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Ein Crashkurs in visueller Mündigkeit

Swantje Karich

Momentaufnahmeprüfung
Eine Gesellschaft in ständiger Vorschau

Aus: Lichtmächte. Kino – Museum – Galerie – Öffentlichkeit, S. 15 – 44

Du bist mit den Augen woanders.


Friederike Mayröcker


Deutsche von vorn
Bildzeugnisse als Rohstoff


Es ist kalt. Kälter als schneekalt. Eine blassgewordene Frau in einem weißgestrichenen Raum. Allein mit einem Bild. Dieses Bild hängt in einem Museum. Das Museum hat sein eigenes Licht, in dem die Frau sowohl anders schaut als auch anders aussieht als draußen.


Die Frau sieht das, was da ist, und auch das, was nicht da ist. Sich selbst darf sie außer Betracht lassen, denn vor einem Bild muss man sich nicht darstellen wie unter Menschen.


Die praktischen Normen, die Gestik und Haltung zu Körpersprache machen, sind an diesem Ort suspendiert. Die Betrachterin steht aufrecht, doch ihre Knie zittern leicht. Die Kälte, eben noch Metapher für eine Bildeigenschaft, wird physische Erfahrung durch die Unmittelbarkeit der Malerei. Das Farbenlicht des Gemäldes ist blau. Es zeigt einen Skifahrer. Er sitzt ganz allein auf der Piste. Den rechten Arm hat er aufgestützt. Den linken Skistock noch in der Hand. Er schaut zurück. Er wendet sich um. Er sieht jemanden an, jemanden mit einer Kamera. Die Frau vor dem Bild darf sich als Fotografin fühlen, die Museumssituation schreibt ihr die Kamera zu. Denn das Bild ist nicht klein und im Labor entwickelt oder vom Drucker ausgespuckt wie ein Foto, das man etwa in der Hand halten könnte, sondern ordnet den Raum zu einer Situation wie beim Fotografieren. Die Menschen, die kommen und gehen, werden zu virtuellen Schöpferinnen und Schöpfern des Betrachteten, ein Trick, der den Blick verwandelt. Wir kennen diese Situation von Velazquez’ Gemälde »Las Meninas«, auf dem der Betrachter nicht zum Fotografen, aber zum einbezogenen Beobachter einer Szene wird. Der Skifahrer aber hat der Frau gleichsam die Kamera überreicht. 


Doch nur die Pose verrät eine filmische Szenerie, sein Gesicht ist kein fotografisches Antlitz, es ist eine weiße Fläche, eine Maske. Dieser Sturz des Mannes bedeutet nicht sein Ende. Er sitzt recht gemütlich im Schnee, es wird ihm ein Leichtes sein, aufzustehen und davonzugleiten. 


Das kleine weiße Schild neben dem Gemälde sagt: Luc Tuymans, »Der Architekt« von 1997.


Der dargestellte Architekt ist Albert Speer. Die Szene ist ein Standbild aus einem Privatvideo. Wenn wir die Nobilitierung dieses Schnappschussprodukts zum museumstauglichen Bild mitvollziehen, erleben wir eine Fallhöhe zwischen primärer Zufallsentstehung und sekundärer malerischer Absicht: Richtig, Albert Speer stand, wie wir wissen und hier erinnert werden, immer wieder auf – nicht nur beim Skifahren, sondern auch nach den ­Nürnberger Prozessen und seiner langjährigen Haftstrafe. 


Das Dargestellte löst zwei Filme vor dem...

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Swantje Karich

Swantje Karich

ist Kunsthistorikerin, Kunstkritikerin, Kennerin des Kunstmarkts und Redakteurin bei der F.A.Z. Sie hat in Bonn und Leicester, England, Kunstgeschichte, Germanistik und Philosophie studiert und in Berlin die Journalisten-Schule besucht. Sie lehrt in Frankfurt beim Studiengang »Curatorial Studies – Theorie – Geschichte – Kritik«, in Berlin an der Humboldt-Universität am Institut für Kunst- und Bildgeschichte sowie an der Martin-Luther-Universität Halle.

Weitere Texte von Swantje Karich bei DIAPHANES
Dietmar Dath, Swantje Karich: Lichtmächte

Bilder, wohin man schaut – an der Wand wie in der Hand. Das Visuelle ist in Bewegung: Zwischen Massen-, Sammler- oder Bildungsgut verschieben sich die Grenzen. Das Kino lernt mit digitalen Produktions- und Verbreitungsbedingungen zu leben. Die Bildende Kunst sieht ihren Anspruch auf Autonomie von ökonomischen, ästhetischen und politischen Schocks erschüttert. Die gängige Kritik daran hat viele Namen: »Simulation«, »Kulturindustrie«, »Spektakel«. Wer so redet, spaltet die Welt: Auf der einen Seite stehen die Bilder, auf der anderen die kritischen Köpfe. Aber kritische Unschuld gibt es nicht. Wer das leugnet, versperrt den Weg zur visuellen Mündigkeit. Gerade sie aber kann andere Bilder denken als die herrschenden. Mal essayistisch, mal in Dialogform steckt Lichtmächte entlang von Filmkritik, Kunstkritik, Kunstgeschichte und politischer Analyse die Probierfelder für ein aufmerksames, neues Sehen ab.