich kann es nicht ändern, aber wenn ich einen Film mache, muss ich ihn nach der Hälfte töten. Ich muss den Film ermorden.« Es ist wie: »Ich kann nicht ertragen, dass es ein Film ist.«

LVT: Nein. Ich überlege mir immer den Schluss meiner Filme, denn der Anfang ist immer leicht und wunderbar. Man macht alles richtig. Ab einem gewissen Punkt aber, wenn die Geschichte sich verengt, fange ich an, das Ende vorzubereiten. Dann mache ich Schluss.

Ich weiß jetzt übrigens, was ich als nächstes machen werde: 36 Zehn-Minuten-Filme. Es gibt da einen Franzosen aus der Zeit von Goethe und Schiller. Er hat herausgefunden, dass es genau 36 mögliche Dramen gibt. Also werde ich versuchen, zu jedem einen Film zu machen. Aber ich habe definitiv keine Schlüsse für diese Filme. Das wird Regel Nummer 1 sein: Kein Ende. Ich glaube nämlich, dass man entweder nicht weiß, warum etwas ist, wie es ist, und dann kümmert es einen nicht, weil der Film so riesig war in der Mitte und dann so klein wird, oder man weiß die ganze Zeit nicht, wie das enden soll, was aber auch schlecht ist. Es wäre also ganz schön, die Leute in Universen zu schicken und sie dann dort alleine zu lassen. Ich werde sehen, was geht. Die Idee von Zehn-Minuten-Filmen erlaubt mir vor allem ein einfacheres Arbeiten. Denn während des letzten Films hatte ich derart große Ängste, ich lebte die ganze Zeit über mit einer Mischung aus Alkohol und Valium.

RM: Ja, das Problem kenne ich. Bitte entschuldigen Sie die barsche Frage, aber…

LVT: Bitte.

RM: Manchmal beim Schreiben ist mir, als würde ich sterben. Es ist einfach zu viel. Hatten Sie jemals während des Schreibens oder Filmens das Gefühl zu sterben?

LVT: Mir ist immer, als würde ich sterben. Aber im Leben, nicht bei der künstlerischen Arbeit. (Lachen)

RM: Nein, ich meine, während der Arbeit. Weil es zu intensiv ist, oder weil Sie zu viel nachdenken.

LVT: Nein, ich bin glücklich, wenn ich arbeite. Selbst während des Films, den ich mit Björk gemacht habe – es war die Hölle, aber es war fantastisch. Björk ist die beste Schauspielerin, mit der ich je gearbeitet habe. Aber… sie ist verrückt.

MBK: Und Sie nicht?

LVT: Doch, ich auch. Aber wir waren auf die gleiche Weise verrückt, beide totale Kontrollfreaks bei der Arbeit. Sie wollte einen völlig anderen Film. Wir hatten so viele Treffen und so viel Geschrei… es war extrem. Und dann drehten wir eine Szene mit einem Zug und ein paar Tänzern darauf. Wir mussten dafür einen regulären Zug stoppen. Die Leute saßen in dem Zug, während wir drehen sollten. Doch dann verschwand Björk in den Wald. Also musste ich sie finden und überzeugen zurückzukommen.

MBK: Die Legende besagt, dass sie oft verschwand während der Dreharbeiten.

LVT: Ja, das stimmt. Aber es war interessant, wie gut sie den Film verstand, auch wenn sie ihn hasste.

RM: Wirklich?

LVT: Ja. Sie sagte so Dinge, wie, dass die Bluse, die sie trug eine Erniedrigung sei und andere Dinge.

MBK: Ist Björks Sichtweise denn so falsch? Hat der Film nicht auch ein sadistisches Element? Es gibt in jedem Ihrer Filme so viele Ebenen. In diesem Fall ist da zuerst das Melodram, dann der musicalhafte, komödienartige Aspekt, dann das Performative, wie in der zeitgenössischen Kunst oder wie im Living Theatre. Und dann – dachte ich, als ich ihn sah – ist da auch dieses Element der Erniedrigung, ein sehr beunruhigender Aspekt. Gab es da eine Art sado-masochistisches Verhältnis zwischen Ihnen und Björk? Entschuldigung, dass ich so frei heraus frage.

LVT: Stimmt. Interessant waren diese sehr emotionalen Szenen, wie jene als sie gehängt werden sollte. Nach der ersten Aufnahme warf sie sich weinend auf den Boden. Und ich sagte: »Das nächste Mal könntest du Zeile zwei und sieben auslassen.« Sie sagte nichts, aber sie tat es. Das kommt von ihr Musikalität. Sie wusste ganz genau, was sie tat, auch wenn es aussah, als ob… nun ja. Sie spielte ungemein gut. Sie war fantastisch.

MBK: Da kommt mir eine Frage: Warum hatten all diese skandinavischen Regisseure, Dryer, Bergman, aber auch Sie derart besondere Beziehungen zu ihren Schauspielerinnen? Warum sind sie so starke Regisseure für Frauen? Ich sehe nirgends etwas Vergleichbares: Dreyer mit Falconetti, Bergman mit Liv Ulmann und Bibi Anderson in Persona, oder Sie mit Björk oder Emily Watson in Breaking the Waves. Lange dachte ich, dass das eine skandinavische Spezialität ist, das Verhältnis der männlichen Regisseure zu ihren weiblichen Darstellerinnen, das man in keinem anderen Kino so findet.

RM: Ich würde weniger von Intensität, sondern eher von Tragik und Rohheit sprechen – ganz anders wie bei den Amerikanern.

LVT: Gibt es im Norden also mehr Sadisten? Bergman war schrecklich. Und ich bin mir sicher, dass es Dreyer auch war, aber anders. Nicole Kidman hat mir erst kürzlich eine Anekdote über Kubrick erzählt. Es gab da einen Typen, der eine Woche lang spielen sollte, und er hatte davon gehört, dass Kubrick so viele Takes machte. Und dann hatten sie eine sehr lange Szene, in der gesprochen werden sollte, blablabla. Kubrick sagt. »Danke! Das wars, wir haben es.« Und er: »Was!?« Er ruft seine Frau an und sagt. »Übermorgen bin ich daheim. Das läuft anders, als ich gedacht hatte.« Am nächsten Tag dann drehen sie eine kurze Szene, wo er durch eine Tür gehen soll. Und das dauert dann drei Tage, mit mehreren Kameras. Jedes Mal, wenn er sich unsicher ist, wechselt er die Kameraeinstellung. Dann sagt der Typ zu Kubrick »Glauben Sie nicht, dass das genügt?« Der zeigt sich sehr überrascht: »Wollen Sie nicht, dass es gut wird?«. Nun.

Ich glaube, als Regisseur ist man auch in einer diktatorischen Rolle. Aber es ist wie mit einem Fluss: Das Beste, was man tun kann, ist mitschwimmen. Ich hatte häufiger Frauen, die mir bei meinen Filmen vertrauten, als Männer. Mit Männern war es immer schwierig. Nicht aber mit Matt Dillon bei meinem letzten Film. Matt war glänzend. Aber er machte einen so nervösen Eindruck. Wären doch nur alle Schauspieler wie er. Das ist ein Teil der Arbeit. Ich weiß auch nicht, warum die nordischen Regisseure Frauen gegenüber Arschlöcher sind.

MBK: Für mich sind die nordischen Regisseure die besten Schauspielerinnen-Regisseure. Vielleicht muss man ein wenig ein Sadist sein, um zu solchen Ergebnissen zu gelangen.

LVT: Ja. Und Bergman heiratete sie alle, wie Sie wissen. Es gibt diese Fernsehinterviews, wo er mit Erland Josephson, einem seiner Schauspieler, vor der Kamera sitzt. Sie sitzen da und jammern darüber, dass sie keine Väter gehabt hätten. Sie erzählen davon, dass sie sie nie zu Gesicht bekommen hätten, sie wenn überhaupt nur drei Minuten Zeit für sie gehabt hätten. Und die Frau, die die Fragen stellt, sagt: »Ist Ihnen eigentlich klar, dass sie beide jeder zehn Kinder haben, und die bekommen Sie nie zu Gesicht?«. »Oh ja, stimmt«, sagte er.

RM: Künstler!

MBK: Ab jetzt nur noch mit meinem Anwalt!

RM: Ich genauso.

LVT: Ich auch.

MBK: Um auf die aggressiven Reaktionen gegenüber Ihren Filmen zurückzukommen und auf den systematischen Prozess, den man Ihnen dabei macht: Für mich ist das in der Tat eine Frage der Zensur. Eine Frage hinsichtlich des Bösen, oder um genauer zu sein, das Böse zu zeigen.

LVT: Hm.

MBK: Das Ziel ist es, die Dinge zu zeigen, wie sie sind. Sie haben in einem Interview einmal gesagt: »Die Realität ist schlimmer als alles, was man in einem Film machen oder zeigen kann.«

LVT: Ja. Ich finde es unredlich, Dinge nicht zu zeigen. Sie können sagen, dass das zu hart für Kinder ist, aber solange wir von Erwachsenen sprechen… Ich weiß nicht. Ich glaube irgendwie noch immer an eine Gesellschaft ohne Vorschriften, ganz ohne Zensur. Und dann kommt die Political Correctness dazu – eine wirklich schreckliche Sache, die einen dazu bringt, sich selbst zu zensieren.

RM: Der französische Schriftsteller Paul Valéry sagte einmal, Höflichkeit sei nichts anderes als kunstreiche Gleichgültigkeit, was noch schlimmer ist.

LVT: Ja, vermutlich bin ich zu höflich.

RM: Wir sind alle zu höflich.

LVT: Ich dachte, Sie wollten mit mir über das Böse sprechen. Bitte! Ich wurde in dem Glauben erzogen, dass der Mensch wie aus Lehm sei, und dass es die Gesellschaft und die Eltern sind, die diesen Lehmklumpen geformt haben, sodass niemand von sich aus böse ist, dass es immer nur die Umstände sind, die dazu führen. Das ist eine typisch kommunistische, sehr simple Ideologie. Ich muss sagen, ich bin eher ein…

MBK: … Anarchist?

LVT: Ja, vielleicht. Ich bin nicht religiös, aber ich denke, Vergebung ist sehr menschlich.

RM: Sie meinen, dass es das Beste ist, was wir tun können?

LVT: Ja, so sie möglich ist. Die Vergebung. Ich habe nie ein Kind verloren, aber wenn jemand zum Beispiel mein Kind getötet hätte bei einem Autounfall, dann würde ich natürlich extreme Wut empfinden. Die Idee von Gesellschaft überhaupt ist doch aber, dass sie milder sein sollte als das Individuum. Ich hatte mal eine Katze – ich schreibe gerade einen Film über diese Katze – einen dieser Zehn-Minuten-Filme. Ich musste einen Tierarzt rufen, um die Katze töten zu lassen. Sie war einfach zu alt und zu krank. Und nachdem ich das getan hatte, hasste ich sie. Ich hasste die Katze und die Art, wie sich mich anblickte. Sie klagte mich an, wissen Sie, nur mit ihren Augen. Noch immer sehe ich sie, obwohl das Ganze schon vier Monate her ist. Überall, zuerst den Schwanz und dann…

RM: Die Geisterkatze…

MBK: Das erinnert mich an Edgar Allan Poes Die schwarze Katze. Kennen Sie die Geschichte?

LVT: Ja, ich habe sie gerade erst gelesen. Ich war ein wenig enttäuscht. Ich habe bisher wenig von Poe gelesen. Aber ja, er war ein armer Kerl, der im Delirium tremens starb. Das ist, wenn man zu viel trinkt. Ich versuche zuviel Alkohol aus dem Weg zu gehen. Momentan trinke ich nicht. Das ist schwierig.

RM: Sie zensieren den Alkohol.

LVT: Es ist sonderbar, denn der Alkohol…

MBK: Trinken Sie, um sich nicht selbst zu zensieren?

LVT: Ja, mehr oder weniger ist es das. Es hilft nicht wirklich. Wenn etwas ein zu großes Ausmaß annimmt, dann holt es das herunter, was ganz gut ist. Es ist irgendwie so… (er klatscht in die Hände). Doch dann, wenn der Alkohol im Blut ist und nachlässt, kommt eine neue Angst, die noch schlimmer sein kann. Und dann willst du weitertrinken. Eine gute Erfindung, die viele Leute nutzen.

RM: Ja, erstaunlich. Ich praktiziere es intensiv.

LVT: Sie trinken auch?

RM: Ja, eigentlich immer. Es geht mir wie Ihnen. Er tötet sofort die Angst. Ein Glas in einer halben Minute und schon geht es besser.

LVT: Genau.

RM: Und wie Sie irgendwann einmal sagten, man trinkt um zu vergessen, dass man trinkt. Burroughs hat einmal gesagt – entschuldigen Sie meine ständige Zitiererei…

MBK: Typisch französisch…

RM: »Schreib betrunken, redigiere nüchtern.« Wie denken Sie darüber?

LVT: Eine Menge meiner Filme habe ich auf Kokain geschrieben. Das ist ziemlich gut, um zu schreiben, weil du nie zurückschaust. Du hast eine Menge Energie, keine Probleme, weil du sie einfach überschreitest. Aber ich habe damit aufgehört. Ich war nicht abhängig, es war ein Arbeitsmittel. Dogville habe ich in zehn Tagen geschrieben, ohne es auch nur einmal zu lesen. Ich lese nie, was ich geschrieben habe. Ich gehe nicht zurück, und wissen Sie…

RM: Sie rühren es nicht an?

LVT: Nein.

RM: OK. Glauben Sie, der erste Versuch ist immer der beste?

LVT: Beim Drehbuch. Ja.

RM: Das ist ziemlich unkonventionell. Für gewöhnlich redigieren die Leute endlos.

LVT: Das ist schrecklich. Das ist, als ob es einen Diktator geben würde, der sagt: »So muss das Drehbuch sein.« Da ist eine Chance, dass es gut wird. Aber wenn du neun Diktatoren gleichzeitig hast, die deinen Film beeinflussen wollen, kannst du sicher sein, dass nur Mist herauskommt. Das ist so ähnlich wie mit den Jurys bei Filmfestivals. Egal wie viele Leute da sitzen, sie müssen sich einig werden, was auch der Grund ist, warum fast immer der falsche Film den Preis bekommt. Es hat mich übrigens sehr berührt, dieses Jahr in Cannes gewesen zu sein.

MBK: Sie waren außer Konkurrenz.

LVT: Ja, nicht im Wettbewerb. Ich denke mal, das war jetzt die letzte Strafe aus Cannes, hoffentlich, es sei denn, ich sage wieder etwas Dummes. Ich habe mir diese Pressekonferenz wieder und wieder angeschaut. In Deutschland wäre das kein Problem gewesen. Es ist Frankreich, Südfrankreich. Schrecklich. Es muss etwas mit Schuld zu tun haben.

MBK: Ich stimme Ihnen vollkommen zu. Ich versuche den Leuten immer wieder zu erklären, dass Charlotte Gainsbourg neben Ihnen die ganze Zeit lacht. Sie war nicht schockiert über das, was Sie sagten. Ich glaube, alles entstand im Nachinein. Ich glaube nicht, dass es ein unmittelbarer Skandal war. Auf einmal entsteht etwas, das zum Ausdruck bringt: »Hey, das ist schockierend. Das akzeptieren wir nicht«, und das dann verhältnislos wird.

LVT: Ja. Aber ich bin durchaus auch kritisch gegenüber dem, wie sich die Dinge während der Konferenz entwickelt haben. Ein Moderator sollte den Leuten zuhören. Er sollte die Pressekonferenz nicht einfach beenden und gehen, nachdem ich gerade gesagt habe: »OK. Ich bin ein Nazi.« Das ist etwas, das du nach einer ewig langen blablabla-Diskussion sagst, bei der du die ganze Zeit über sagst: »Ich bin kein Nazi, ich bin kein Nazi.« Irgendwann kommt dann der Punkt, wo du das satt hast und sagst: »OK, OK. Ich bin ein Nazi. Können wir jetzt über etwas anderes reden?« Es war ja bloß… Twitter war gerade erst am Start zu der Zeit, und es war leicht zu schreiben: »Von Trier ist ein Nazi. Er gibt es zu.« Und alle Welt bekam Angst, in einem Land wie Dänemark… auch wenn Schweden doppelt so schlimm ist. Schweden ist wirklich…

MBK: … der Weltmeister in Political Correctness.

LVT: Ja. Aber die Reaktion aus Dänemark, zum Beipiel von Seiten des Dänischen Filminstituts… Sie sagten: »Wir distanzieren uns von Lars.« Sie hätten auch sagen können: »Er sagt eine Menge dummes Zeug, aber er ist kein Nazi. Wir arbeiten täglich mit ihm zusammen, um Himmels willen! Hätte er irgendeinen Hang zu den Nazis, hätten wir das gemerkt.« Aber sie haben solche Angst um ihre eigene Position, dass…

RM: Ja, die Leute sind so argwöhnisch. »Oh, ihr seid Freunde von Lars, dann seid ihr vielleicht auch Nazis.«

LVT: Schauen Sie sich Europa an, all diese rechtsnationalen Parteien. Schauen Sie sich Trump an, dieser total faschistische Idiot. Darüber sagen sie nichts. Es ist sonderbar, denn als Trump angefangen hat zu lügen, waren alle schockiert über jede einzelne seiner Lügen… Und jetzt schenkt man seinen Lügen überhaupt keine Beachtung mehr. Vielleicht ist das so im Geschäftsleben, aus dem er stammt. Er ist wirklich ein übler Scheisskerl.

RM: Ich sah Trump in einem Interview irgendwann aus den 1980ern. Er war damals einfach ein Geschäftsmann und er sagte den Journalisten: »Wisst ihr was: Das amerikanische Volk ist so dumm, dass ich, wenn ich wollte, Präsident werden könnte.« Er sagte es und er tat es.

LVT: Er spricht die Instinkte einiger Leute an. Und natürlich gibt es ein großes Problem mit der Globalisierung, die alles schlimmer macht. All diese Leute auf ihren Booten im Mittelmeer. Es ist merkwürdig, denn es ist ja der Liberalismus, d.h. der Kapitalismus, dessen Regel besagt: »Das Beste für dich selbst und für die Welt erreichst du, wenn du dich zu einem besseren Ort aufmachst.« Das kapitalistische System führt dazu, dass du, wenn du hungerst oder Ähnliches, deine Familie nimmst und woanders hingehst. Natürlich steuerst du einen Ort an, von dem du glaubst, dass er besser ist.

MBK: Sie sind immer in Kopenhagen geblieben? Dachten Sie nie daran, einmal wegzuziehen?

LVT: Nein, ich habe mich nie wegbewegt. Ich hasse das Reisen. Ich bin ein Totalausfall.

MBK: Ich hasse Reisen auch. Das war schrecklich heute.

LVT: Wie kamen Sie hier her?

RM: Erst mit dem Flugzeug, dann Zug, dann Bus…

LVT: Fliegen ist für mich der Horror. Ich nehme nie das Flugzeug.

MBK: Ich habe davon gehört.

RM: Nochmal zu Zensur: Verspüren Sie diese mehr im Leben oder in der Kunst?

LVT: Sobald zwei Leute zusammenkommen, fangen sie an zu lügen. Und wenn du eine Familie hast, ist das natürlich noch stärker. Ich habe vier Kinder und… Nein, ich glaube nicht, dass es viel Zensur in meinem Leben gibt, und ich akzeptiere sie nicht im Film. Natürlich kann man mich dazu zwingen, wenn wir nicht genug Geld auftreiben oder…

RM: Nur das? Nur Geld und technische Gründe? Sie hatten nie eine Idee, die Sie etwa selbst schockiert hat?

MBK: Gibt es Dinge, die Lars von Trier schockieren?

LVT: Bei Nymphomaniac hatten wir eine Szene mit zwei minderjährigen Mädchen. Es sollte aussehen, als ob sie auf dem Badezimmerboden masturbierten. Das Problem mit dem Gesetz ist, dass man vorher nie wissen kann, was legal ist. Das ist sonderbar, wie wenn Sie auf der Autobahn fahren würden und niemand würde Ihnen die Höchstgeschwindigkeit nennen, nicht wahr? Man muss also so schnell wie möglich fahren und eine Strafe kassieren. Dann weiß man es. Wir wollten das Drehbuch hinsichtlich internationalem Recht geklärt wissen, aber weder das Kulturministerium noch sonst jemand gab uns irgendeinen Hinweis. Zensur existiert in vielen Ländern.

RM: Tabus?

LVT: Ja, Tabus.

RM: Pädophilie etwa? Man kann keinen Film über Pädophilie machen. Warum kann man einen Film über einen Serienmörder machen, aber keinen über Pädophilie?

LVT: Wie ich bereits gesagt habe, war ich ziemlich überrascht, dass mein letzter Film als so gewalttätig empfunden wurde, denn die Gewalt… nun, es gibt so viele amerikanische Filme – ich sah Hunderte mit mehr Gewalt. Ich kann mir vorstellen, dass sie zu sehr auf den Regisseur achten. Ich ... bzw. der Film soll wohl intellektuell sein, nicht gewalttätig. Ich weiß nicht.

RM: Ich finde das erstaunlich. Ich habe nie darüber nachgedacht, dass es gewisse Formen der Gewalt gibt, auch extremer Gewalt, an die wir uns gewöhnt haben…

LVT: Doch.

RM:  … und andere Formen, die genauso extrem sind und die man nicht zeigen darf.

LVT: Nein.

RM: Niemand macht etwas damit. Und weil niemand etwas damit macht, wird es illegal.

LVT: Ja. Ich sage gerne, dass ich die Filme machen, die mir fehlen. Wissen Sie, wenn Sie den Tisch voll mit Filmen haben und dann ist da eine Lücke: ein Film über Pädophilie. Ich fordere das nicht heraus, aber wenn ich es täte, dann…

RM: Verzeihung! Was habe ich getan…

LVT: … dann wäre das einer der Filme, die fehlten, nicht wahr?

RM: Können Sie sich einen Film vorstellen, den zu machen auch Lars von Trier nicht verrückt genug wäre?

LVT: Pädophilie ist etwas, dass ich nie anrühren würde. Ein zu starkes Tabu. Aber ich glaube zutiefst daran, dass es möglich sein muss, alle Arten Filme zu machen. Auch Filme, die das Gegenteil dessen zeigen, was wir sehen wollen. Und ich würde sagen, dass Propagandafilme, Propaganda für etwas, das wir nicht sehen wollen, genauso als Kunst funktionieren können, wie das bei unseren Filmen der Fall ist.

RM: Alles, was etwas zur Erscheinung bringt. Geht es darum, etwas zu zeigen, das sonst niemand zeigt? Ist das eine Reaktion auf so etwas wie den Mainstream? Geht es darum, den Mainstream in eine gewisse Richtung zu zwingen… ich weiß nicht, wie ich es sagen soll.

LVT: Natürlich. Indem man sich des Systems bedient, um das, was uns fehlt, in den Film zu bringen; damit unterstellt man sich der Zensur. Man ist dann nicht vollkommen frei, aber niemand ist vollkommen frei.

RM: Natürlich existiert das nicht.

LVT: Nein, sobald es zwei Personen gibt.

RM: Zensur beginnt, wenn ein anderer dazukommt? Sie existiert nicht im Kopf, wenn man allein mit sich ist?

LVT: Nein. Auch nicht bei meinem aktuellen Film The House that Jack Built. Jack ist ein Psychopath. Das ist die Diagnose, eine Krankheit. Der Psychopath, der ein wirklich böser Mensch ist… wir sehen den Film aus seiner Perspektive. Wenn zum Beispiel die Polizei kommt, dann denkt man: »Nein, bitte nicht. Nicht die Polizei!« Die Polizei kommt, um diesen bösen Typen festzunehmen, aber man ist auf seiner Seite, weil man gezwungen wurde, seinen Standpunkt einzunehmen.

RM: Ich sagte zu Mehdi, als wir letzte Woche noch einmal Idioten und Dancer in the Dark anschauten, dass sich Ihre Figuren ihrer Bösartigkeit sehr bewusst sind, dass sie mit einem tiefen Bewusstsein davon leben. Und Mehdi antwortete mir, dass er nicht dieser Ansicht sei. Er führte das Gespräch zwischen Truffaut und Hitchcock an, den Moment, da Truffaut Hitchcock auf die Frage der Schuld anspricht und Hitchcock antwortet: »Von was reden Sie da? Alle meine Filme erzählen von unschuldigen Männern in einer Welt voller Schuld.« Sehen Sie Ihren Psychopathen auf diese Weise? Dass er krank ist, dass er eher ein Opfer als ein Täter ist?

LVT: Wenn es denn ein Individuum in meinem Kopf gibt, dann sollte es möglich sein, dieses zu filmen. Wenn Sie ihn von einem Medium in ein anderes, den Film, bringen wollen. Ich kann nicht erkennen, dass es da irgendeinen Grund für Zensur geben sollte. Zum Beispiel wissen wir doch natürlich, dass die Nazis böse Kerle waren. Es war für mich daher eine Erleichterung, diesen Hitler Film mit Bruno Ganz zu sehen. Das war eine wirklich überraschende Entdeckung. Ich denke, dass es Zeit wird, ein wenig zu vergeben.

MBK: Es gab da in Frankreich diese Debatte zwischen Claude Lanzmann und Jean-Luc Godard. Ich weiß nicht, ob Sie das interessiert. Godard warf die Frage auf, ob man jetzt nicht alles zeigen könne. »Nein, das kann man nicht«, war Lanzmann’s Position. »Doch, man kann, wenn man kann«, die von Godard. Haben Sie davon gehört?

LVT: Nein. Aber wir brauchen Filme wie L’âge d’or

MBK: Salô, vielleicht?

LVT: Natürlich brauchen wir auch Salô. Aber das Problem bleibt bestehen: Die Faschisten waren die Bösen. Aber alle diese Leute ließen sich von einem riesigen System leiten, und auch sie waren Menschen. Faschisten, aber zugleich auch Menschen.

MBK: Natürlich ist auch der Faschismus menschlich. Es gibt keinen Faschismus bei Hunden, keine faschistischen Ameisen. Das ist charakteristisch menschlich.

LVT: Ja. Aber ich glaube nicht an biologische Erklärungen. Wenn es einen sehr kranken Löwen gibt, dann kommt ein anderer Löwe und tötet ihn, nicht wahr? So ein Zeugs. Das ist falsch…

RM: Der bekannte französische Produzent Marin Karmitz sagte mir einmal während einer Diskussion: »Heute sind die Faschisten die Guten.« Er meinte die amerikanischen Superhelden zum Beispiel. Das sind heutzutage die Faschisten. Und er erzählte mir, dass die Filmleute in Hollywood mehrfach täglich mit dem Weißen Haus telefonierten. Die großen Produktionsfirmen wie Warner usw. stehen in regelmäßigem Kontakt mit der Regierung. Wie denken Sie darüber?

LVT: Ich glaube ganz einfach, dass es eine Konfrontation zwischen Filmleuten und Publikum geben sollte. Wie können wir sonst jemals das System verändern, wie es angreifen, wenn es zensiert ist. Und ich glaube, wenn Trump eingesperrt würde…

RM: … oder ermordert, pardon.

LVT: Oder beides. Erst festgenommen. Oder umgekehrt. Nein, ich sage nicht, dass man ihn töten sollte, aber wenn…

RM: Wir haben noch nicht wirklich über Geld gesprochen. Filme werden gemacht, damit die Leute sie sehen wollen, und die Leute bezahlen vor allem für das, was sie bereits kennen. Das ist die sehr bürgerliche Art, wie die Leute für simple Werbung bezahlen. Man vergisst, was die eigentliche Essenz des Kinos ist. Sie müssen sich in diesem System recht einsam fühlen.

LVT: Ja, und wenn man älter wird, vergrößert sich das Problem noch. Man bekommt mehr und mehr Angst vor Konflikten, nicht wahr? Wenn ich fernsehe, zappe ich die ganze Zeit. Eine lustige Show mit einer peinlichen Situation, und oh, ich zappe weiter. Man wird zahnlos mit dem Alter. Und man akzeptiert das alles, und… auch wenn ich versuche, mich nicht in diese Richtung zu entwickeln.

RM: Das machen Sie ganz ordentlich.

LVT: Einige Journalisten haben geschrieben, dass dreihundert Leute das Kino verlassen hätten. Das ist recht gut, finde ich, zumal das nicht in Cannes war. Mitten im Film, das ist nicht schlecht. Ich habe eine Regel, die besagt, dass ein Film nur so viel Geld einspielen sollte, damit ich den nächsten machen kann. Er soll keinen Profit abwerfen, sonst kaufst du ein viel zu teures Haus und fängst an, das Geld für eine Menge blödes Zeug auszugeben…

RM: Mehdi macht das ähnlich. Er streckt erst gar nicht seine Finger danach aus, weil er Angst hat, das ihn die Maschine mit Haut und Haaren frisst. Zur Uni ist er auch nicht gegangen, weil ihm klar war, dass er es dort nur mit einer Menge dummem Zeug zu tun habe würde.

LVT: An der Filmhochschule mied ich den Kontakt mit den Professoren. Denn die waren doch nur dort, weil sie selber keine Filme machen konnten.

RM: Gibt es, zum Beispiel in Bezug auf Ihren neuesten Film The House that Jack Built, etwas, dass Sie gerne von der Kritik und den Journalisten hören würden. Ich meine, gibt es etwas, an dass Sie während des Drehs denken und von dem Sie hoffen, dass es jemand sehen wird, aber dann sagt niemand etwas dazu?

LVT: Ja, vielleicht, aber…

RM: Irgendwelche Details?

LVT: Ja, doch.

RM: Oder etwas in Bezug auf Ihre anderen Filme? Etwas, dass Sie gerne hören würden und von dem Sie recht sicher sind, dass das nie kommen wird?

MBK: Sie sind auf Band…

RM: Ja, Sie können auch sagen: »Das bleibt geheim!«

LVT: Ich glaube nicht, dass ich darauf wirklich eine Antwort geben kann. Für mich liegt das Problem darin, dass etwas Dramaturgisches in eine Form gepresst wird, in der wir dann darüber reden. Da ist etwas, dass wir mit dem allerersten Film, den wir im Fernsehen sehen, lernen. Das ist wie mit Donald Duck. Jede Geschichte darin wird auf die immergleiche Weise erzählt. Eine Methode, die Hirne der Jugend zu verseuchen. Es wäre fantastisch, einen Kaspar Hauser des Kinos zu finden, der nie zuvor einen Film gesehen hat, und ihn aufzufordern, einen Film zu machen. Das wäre ein interessantes Experiment.

RM: Das ist doch überhaupt das Thema unseres Gesprächs: Wie verlernen? Alles vergessen, was man gelernt hat, um sich seiner Zähmung zu entziehen.

LVT: Am Set von The House that Jack Built hatten wir eine kleine Tafel an allen Monitoren. Auf der stand: »Denk daran: Sei schludrig!« Bring dich nicht zu sehr ins Bild, sei ein wenig schludrig. Ich finde das wichtig. Einen Film mit der üblichen Dramaturgie zu machen ist, einfach. Aber ich benutze noch immer Methoden, auf die ich nicht stolz bin.

MBK: Zum Beispiel?

LVT: Dinge vorbereiten, festlegen. Wenn man einen Punkt hat und dann den nächsten, dann will das Hirn auch den dritten Punkt sehen. Und wenn es ihn bekommt, geht es ihm natürlich gut. Dann kann man mit den anderen verfahren, wie ich es beschrieben habe. Entscheidend ist aber, wie man die Dinge miteinander verbindet – wenn Sie da draußen z.B. ein Reh suchen, das sie aber nicht sehen. Sie sehen das Röhricht. Und dann sehen Sie vielleicht einen Vogel oder einen Fuchs oder was auch immer und Sie sagen: »Oh, da ist ein krankes Reh.« Sie stellen es sich vor, denn Sie wollen Geschichten erfinden, die Sinn ergeben.

RM: Logik mögen Sie nicht.

LVT: Nein, ich mag keine Logik. Ich habe einmal einen Film gemacht, The Boss of It All, bei dem wir einen Computer eingesetzt haben, der darüber entschied, wie die Einstellungen gemacht werden. Also platzierte ich die Kamera an einer Stelle wie sonst auch, und ich drückte auf den Knopf. Heraus kamen dann die Kameraeinstellungen, wie hoch sie platziert werden sollte, in welchem Winkel, welche Brennweite benutzt werden sollte, blabla. Auf gleiche Weise verfuhren wir mit dem Ton.

RM: Und wie fühlte sich das an?

LVT: Es fühlte sich gut an, aber es war zu wenig. Es hätte viel mehr sichtbar sein müssen. Das System war gut. Schwierig wurde es nur, als wir einen Elefanten im Zoo filmten. Wir mussten die Kamera immer wieder in die richtige Position rücken, hoch, runter und so weiter. Dann aber bewegte sich das Tier. Diese Methode ist also nichts für Naturfilme. Etwas zu kompliziert.

Interessant ist aber auch, wie ikonische Situationen entstehen. Beim Angriff auf die Twin Towers beispielsweise. Dieser Schwenk von jemandem, der den Brand filmte, die Einstellung hoch zum Flugzeug, die Explosion, das war komplett unbewusst. Deshalb würde ich auch sagen, dass das eine der besten Kamerabewegungen war, gerade weil es nicht aus der üblichen Filmarbeit heraus entstand.

RM: Mit Logik lässt sich kein Ereignis schaffen. Es passiert einfach aus Zufall.



Das Gespräch fand am 17. Juli 2018 statt.

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