Nicht zuletzt die 2016 abgeschlossene Restaurierung hatte die These gestützt, dass es sich bei Hieronymus Boschs venezianischem Triptychon um die Darstellung einer Wilgefortis oder Sancta Liberata handle, einer vielerorts verehrten, zum Christentum konvertierten Königstochter, die sich ihrer Zwangsverheiratung entziehen konnte und daher das Martyrium der Kreuzigung erleiden musste. Der Legende nach hatte ihr die Anrufung Gottes über Nacht einen Oberlippenbart beschert, eine rettende Mimikry an die männliche Gewalt, die den Bräutigam derart in Schrecken versetzte, dass dieser sich außer Stande sah, die beschlossene Hochzeit auch zu vollziehen. Die Mitteltafel zeigt in heller Aufregung sowohl die vom heidnischen Vater angeordnete Bestrafung als auch die Ohnmacht des Junggesellen ob einer solch schamlosen imitatio christi.
Auch wenn die Zeit aus dieser Jungfrau eine frühmoderne L.H.O.O.Q. rasée gemacht zu haben schien – denn erst die Restaurierung ließ den feinen Oberlippenbart wieder deutlicher hervortreten –, sind die eigentlichen utopischen Punkta des Werks nicht an der Oberfläche des Bildes zu suchen, sondern außerhalb des Rahmens, an den vier Gelenkstellen zwischen Mitteltafel und den bereits durch Bosch und seine Werkstatt nachträglich übermalten Seitenflügeln. Wie in anderen Triptychen des niederländischen Meisters sorgt die Horizontlinie auch hier für ein Kontinuum zwischen den Tafeln, in diesem Fall rechts auf eine Zukunftslandschaft hin, die inmitten der katastrophalen Folgen der Kreuzigung das triumphierende Schiff der alle Filiation sichernden Kirche darstellt.
Suspendiert die Betrachter:in aber die eschatologische Horizontlinie durch Aushängen und beliebiges Austauschen der rechten Tafel, dann entschiede sich die kruziale Frage nicht nur dieser »Heiligen Kümmernis« in einem ganz anderen Anderswo. Alle Genealogie wäre aus den Angeln gehoben, die Zeit buchstäblich out of joint und sexuelle Autonomie auch jenseits oberflächlicher Merkmale in einem frivolen Austausch von Seitentafeln (mitsamt ihren Rückseiten!) und nach Belieben zu imaginieren.
Hieronymus Bosch, Triptychon der gekreuzigten Märtyrerin Wilgefortis (Triptychon des Martyriums der hl. Liberata),
ca. 1495–1505, Öl auf Eichenholz, 105 x 63 cm (Mitteltafel), 105 x 28 cm (Flügel), Gallerie dell'Accademia, Venedig.
Der nichtexistente Giotto
Ein Bild mag die Zukunft weniger im Sinne einer Bezugnahme auf ein zukünftiges Ereignis ankündigen, als vielmehr durch eine falsche Datierung, indem es etwa jünger erscheint, als es eigentlich ist. Ich würde vermuten, dass durchaus der ein oder andere in diesem Bild einen unbekannten Bacon von ca. 1957 sehen würde. Einige würden den nichtexistenten Bacon im Daumier bewundern; und sich selbst für ihre außergewöhnlichen Lage beglückwünschen, den Bacon im Daumier zu erkennen. Solcherart ist die Position, in einem vergangenen Ereignis die Zukunft zu sehen.
Genauso wie man den Bacon im Daumier sieht, würde man nun den Don Quijote lesenden Don Quijote in Daumiers »Don Quijote lesend« sehen. Die Vorstellung eines Don Quijote, der etwas anderes läse, würde heutzutage fast wie ein Irrtum erscheinen. Bacons Gemälde sind wesentlich zeitgenössisch, weil sie stets aussehen wie ein Don Quijote lesender Don Quijote. Unseren Vorfahren die Fähigkeit zur übernatürlichen Vorhersehung beizumessen, ist wahrlich eine Art von Selbstlobhudelei, sind wir es doch, die den Nachweis erbringen.
Ich sage: Hören wir doch auf mit derartigen Gesellschaftsspielchen und betrachten wir den Daumier. Vergessen wir, was der alte Herr liest; er las überhaupt nichts; und überhaupt war er nie ein alter Herr. Das Wichtigste ist: Schauen Sie weg vom Buch. Achten Sie vielmehr auf das blaue Fenster in der oberen linken Ecke. Ohne große Anstrengung dürften Sie dort den nichtexistenten Giotto zu sehen bekommen.
Honoré Daumier, Don Quixote lisant (circa 1867)
Oil on wood panel / Öl auf Holz, 33.6 x 26.0 cm — National Gallery of Victoria, Melbourne
Obwohl die Zeitgenossen François Gérards Belisar romantische Qualitäten attestierten, gefiel er dem Erzromantiker Delacroix nicht: »Das Geschick eines großen Kriegers, der zum Bettler wurde, den der Tyrann, dem er alle seine Dienste weihte, des Augenlichts beraubte und der als Stütze nur ein schwaches Kind besitzt, gibt ein genügend poetisches und anziehendes Bild. Es konnte durch ein so kleinliches Detail wie diese Schlange nur verlieren. Auch der Führer, der von dem, den er führen sollte, getragen wird, mißfällt mir.« Gérard hatte in der Tat mit Bélisaire portant son guide piqué par un serpent im Salon von 1795 für Furore gesorgt, weil er die von seinem Lehrer Jacques-Louis David etablierte Ikonographie revolutionierte: Gérards trotz seines Handicaps tatkräftiger Belisar stimmt keine wehmütige Klage über den Undank der Großen dieser Welt an. Der Blinde trägt vielmehr den zwischen Tod und Leben schwebenden Epheben in eine bessere Zukunft. Gérards Belisar ist als monumentales Emblem für die émigrés gelesen worden, die nach der Exekution des Terreur-Regimes in ihr Vaterland zurückkehrten. Doch der Hoffnungsmoment liegt nicht in der Heimkehr: Belisar als Nothelfer Christophorus kehrt dem vom Sonnenuntergang trikolorisch eingefärbten Himmel über Frankreich, das einen Flächenbrand des Terrors hinter sich hat, und damit der revolutionären Vergangenheit den Rücken zu. Er wird zu einem neuen Laokoon, der hier seinen Sohn in eine ihm noch nicht einsehbare Zukunft zu retten versucht, die in der Zeit und im Raum des Betrachters liegt.
Baron François-Pascal-Simon Gérard, Bélisaire (1797)
Oil on canvas / Öl auf Leinwand, 91.8 × 72.5 cm — J. Paul Getty Museum, Los Angeles
Die erste Fassung des Belisar mit lebensgroßen Figuren aus dem Salon von 1795 ist verschollen. Hier zeigen wir die verkleinerte Version von 1797 aus dem J. Paul Getty Museum, die Jean François Léonor Mérimée oder auch Gérard selbst zugeschrieben wird.