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Courbets Gesicht, erfunden von Baudelaire

Michael F. Zimmermann

Courbet als Assyrer
Selbst-Karikatur und Self-Fashioning im Fialog mit Baudelaire

Veröffentlicht am 04.12.2019

1.
Selfies als Komödie und Selbstästhetisierung


Das Subjekt und die zahlreichen Masken, hinter denen es sich verbirgt, sind in der Epoche der Social Media und der Kommunikation durch Selfies ein aktuelles Thema. Wenn man gemäß eines gängigen Vorurteils Selfies lediglich als Zeugnis einer Kultur des Narzissmus wertet, so sieht man dabei von der medial vermittelten, kommunikativen Praxis ab, deren Teil sie sind. Selfies sind dafür gemacht, um gepostet zu werden – in Erwartung von »Likes« oder von Selbstablichtungen der Kommunikationspartner. Der Sinn eines Selfies ist das Feedback. Unlängst hat Wolfgang Ullrich die vielen Grimassen, die man auf Selfies schneidet, in den Vordergrund seiner Interpretation gestellt. Die Zunge rausstrecken und die Augen verdrehen sind Teil eines Spiels, das nicht allein auf den Wunsch nach ironisch gebrochener Selbstdarstellung zurückgeführt werden kann. Die Semantik der Maskerade, die in Selfies aufgeführt wird, erklärte er vor dem Hintergrund einer Semantik des Gesichts in den Social Media, die auf die geposteten Selbstporträts übergreift. So nutzen viele von uns ein System von Emoticons, das lediglich aus denjenigen »Gesichtern« besteht, die man mit den Zeichen auf der Tastatur eines Computers oder Smartphones zusammensetzen kann. Neben den klassischen :-) gibt es eine ganze Semantik von Gesichtern wie diesem: ;-P. Die Emoticons werden auf den Smartphones meist automatisch zu Emojees umgeformt und so weiter verbildlicht. Es gibt inzwischen jedoch auch Apps, in denen man seine Mimik einem Emoticon angleichen kann. Von dort aus ist das Gesichter schneiden nach dem Modell der Emoticons in Mode gekommen. So versuchen etwa anonyme wie prominente User, sowohl zu zwinkern wie zugleich die Zunge herauszustrecken – eine Grimasse, die zu ziehen erst nach einiger Übung gelingt. Berühmt ist ein Video Barack Obamas, in dem er ein solches Gesicht schneidet.1Ullrich sieht die Kultur der Selfies aufgespannt zwischen banal gewordenen Fiktionen persönlicher Authentizität und einer Maskerade, in der Selbstfindung und Selbstdarstellung grundsätzlich als komödiantisches Spiel betrieben werden.

Selfies haben zwar eine neuen Etappe in der historischen Semantik der Mimik eingeläutet, doch sind sie nur der neueste Ausdruck einer Kultur des Self-Fashioning, die ihrerseits teilhat an der alles umgreifenden, ästhetischen und immer mehr auch künstlerischen Gestaltung von Waren.2 Yves Michaud hat zu Anfang des Jahrtausends den Triumph der Ästhetik beschrieben, der von der Mode, dem Tourismus und schließlich dem omnipräsenten Corporate Design das Lebensambiente zu einem allgegenwärtigen Gesamtkunstwerk macht, in dem Kunst als Ware und Ware als Kunst ununterscheidbar geworden sind. Die »Aura« der Gegenstände löst sich von diesen und wird »gasförmig«. Der Körperkult ist Teil dieser diffusen Ästhetisierung kommerzialisierter Lebensformen.3 Vor diesem Hintergrund zeigt sich der Austausch von Selfies als Teil eines besonderen, ästhetisierten Self-Fashioning, wie es sich in den global und digital vernetzten Gesellschaften schon zu Zeiten durchgesetzt hat, als die neoliberale Freihandelsideologie noch unhinterfragt vorherrschte.

Wenig später hat der Soziologe Andreas Reckwitz die »Subjektkulturen von der bürgerlichen Moderne zur Postmoderne« durchleuchtet. Wenn er drei verschiedene Modelle der Gestaltung eines Subjekts darin auf Identitätsangebote zurückführte, die sich von der Kunst aus gesellschaftlich durchgesetzt haben, so traf er sicherlich den Trend der Zeit. Das bürgerliche Subjekt bildete sich im frühen 19. Jahrhundert im Spannungsfeld zwischen aufklärerischer moralischer Souveränität und einer expressiven Individualität, die durch die Romantik nahegelegt wurde. Von den historischen Avantgardebewegungen gingen ein Jahrhundert später zunächst utopische Subjektentwürfe aus, in denen sich der Einzelne jedoch bald in ein (zunächst avantgardistisch vorweggenommenes) technisch effizientes Kollektiv hineinprojiziert: nach Reckwitz setzt sich in diesem Spannungsverhältnis von Utopie und Technik das »nachbürgerliche Angestellten-Subjekt« durch. Seit den 1960er Jahren legte, so Reckwitz, schließlich eine Gegenkultur des Begehrens eine Subjektkultur nahe, die »sich als doppeltes Produkt eines ästhetisch-expressiven und eines ökonomisch-marktorientierten Subjektcodes« darstellt. All diese Dispositive der Subjektivierung stellen sich als Spannungsfelder dar. Sie lösen einander nicht ab, sondern bieten das Grundmaterial, aus dem moderne, hybride Subjekte sich formen. Diese können dabei in der Arbeit, im Privatleben und in den »Techniken des Selbst« durchaus kohärent agieren.4 Es dürfte nicht allzu schwerfallen, in Selfies (und Posts) ebenso moralische Souveränität wie romantische Expressivität, utopische Selbstentwürfe wie technoide Selbstinstrumentalisierung, schließlich das subversive Ausleben von Begehren ebenso wie marktkonforme Kreativität ausfindig zu machen. Hatte der Soziologe zunächst das gegenwärtige, »konsumtorische Kreativsubjekt« auf seine Wurzeln hin zurückverfolgen wollen, so widmete er sich alsbald ebenfalls dem »Prozess gesellschaftlicher Ästhetisierung«, in dessen Kern er Die Erfindung der Kreativität stellte.5 Von dort aus schreitet er fort zur Gesellschaft der Singularitäten, in der – von der Ware über die Erlebnisse zur Persönlichkeit – stets das Besondere verlangt wird, umglänzt von einer Authentizität, die sich doch stets als scheinhaft entlarvt.6


2.
Porträt und Maskerade – Subjektivität als Teilhabe

Aber steht nicht vielmehr jene diffuse Ästhetisierung selbst in Frage, die man durch die mimische Inszenierung der eigenen Physiognomie zur Schau trägt? Das Gesicht, das man hat – oder trägt – hatte schon in der bildwissenschaftlichen Debatte seit den 1990er Jahren seine Selbstverständlichkeit als Ausweis und Ausdruck einer authentischen Persönlichkeit verloren. Philosophen erinnerten zugleich daran, dass schon der im Ausgang von Cicero in der christlichen Spätantike entwickelte Begriff der Person auf die Maske, durch die es tönt (per-sona), zurückgeht und einem Diskurs über das Wechselspiel zwischen individuellem Ethos und gesellschaftlichem Rollenspiel entstammt.7 Erst als die drei Personen des dreieinigen Gottes mit diesem Begriff bezeichnet wurden, wurde auch das nach Verähnlichung mit Christus strebende Subjekt als originäre Person konzipiert.8Renaissance und Humanismus machten die Selbstbildung und -vollendung zur Aufgabe gehobener Menschlichkeit. Was jedoch der Humanist – als Höfling – aus sich gemacht hatte, sollte er – indem er die Mühen, die ihm der Zivilisationsdruck auferlegte, im Sinne der »sprezzatura« verbarg – zur zweiten Natur machen. Das Tierhafte am Menschen, auch dieses individualisiert durch das Vorherrschen der Körpersäfte wie sanguis und phlégma, cholé oder mélaina cholé, wurde der gebildeten Elite zugleich durch Fratzen präsent gehalten. Neben diese traten die »Larven«, Rollenmasken, deren illusorischer Charakter mit dem Begriff unterstrichen wird.9 Wenn Ridolfo del Ghirlandaio 1510 auf dem Deckel eines Porträts eine ausdruckslose Theatermaske darstellt und diese überschreibt mit der Devise »sua cuique persona«, so zieht er damit die humanistische Selbstbildung in den Bannkreis der Maskerade.10 Im bürgerlichen Porträt jedoch wurden seit der Aufklärung die Betrachter von autonomen Persönlichkeiten adressiert, die sie stolz mit ihrem Temperament, ihrem Habitus und ihrem gesellschaftlichen Status konfrontieren.11 In Ingres’ Monsieur Bertin ist das Spannungsverhältnis von Naturell, zweiter Natur und sozialer Rolle aufgehoben, um die Fiktion des unproblematischen Selbstbesitzes der autonomen Person zu propagieren.12 Wenn Gertrude Stein in Picassos berühmtem Porträt die Haltung des früh als quintessentiellen Bürger verstandenen Bertin annimmt, der Künstler ihr Gesicht zugleich zur Maske erstarren lässt, so werden Prinzipien des rhetorischen Porträts damit nachhaltig infrage gestellt.13

In der Folge der seit den 1960er Jahren geführten Debatte über den Tod des Autors und seine unvermeidlichen Wiederauferstehungen wurde auch in Kulturtheorie und Philosophie das Subjekt erneut problematisiert.14 Foucaults Interesse für Techniken des Selbst, Judith Butlers Verständnis von Subjektivität im Rahmen von Praktiken der Subjektivierung haben dafür sensibilisiert, dass weder die Person sich selbst jemals gegeben noch sie lediglich als prozesshaft verstanden werden kann.15 Subjektivierung erscheint als Arbeit, stets im Wechsel zwischen Affirmation und Infragestellung. Davon ausgehend wurde vermehrt ein Denken vom Subjekt auf die Gemeinschaft hin, in der es sich findet oder ausdrückt, in Frage gestellt, um umgekehrt das Subjekt als Effekt des Sozialen zu untersuchen. Die philosophische ebenso wie die soziologische Debatte dazu wird vielstimmig geführt. Konzepte des Selbstgebrauchs von Michel Foucault und – kritisch daran anschließend – Giorgio Agamben wurden entworfen, um pointiert die handelnde Teilhabe der Akteure an vielfältigen Gemeinschaften, in denen sie ihre Rolle suchen und spielen, in den Vordergrund zu rücken. Daneben treten seit Kurzem Theorien der stets auf die jeweilige soziale Formation hin entworfenen Handlung (russ. »postupok«), wie sie im Anschluss an einen als Philosophen, nicht nur als Literaturtheoretiker gewürdigten Michail Bachtin entwickelt werden. Auch eine »praxeologische« Soziologie (Pierre Bourdieu, Luc Boltanski, Reckwitz) untersucht das Subjekt, das sich in seinen multiplen Sozialisierungen (auch in die Social Media) immer wieder neu in unterschiedliche Aktionskreise hinein entwirft. Authentizität erscheint immer mehr als Fiktion eines Selbst, das sich nicht mehr nur in einem Gesicht, sondern in vielen Masken ausdrückt – und sich zugleich doch als Träger ethisch-politischer Verantwortung zu sich selbst (bzw. zum Agieren mit Blick auf Feedback) aufgerufen sieht.


3.
Courbets öffentliches Gesicht, erfunden von Baudelaire

Im Jahre 1847 reichte Gustav Courbet zum Salon, der großen Jahresausstellung der französischen Kunst, ein Selbstbildnis ein, das erst 1848 unter dem Titel »Le Violoncelliste« angenommen wurde. Er präsentiert sich darin nicht als Maler, sondern als leidend einfühlender Cellist. Den Bogen hält er in der Linken, obwohl er Rechtshänder war. Dass er sich weigert, sein Spiegelbild für das Publikum umzudrehen, so dass es wieder seitenrichtig erscheint, mochte noch als Authentizitätsmerkmal erscheinen. Dass er jedoch zudem seine Ambitionen als Maler durch seine Tätigkeit als Cellist metonymisch verschiebt, erschloss sich dem Publikum kaum. Im Vorjahr hatte der Maler das Bildnis unter dem Titel »Souvenir de Consuelo« präsentiert. Dieser Titel hätte sowohl das Rollenspiel als Musiker als auch den damit verbundenen Anspruch des Künstlers vermittelt.16 »Consuelo« ist die Hauptfigur eines vielgelesenen Romans von George Sand, der 1843 erschienen war. Beschrieben wird das Schicksal einer in Spanien geborenen Sängerin, die wie eine Bohémienne durch die Welt zieht und sich dabei von einer Volkssängerin zum erfolgreichen Opernstore entwickelt. Von »reinem spanischen Blut«, wie Sand unterstreicht, findet die aparte, orientalisierte Gestalt vom Naturtalent zu reinem, ja »heiligen« Selbstbesitz, und synthetisiert darin nicht nur ältere Vorstellungen von Synästhesie unter der Vorherrschaft der Musik, sondern auch die nunmehr sozial ausgeloteten Ebenen romantischer Musikalität. In seinem »souvenir« mobilisiert Courbet in diesem Selbstporträt ein Mythenrepertoire von der Romantik zur Realistik, welcher er sich denn auch bald zuwenden sollte. Konzipiert war diese erste Einreichung des Künstlers zum Salon als Schritt in die Öffentlichkeit, der er gleich mit seinem ersten Auftreten sein Gesicht einprägen wollte.

Doch nicht diese Selbstdarstellung als musikalisch an der Gesellschaft Leidender, sondern ein anderes Gesicht konnte sich dem großen Publikum einprägen. Seine Einsendungen zur Weltausstellung des Jahres 1855 sowie seine Ausstellung in einem privat finanzierten Pavillon neben dem Gelände der Schau machten Courbets Gesicht geradezu zum Markenzeichen seines Werks. In dem programmatisch Pavillon du Réalisme benannten, ephemären Ausstellungsgebäude zeigte Courbet ein widersprüchlich betiteltes, fast 6 m breites Gemälde: L‘atelier du peintre. Allégorie réelle déterminant une phase de sept années de ma vie artistique et morale (Das Atelier des Künstlers. Reale Allegorie, die sieben Jahre meines künstlerischen und moralischen Lebens bestimmt.17 Zur Linken sind rätselhafte Figuren zu sehen, darunter sitzend und nachsinnend im Vordergrund ein »Braconnier«, ein Jäger mit einem Jagdhund – eine relativ leicht zu entziffernde Anspielung auf Kaiser Napoleon III. Hélène Toussaint hat 1977 einen schon Ende 1854 verfassten Brief des Malers an den Kritiker Jules Husson, bekannt als Champfleury, interpretiert, in dem der Künstler auch die anderen Figuren mit enigmatischen Namen benennt. Als sozusagen wieder ernst gemachte Karikaturen spielen sie an der Pressezensur vorbei auf politische Figuren der Zeit an. Zur Rechten dagegen sind Personen zu sehen, die Courbet als »Aktionäre« seiner Kunst bezeichnete, darunter hinten der Sozialist Proudhon, die auch als Aktmodell bereits bekannte Salonnière Madame Sabatier und, in der Mitte – als Gegenüber des »Braconnier« – sitzend, der Kritiker und Vorkämpfer des Realismus Champfleury.18 Den Abschluss macht am rechten Rand der Dichter Charles Baudelaire, den Courbet aus einem Bildnis kopierte, das er schon 1848–49 gemalt hatte. In der Mitte platzierte der Künstler sich selbst, wie er Champfleury schrieb, »moi peignant avec le côté assyrien de ma tête«.19 Seine nur leicht aus dem Profil gedrehte Seitenansicht hatte er im Vorjahr in einem Selbstportrait festgehalten.

Das Gesicht machte Furore. Denn seit etwa zwei Jahrzehnten hatte sich ein Mediensystem etabliert, in dem nicht nur Salongemälde reproduziert wurden und die öffentlichen Kunstausstellungen bald auch dank Verkehrsmitteln wie der Eisenbahn von anschwellenden Besucherströmen frequentiert wurden, sondern auch die noch junge illustrierte Presse durch Karikaturen auf die bekanntesten Gemälde reagierte.20 Ein Zeichner Charles-Marie de Sarcus, bekannt lediglich als »Quillenbois«, nahm nicht nur das »Atelier« aufs Korn, indem er das schräg geneigte Haupt des Malers mit einem übermäßig langen Spitzbart ausstaffierte, sondern er fügte diesen Kopf auch in andere Selbstbildnisse des Künstlers ein, darunter den »Violencelliste«. Zehn Wochen später nahm Nadar, der berühmte Fotograf, der auch als Karikaturist tätig war, diesen Kopf wieder auf. Die Darstellung Courbets beim Malen von »cent éditions de son portrait«, dieses Mal mit einem zweispitzigen Bart, war nur die Vorstufe weiterer Szenen, die in der Selbst-Heiligsprechung des Künstlers kulminieren.21 Bald überboten die Zeichner einander in ähnlichen portraits-charge.22 Das Gesicht Courbets wurde zum Markenzeichen seiner Kunst. Der Narzissmus-Vorwurf überschattete nun sein Œuvre. Dem in der neuen Öffentlichkeit erfolgreichen Maler wurde – ähnlich wie den Produzenten von Selfies – ein Hang zu obsessiver Selbstdarstellung vorgeworfen. Auch dabei wird die Öffentlichkeit, das beabsichtigte Feedback, ausgeblendet – obschon die Karikaturisten doch gerade dieses lieferten –, durchaus zur Freude des Künstlers.

Was aber hat es mit »der assyrischen Seite meines Kopfes« auf sich? So beschrieb sich Courbet ja noch vor der Weltausstellung und der Karriere seines Gesichts als Logo seiner selbst. Tatsächlich hatte er diese Ansicht von seinem Gesicht nicht selbst erfunden. Baudelaire, auch er ein begnadeter Zeichner, hatte in einem auf die Jahre zwischen 1846 und 1848 datierten Blatt etliche Karikaturen seiner selbst und von Zeitgenossen festgehalten.23 Etwas rechts oben von der Mitte sowie links unten erkennen wir ein assyrisches Profil. Nadar hat die Köpfe später handschriftlich bezeichnet. Die Autoren des Katalogs von Baudelaires Zeichnungen mutmaßen, der Dichter habe dem Fotografen das Blatt geschenkt. Nadars Beschriftung lässt keinen Zweifel: der Assyrer ist Courbet. Daraus dürfen wir schließen: nicht nur die Gestalten auf der linken Seite von Courbets großen Atelierbild sind seriös gemachte Karikaturen, sondern auch die Hauptfigur in der Mitte. Übersehen wurde bislang ein drittes portrait-charge von Courbet auf Baudelaires Blatt. Denn hinter Nadars Inschrift unter dem zweiten Kopf von unten auf der rechten Seite sind die Augen und die Stirn des »Assyrers« aus der Ansicht von vorn erkennbar. Die Seitenansicht war dem Dichter wohl zu Recht als plakativer erschienen. Auf der linken Seite ist über dem orientalisierenden Profil des Malers ein Selbstportrait Baudelaires zu sehen. Hinter seinem eigenen Kopf platzierte er Jeanne Duval, der er in inniger Hassliebe ergeben war. Auf dem Atelierbild wollte auch Courbet die exotische Begleiterin des Dichters neben diesem erscheinen lassen. Doch Baudelaire zwang ihn, die Gestalt zu tilgen. Durch die dünne Malschicht zeichnet sich ihr Gesicht wieder ab – als Phantom, ähnlich wie in Leben und Werk des Dichters.24

Die beiden Profilansichten Courbets aus Baudelaires Zeichnung werden zwar stereotyp in fast allen Monographien und Katalogen verwendet. Doch der Kontext des Blattes wird dabei ebenso ausgeblendet wie der Sinn seiner Verballhornung Courbets, der erst im Kontext der Kunstanschauungen des Dichter-Kritikers zu erschließen ist. Ein »Assyrer« ist in dessen Welt keine beliebige Figur. Sein Artikel zur Kunst auf der Weltausstellung des Jahres 1855 hob mit einer Eloge auf das Schöne an, das nach seiner Auffassung »stets bizarr« zu sein habe.25 Eugène Delacroix ist für ihn der Meister bizarrer Schönheit. In seinem ausführlichen Bericht über den Beitrag dieses Meisters äußerte er seine Verärgerung darüber, dass dessen Werk »Tod des Sardanapal« nicht ausgestellt wurde. Baudelaire erinnert sich: »Sardanapal war selbst schön wie eine Frau.«26 Der assyrische Herrscher, der immer einem Leben des Genusses gefrönt hatte, musste mit ansehen, wie seine Stadt Ninive von den Persern erobert wurde. Für christliche Autoren seit Augustinus mahnendes Beispiel für Sünde und Dekadenz, hatte Byron doch seine Versuche herausgestrichen, sein Reich zu verteidigen. Erst als die Perser einen Fluss umleiteten, ergab er sich seinem Schicksal – und ordnete den Mord oder Selbstmord seiner Frauen, Soldaten und Sklaven um den Scheiterhaufen an, auf dem er selbst den Tod erwartete. Byron stilisiert Sardanapal zum Romantiker, der, am Ende mutig, seinen Untergang dann ebenso mit dem gleichen ästhetisch distanzierten Genuss erlebt wie vorher sein Leben in Sinnenfülle.27 Topoi, die sich auf Sardanapal beziehen, fanden auch Eingang in das Bild von Courbet, das öffentlich verbreitet wurde. 1856 veröffentlichte der Kritiker Théophile Silvestre eine Reihe literarischer Künstlerporträts, in der Courbet mit diesen Worten beschrieben wird: »Er war ein sehr schöner und sehr großer junger Mann […]. Seine auffällige Gestalt schien wie ausgewählt aus einem assyrischen Relief und danach abgegossen. Seine schwarzen Augen, leuchtend und weich geschnitten und von langen, seidigen Wimpern umrandet, hatten die ruhige, süße Ausstrahlung des Blicks der Antilope.«  Die Antilopenaugen kontrastierten jedoch mit »wulstigen, sinnlichen Lippen« und »krankhaften Zähnen«.28 Noch 1862 zitiert der Autor eines Buches über Pariser Cafés und Kneipen diese Passage.29 Weiblich orientalische Sinnlichkeit, gepaart mit den Anzeichen der Genussfreudigkeit – kein Zweifel, Courbet wurde in der Künstler-Bohème mit Baudelaires Augen letztlich als Sardanapal gesehen.

Baudelaire war damals zu Courbets Werk bereits auf Distanz gegangen. Als Reaktion gegen den Akademismus eines Ingres erschien ihm die Zuwendung zum Leben der Gegenwart zwar legitim. Doch sah er letztlich das Primat der idealisierenden Zeichnung ebenso wie das realistische Programm Champfleurys und Courbets als doktrinäre Einseitigkeit, die der »notwendigen Bizarrerie, […] in Abhängigkeit vom Temperament des Künstlers […], bestimmend für seine Individualität« entgegenstehen.30Courbet erwähnt Baudelaire 1855 in seinem Passus über Ingres, um beider »inverse Fanatismen« miteinander zu kontrastieren.31Auch den Glauben an den Fortschritt, dem Courbet im Sinne des Realismus huldigte, geißelte Baudelaire gerade anlässlich der kolonialen Leistungsschau als Kern der Ideologie seiner Zeit.32 Nach seinen Invektiven gegen die Fotografie im Bericht über den Salon des Jahres 1859, auf dem die neue Kunst erstmals zugelassen worden war,33 sollte der Dichter eine ähnlich distanzierte Nähe zu Édouard Manet pflegen.34 In Courbets programmatischen Hauptwerk tritt jedoch nicht nur Baudelaire auf, sondern der Künstler selbst mit einem Gesicht, das der Dichter erfunden hatte. Es ist eine Ironie des Schicksals, wenn der Dichter-Kritiker, um dessen Gunst er durch seine Platzierung am rechten Rand besonders warb, ihn gleichzeitig auf eine Stufe mit Ingres stellte. Aus Delacroix‘ Hauptwerk war dieses bizarre, assyrische Gesicht immigriert, während dessen prominenter Fürsprecher seinen Träger aus dem Reich bizarrer Individualität ausschloss – und damit aus dem Kreis der einzigen Authentizität, die im Zeitalter des anhebenden Kapitalismus noch möglich war, folgt man der Baudelaire-Lektüre Walter Benjamins.35

Courbet ging es wie den Versendern von Selfies darum, sich als öffentliches, verkäufliches Selbst zu gestalten. Dazu gehörte ein interessantes, auf vielfältige Weise zu erzählendes Narrativ ebenso wie ein plakatives Gesicht. Widerspruch zwischen den Narrativen ebenso wie das Aushandeln und die Infragestellung des persönlichen Geltungsanspruchs gehören zu einem Spiel, dessen Einsatz »Likes« und Herabsetzung, Triumph und Niederlage sind. Das Spiel lebt von der Hoffnung, dass das eigene Narrativ von Anderen weitererzählt wird.36 Ausgangspunkt ist das Gesicht als Maske eines Selbst, das in der Charakterkomödie individueller Selbstvermarktung immer wieder neue Rollen spielt.


Anmerkungen

1 Wolfgang Ullrich, Selfies, (Berlin: Wagenbach, 2019) 35-49 | 2 Zu beachten auch das 2008 von Lev Manovich, Dominikus Baur, Daniel Goddemeyer, Daniel Mehrdad u.a. gegründete Forschungsprojekt Selfiecity (http://selfiecity.net/#; 2.6. 2019), in dem 3200 über Instagram geteilte Selfies in Bangkok, Berlin, Moskau, New York, und Sao Paulo verglichen werden, wodurch die globale Lesbarkeit der darin verwendeten Codes unterstrichen wird. Dazu: Lev Manovich u. Alise Tifentale, »Selfiecity: Exploring Photography and Self-Fashioning in Social Media«, in: David M. Berry u. Michael Dieter (Hg.), Postdigital Aesthetics: Art, Computa-tion and Design (Basingstoke, Hampshire/England: Palgrave Macmillan, 2015) 109-122 (http://manovich.net/index.php/projects/selfiecity-exploring; 2.6. 2019). Zum Zusammenhang von Selfies und der Tradition des Stillebens: Nicholas Mirzoeff, How to See the World. An Introduction to Images, from Self-Portraits to Selfies, Maps to Movies, and More (New York: Basic Books, 2016, 29-69). | 3 Yves Michaud, L‘art à l‘état gazeuz. Essai sur le triomphe de l’esthétique (Paris: Stock, 2003). | 4 Andreas Reckwitz, Das hybride Subjekt. Eine Theorie der Subjektkulturen von der bürgerlichen Moderne zur Postmoderne (Weilerswist: Velbrück Wissen-schaft, 2006), einführend 33-96. | 5 Andreas Reckwitz, Die Erfindung der Kreativität. Zum Prozess gesellschaftlicher Ästhetisierung (Berlin: Suhrkamp, 2012), engl. The Invention of Creativity. Modern Society and the Culture of the New (Cambridge UK: Polity, 2017). | 6 Andreas Reckwitz, Die Gesellschaft der Singularitäten (Berlin: Suhrkamp, 2017). | 7 Hans Belting, Die Erfindung des Gemäldes in den Niederlanden, ([1994] München: Beck, 2010), 33-73); Hans Belting, Bild-Anthropologie. Entwürfe für eine Bildwissenschaft (München: Fink, 2001), 34-38, 115-124; Hans Belting, Faces. Eine Geschichte des Gesichts (München: Beck, 2013), 25-44, 63-83 – dort weitere Literaturangaben zur philologischen und philosophischen Geschichte des Begriffs »Persona«. | 8 Giorgio Agamben, Il regno e la gloria. Per una genealogia teologica dell’economia e del governo (Turin: Bollati Berlinghieri, 2009) 31-64. | 9 Eckhard Leuschner, Persona, Larva, Maske. Ikonologi-sche Studien zum 16. bis frühen 18. Jahrhundert (Frankfurt am Main: Peter Lang, 1997). | 10 Zur Zuschreibung siehe Polo Fiorentino Museale, PSAE Ufficio Catalo-ghi, Centro di Documentazione (http://www.polomuseale.firenze.it/catalogo/scheda.asp?nctn=00293131&value=1; 4.10.2019). | 11 Belting, Bild-Anthropologie (2001), 135. | 12 Etwas versteckt, aber maßgeblich zu »Monsieur Bertin«: Barbara Wittmann, Gesichter geben. Édouard Manet und die Poetik des Porträts (München: Fink, 2004), 22-32. | 13 Michael F. Zimmermann, »Cézannes Erkundungen seines Gesichts. Von der Selbstparodie des Mörders ›Laurent‹ zum Malen aus der Mitte der Selbstbetrachtung«, in: Barbara Kuhn (Hg.), Selbst-Bild und Selbst-Bilder. Autoporträt und Zeit in Literatur, Kunst und Philosophie (München: Fink, 2016), 213-241. | 14 Peter V. Zima Theorie des Subjekts, Tübingen und Basel (Francke, UTB) [2000] 2010 | 15 Michel Foucault, Histoire de la sexualité, Bd. 2, L’usage des plaisirs (Paris: Gallimard, 1984); dt. Sexualität und Wahrheit, 2. Bd., Der Gebrauch der Lüste (Frankfurt am Main: Suhrkamp 1986); Michel Foucault, L’herméneutique du sujet. Cours au Collège de France. 1981-82 (Paris: Seuil / Gallimard 2001), 4-10, 56-58. | 16 Petra Ten-Doesschate Chu, The Most Arrogant Man in France. Gustave Courbet and the Nineteenth-Century Media Culture (Princeton NJ et Woodstock/Oxfordshire: Princeton University Press, 2007), 26-29; Stephanie Marchal, Gustave Courbet in seinen Selbstdarstellungen (München: Fink, 2012), 121-138. | 17 Légolène Le Men, Courbet (Paris: Citadelles & Mazenod), 184-204. | 18 Brief Courbets an Champfleury, in: Petra ten Doesschate Chu (Hg.), Correspondance de Courbet (Paris: Flammarion, 1996), 121-123. Zur Identifikation der Personen auf dem Atelier-bild: Hélène Toussaint, »Le dossier de ›L’Atelier‹ de Courbet«, in: Gustave Courbet (1819-1877) (Ausst. kat. Paris, Grand Palais, 1977: Éditions des musées natio-naux, 1977), 241-272. | 19 Correspondance de Courbet (1996), 122. | 20 Bertrand Tillier (Hg.), L’art du XIXème siècle, Paris (Citadelles & Mazenod) 2016. | 21 Charles Léger, Courbet selon les caricatures et les images (Paris: Paul Rosenberg, 1920), | 22 Klaus Herding, »Courbets Modernität im Spiegel der Karikatur«, in: Courbet und Deutschland, hg. von Werner Hofmann u. Klaus Herding (Ausst. kat. Hamburger Kunsthalle und Frankfurt am Main, Städtische Galerie im Städelhaus, Oktober 1978-März 1979; Köln: DuMont 1978), 502-521. | 23 Claude Pichois u. Jean-Paul Avice, Les dessins de Baudelaire (Paris: Les éditions textuel, 2003), 18, 66, 103-04, 112. | 24 ten Doesschate Chu, The Most Arragant Man in France (2007), 45-46, 105. | 25 Charles Baudelaire, Critique d’art, hg. von Claulde Pichois, Einleitung von Claire Brunet (Paris: Gallimard, [1976] 1992), 235-258, hier 238, 595-606. | 26 Ibid., 250, 253. | 27 Jack J. Spector, Delacroix: The Death of Sardanapalus (London: Penguin, 1974), 5-47, 59-73; Vincent Pomarède, Eugène Delacroix, La Mort de Sardanapale (Paris: RMN, 1998) 8, 14; Sébastien Allard et Côme Fabre (Hg.), Delacroix, 1778-1863 (Ausst. kat. Paris, Musée du Louvre, März-Juli 2018; New York, Metropolitan Museum of Art, März 2018 – Januar 2019; Paris: Hazan, 2018), 78-85. | 28 Théophile Silvestre, Histoire des artistes vivants francais et étrangers. Études d’apreès nature (Paris: Blanchard, 1856), 242-243. | 29 Alfred Delvau, Histoire anecdo-tique des café et cabarets de Paris. Avec dessins et eaux-fortes de Gustave Courbet, Léopold Flameng et Félicien Rops (Paris: Dentu 1862), 5. | 30 Baudelaire, Cri-tique d’art (1992), 238-239. | 31 Baudelaire, Critique d’art (1992), 245-246. | 32 Ibid., 240-242. | 33 Bernd Stiegler, Philologie des Auges. Die photographische Entde-ckung der Welt im 19. Jahrhundert (München: Fink, 2001), 153-176. | 34 Siehe den berühmten Brief Baudelaires an Manet vom 11. Mai 1865, in: Œuvres complètes de Charles Baudelaire. Correspondance générale, hg. von Jacques Crépet, Bd. V. 1865 & 1866 (Paris: Louis Conard, 1949) 95-97; Claude Pichois u. Jean Ziegler, Charles Baudelaire ([1987] Paris: Fayard, 1996), 436-438; Carol Armstrong, Manet Manette (New Haven und London: Yale University Press 2002), 114-134. | 35 Walter Benjamin, »Zentralpark« [1938-39], in: Gesammelte Schriften, hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, (Frankfurt am Main: Suhrkamp, [1974] 1991), Bd. I, 2, 655-690, Bd. I, 3, 1216-1222. Siehe auch: Michael Werner, »Das Baudelaire-Buch«, in: Benjamin Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, hg. v. Burkhardt Lindner (Stuttgart: Metzler 2006), 567-584. | 36 Adriana Cavarero, Tu che mi guardi, tu che mi racconti (Mailand: Feltrinelli, 1997); engl.: Relating Narratives: Storytel-ling and Selfhood (London: Routledge, 2000).

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Michael F. Zimmermann

studierte Kunstgeschichte, Philosophie und Geschichte in Köln, Rom und Paris. 1985–1990 war er wissenschaftlicher Assistent an der FU Berlin und 1990–91 am deutschen Kunsthistorischen Institut in Florenz, von 1991 bis 2002 Zweiter Direktor am Zentralinstitut für Kunstgeschichte in München und 2002–2004 ordentlicher Professor für Kunstgeschichte der Neuzeit und der Gegenwart an der Université de Lausanne. Seither ist er Lehrstuhlinhaber für Kunstgeschichte der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt. Seine Forschungsschwerpunkte sind die Bildkünste des 19. und 20. Jahrhunderts, die Fachgeschichte und Kunstphilosophie.

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