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Häuser außer sich


Johannes Binotto

Perverse Schauplätze: Dario Argento

Aus: TAT/ORT. Das Unheimliche und sein Raum in der Kultur, S. 247 – 280

»So I thought to myself ›How would it be possible to force someone to watch the gruesome murder and make sure they can’t avert their eyes?‹«


Dario Argento
»


Da ist ein Mann, der vom Fenster entzweigeschnitten wird.«

André Breton: Erstes surrealistisches Manifest


Ganz unten


Eine leere Straße, die Häuser in blaues und rotes Licht getaucht. Zwischen den Gebäuden ist eine Lücke. An der Wand zwischen den Häusern steht »No Parking« geschrieben: Hier ist kein Ort zum Verweilen, zum Parken, sondern ein Ort des Transits, des Übergangs in eine andere Welt. Im Boden befindet sich eine Luke, die von der Ober- zur Unterwelt führt. Eine junge Frau öffnet die Luke und steigt in einen Keller hinunter. Doch unter dem Keller wartet ein Zweiter. Und auch in diesem zweiten Keller klafft ein mit Wasser gefülltes Loch im Boden. Was zunächst als Pfütze erscheint, entpuppt sich als Öffnung zu einem weiteren Raum unter den Kellern. Doch dieser unterirdischste Raum, in den die junge Frau auf der Suche nach ihrer verlorenen Brosche taucht, ist keine Höhle oder Grotte, wie man erwarten könnte. Stattdessen findet die Frau einen reich ausstaffierten, bürgerlichen Salon vor, mit Teppich auf dem Boden, Kronleuchter an der vertäfelten Decke und Gemälden an der Wand. Unter den Kellern, unter Wasser, ist ein Wohnzimmer, in welchem die Frau sich schwimmend umhertastet, keine Gefahr ahnend. 


Prägnanter als mit dieser Sequenz zu Beginn seines Films Inferno aus dem Jahr 1980 lässt sich die Obsession des italienischen Regisseurs Dario Argento für den Raum des Unheimlichen kaum zeigen. Es ist eine Obsession, die sich gerade auch darin zeigt, dass ihr jegliche narrative Logik untergeordnet wird. Unmotiviert – und für den Rest des Films ohne Folgen – wird diese Sequenz von keiner anderen Logik vorangetrieben als jener der räumlichen Bewegung.1 Nicht vergebens folgt die Kamera in einer Einstellung einem Wasserrinnsal, das über die Kellerwände und den Boden bis zum Wasserloch fließt. So, wie das Wasser der Schwerkraft gehorchend immer nur abwärts rinnen kann, so drängt es auch die Figur und uns Zuschauer immer tiefer bis ganz nach unten. Aber am Ende dieser Bewegung der Schwerkraft wartet die überraschende Erkenntnis, dass die Naturgesetze bei Argento außer Kraft sind. Denn was am tiefsten Punkt unter der Erde wartet, ist ein Zimmer, wie man es nur von der oberirdischen Welt kennt. So wie in der topologischen Figur des Möbiusbandes, deren Unter- zugleich auch ihre Oberseite ist, so erwartet einen in der Tiefe von Argentos Architekturen das, was man von Oben kennt.


Das Zimmer, in welches die Frau taucht, ist entstellt in mehrfacher Hinsicht. Nicht nur beeinträchtigt das Wasser die Sicht, das ganze Zimmer ist wortwörtlich ent- oder ver-stellt: Es befindet sich nicht am rechten Ort. Das ehemals Vertraute ist unvertraut geworden, das Heim unheimlich. Und wie bei Freud geht es auch hier um eine Rückkehr an den Ort, wo man zuallererst – und doch noch nie war. Es geht um die Rückkehr an jenen Ort, wo man noch nicht war, wo man noch nicht existierte, wo man noch tot war. Was der jungen Frau in diesem unterirdischen Zimmer begegnet, ist denn auch der Tod in Form eines halbzersetzten Leichnams, der durch das Wasser treibt. Argento scheint damit zu illustrieren und zum Extrem zu treiben, was bereits Walter Benjamin über den bürgerlichen Salon geschrieben hat: 


»Das bürgerliche Interieur der [achtzehn]sechziger bis neunziger Jahre mit seinen riesigen, von Schnitzereien überquollenen Büfetts, den sonnenlosen Ecken, wo die Palme steht, dem Erker, den die Balustrade verschanzt, und den langen Korridoren mit der singenden Gasflamme wird adäquat allein der Leiche zur Behausung. ›Auf diesem Sofa kann die Tante nur ermordet werden.‹ Die seelenlose Üppigkeit des Mobiliars wird wahrhafter Komfort erst vor dem Leichnam.«2

So plötzlich, wie die Leiche in Argentos Salon auftaucht, möchte man meinen, dass es sich dabei um eines jener untoten verwesenden Monster handelt, die man aus den Erzählungen Lovecrafts kennt.3 Doch dieser Leichnam ist tatsächlich leblos. Es sieht nur so aus, als würde die Leiche die Arme nach der Frau ausstrecken, in Wahrheit aber bleibt dieser verwesende Körper ein gänzlich passives Objekt. Das ist jedoch beängstigender als jedes Monster. Denn ein Monstrum ist seinem lateinischen Namen nach ja das, was sich zeigen (monstrare) lässt und gerade im Akt dieses Zeigens gebannt wird. Das Monstrum hat damit letztlich eine Schutzfunktion. So wie in der Phobie das phobische Objekt eine ansonsten frei flottierende Angst bündelt und auf ein Ding konzentriert, so dient auch das Monstrum dazu, die Angst zu fixieren. Das Monstrum ist somit auch eines jener phantasmatischen Bilder im Fensterrahmen, von denen Lacan spricht, ein Reiz- und Sichtschutz, der uns abschirmt vor dem, was hinter dieser Schutzdichtung lauert. 


Der Leichnam in Inferno jedoch hält eine solche Beruhigung nicht bereit. Die Angst hängt nicht an diesem unförmigen Ding. Die Angst steckt im Interieur des Zimmers selbst und breitet sich von dort überall hin aus. Wenn die junge Frau aus diesem Pool des Unheimlichen auftaucht, muss sie – und mit ihr der Zuschauer – merken, dass sie damit dem Schrecken nicht entrinnen kann. Auch die oberirdischen Räume im Film Inferno sind nicht weniger abgründig als die Kammern im Untergrund. Wenn tief unter der Erde ein Wohnzimmer sein kann, dann können sich auch oberirdische Räume plötzlich als Kellergewölbe entpuppen.


In einer anderen Szene des Films wird besonders eindrücklich sichtbar, wie nah bei Argento unter- und oberirdischer Raum beieinander liegen – und wie mitten im Alltäglichen sich Abgründe des Irrationalen auftun. In einer Einstellung erheben sich im Hintergrund die Hochhäuser von New York, aber im Vordergrund führt eine düstere Brücke über einen brodelnden Fluss. Hypermoderne Architektur und Schauerromantik treffen in einem Bild aufeinander. Der gruselige Untergrund dringt an die Oberfläche und die elegante Oberfläche war immer schon schauerlich. So schreibt Jean-Baptiste Thoret im Zusammenhang mit Inferno: »…rien ne s’oppose, tout communique, comme dans un cauchemar – les niveaux de réalité et de temps, les esprits, les situations, les espaces …«4 Im Unheimlichen und dessen räumlicher Verwindung lösen sich die Unterscheidungen auf. Alles ist verbunden – innen und außen, Traum und Wachen. 


Mörderische Weiterführungen


Der schneidende Vorwurf eines Kritikers, die an sich virtuos gedrehten Sequenzen von Inferno seien auf ganz unmögliche Weise zusammenmontiert und hätten meist keinen Bezug zur Story,5 ist vollkommen gerechtfertigt. Doch wird dabei übersehen, dass gerade darin die Originalität von Argentos Kino besteht. Der Filmemacher tauscht die narrative Logik konsequent gegen eine (Un-)Logik des filmischen Raumes. Er beweist sich damit als Erbe von Fritz Lang und dessen ebenfalls am Raum ausgerichteten Kino. In der Tat hat Argento in Interviews verschiedentlich seine Verehrung für den Meister aus Deutschland deklariert.6 Eine Verehrung freilich, welche sich nicht mit bloßen Zitaten und Anspielungen begnügt, sondern welche die Vorbilder gar noch zu übertrumpfen versucht. In den labyrinthischen Filmgängen von Fritz Langs Metropolis und den obskuren Kammern Mabuses verirrt man sich zwar, kann am Ende aber doch wieder aus ihnen herausfinden; in jenen von Argento hingegen ist man rettungslos verloren. Den Zuschauern geht es wie der Frau, die aus dem Zimmer unter der Erde nach oben taucht: Während man noch meint, aus dem Untergrund des filmischen Raums aufzusteigen, stürzt man in Wahrheit nur immer tiefer in ihn hinab. 


»Mörderische Weiterführungen« – so hat Gérard Genette jene Formen der Transtextualität genannt, in denen ein jüngerer Text sein Vorbild verdrängt und in sich aufgehen lässt.7 Genette selbst vergleicht dieses literarische Verfahren mit Freuds Mythos aus Totem und Tabu von der Urhorde, die den Urvater töten und ihn dann auffressen.8 So, wie die Söhne den omnipotenten Urvater zwar ermorden, seine Leiche verzehren, ihn aber später in Form eines abstrakten Gesetzes (das Inzesttabu) unsterblich machen,9 so ähnlich verfährt auch Argento mit seinem Vorbild Fritz Lang: Er weidet die Filme Langs aus, er legt deren stilistischen Eigenheiten und Inszenierungsideen frei, um sie sich vollständig einzuverleiben und noch zu radikalisieren. Eine solche Weiterführung zeigt sich beispielsweise auch darin, dass Joan Bennet, die Hauptdarstellerin in Langs Secret Beyond the Door in Argentos Suspiria wiederkehrt, um dort den letzten, fulminanten Auftritt in ihrer Karriere zu haben. Während Bennet bei Lang eine Frau spielt, die frisch in ein neues Heim zieht und allmählich dessen unheimliche Abgründe erkundet, ist sie in Argentos »mörderischer Weiterführung« nun selbst Hausherrin eines noch viel schrecklicheren Anwesens. Und während Langs Architekt Mark nur eine vage Theorie darüber hat, wie Zimmer Morde provozieren, wird bei Argento diese These konkret ausgeführt. In Marks Räumen fehlten die Leichen; Argento wird sie uns zeigen, die Opfer, die der Raum auf dem Gewissen hat. 


Welche Dominanz der Raum bei Argento erlangt, zeigt sich bereits in der Anfangssequenz von Suspiria: Die junge Balletttänzerin Suzy Banyon durchschreitet auf dem Weg zu ihrer neuen Tanzschule im deutschen Freiburg die Schalterhalle des Flughafens. Dazu erklingt Filmmusik, doch nicht kontinuierlich, sondern im Rhythmus der automatisch auf- und zugehenden Schiebetür des Flughafeneingangs. Die automatische Tür skandiert gleichsam die Tonspur. Dieser Effekt ist umso merkwürdiger, als ihn nicht nur der Zuschauer, sondern offenbar auch die Tänzerin im Film wahrnimmt, wie ihr verwunderter Gesichtsausdruck andeutet. Die nicht-diegetische Filmmusik, die eigentlich nur wir Kinozuschauer hören, wird plötzlich auch von einer Figur innerhalb der Handlung wahrgenommen. Die akusmatische Musik, jener geisterhafte Klang des hors-champ, quillt ins Bildfeld hinein. Die Schiebetür, welche die Schalterhalle vom Draußen trennt, wird damit (ähnlich wie die ominöse Tür von Zimmer 7 in Langs Secret Beyond the Door) zur Schleuse zwischen dem Innerhalb und dem Außerhalb des Films, zwischen Diegese und Extradiegese. Doch was in Langs Film der Höhepunkt, ist für Argento nur der Ausgangspunkt: Die Schiebetür am Flughafen ist die allererste Tür, die wir in Suspiria zu sehen bekommen. Schon die erste Öffnung erweist sich somit als unheimliche Passage, die zwischen vormals streng getrennten Ebenen vermittelt. Und sie öffnet sich nicht bloß einmal, wie bei Lang, sondern in stetigem, automatischem Puls. Sie kündigt damit an, wie auch alle anderen Türen (und auch die Fenster, Gänge und Winkel) in diesem Film funktionieren werden: als lauter Ein- und Ausgänge des Unheimlichen.


Nur wenige Szenen später sucht eine andere Tänzerin bei ihrer Freundin Unterschlupf. Doch die anheimelnde Geborgenheit, die das Gästezimmer verspricht, entpuppt sich sogleich als unheimlich. Prompt manifestiert sich dieses Unheimliche als Situation vor und hinter einem Fenster: Obwohl das Fenster des Zimmers nur tiefschwarze Dunkelheit zeigt, ahnt die Frau, dass in der Dunkelheit vor dem Fenster eine fremde Präsenz lauert. Als sie versucht, mithilfe einer Tischlampe in die Dunkelheit hineinzuleuchten, ist zunächst nichts zu sehen. Erst als sich ihr Blick – und mit ihm jener der Zuschauer – ganz in die Dunkelheit versenkt, wird plötzlich etwas erkennbar: ein rasch auftauchendes und wieder verschwindendes Augenpaar. So, wie die hypnotischen Augen Mabuses von der schwarzen Leinwand herabsehen, so starrt uns auch hier ein Augenpaar aus der Dunkelheit an (Abb. 38). Doch dabei bleibt es nicht. Ein Arm durchstößt von draußen die ­Fensterscheibe, packt den Kopf der jungen Frau, presst ihn von innen gegen die Scheibe. Wir sehen von hinten, wie der Kopf gegen das Fenster gedrückt wird. Im nächsten Augenblick sehen wir von vorne, wie das angst- und schmerzverzerrte Gesicht der Frau an der Fensterscheibe platt gedrückt wird. So wie in Edgar Allan Poes »The Masque of the Red Death« die Fenster der Innenräume statt nach draußen nur wieder auf einen weiteren Innenraum aufgehen, verkehrt sich auch bei Argento die Aus-Sicht unversehens in Ein-Sicht. Aug- und Fluchtpunkt fallen zusammen, Außen vor ist innen drin. 


Diese Szene ist gewissermaßen die Animation der Zeichnungen des Wolfsmannes oder von Lacans Psychotikerin. Auch hier korreliert der eigene Blick nach draußen mit dem bedrohlichen Blick nach drinnen. Indem die Kamera unentwegt vom Inneren der Räume nach Draußen springt und umgekehrt, evoziert der Film das Unheimliche als topologischen Raum. Der Standpunkt der Kamera lässt sich nicht festlegen, nicht orientieren. Daraus folgt unweigerlich auch eine Desorientierung des Zuschauers. Wenn zu Beginn der Szene die Freundin des zukünftigen Opfers das Zimmerfenster schließt, bleibt die Kamera im Dunkeln außen vor. Auf der Tonspur hören wir indes nach wie vor die beiden Frauen miteinander sprechen. Das Objektiv ist also draußen, das Mikrofon aber bleibt drinnen. Ton und Bild, jene zwei Seiten des filmischen Mediums, besetzen gegenüberliegende Positionen. Die Audio/Vision ist in sich gespalten. Die Apparatur des audiovisuellen Mediums als Ganze aber ist an beiden Orten zugleich, innen und außen im selben Moment.


Vielsagend ist darum auch die Tapete des Zimmers, in dem diese Szene spielt: Beim Ornament aus Fischen und Vögeln handelt es sich um die Reproduktion des Holzschnitts Luft und Wasser von Maurits Cornelis Escher10 (siehe Abb. 39). 


Eschers Bilder, insbesondere jene von unmöglichen Bauwerken, sind denn auch das visuelle Leitmotiv in Argentos Suspiria. Nicht umsonst liegt die Tanzschule, in welcher der Film vorwiegend spielt, an der »Escher-Straße«. Und auch die eigenartigen Verwinkelungen der malerisch roten Außenfassade mit ihrer unstimmigen Perspektivität ähneln Eschers unmöglichen Architekturen. So kündigt bereits der äußere Augenschein an, wie verwirrend und labyrinthisch die Innenräume sein werden.


Auch der Geheimgang zum geheimen Zentrum der Tanzschule verbirgt sich ausgerechnet hinter einer Wandmalerei, die explizit Eschers berühmte Grafik Belvedere zitiert (Abb. 40).11

Die Botschaft solcher visuellen Zitate ist eindeutig: Die unheimlichen Räume von Suspiria gehorchen, genau so wie die unmöglichen Architekturen in den Zeichnungen Eschers, nicht mehr der euklidischen Geometrie. Es sind topologisch verkrümmte Wahngebilde, aus denen es kein Entrinnen geben kann, weil man am Ende eines Ganges immer nur an dessen Anfang steht.



Häuser außer sich


Wie Holmes mörderisches Hotel in Chicago, Piranesis unendlichen Kerkerräumen oder die Gebäude und Zimmer bei Poe oder Gilman, so sind auch die Architekturen in Argentos Filmen Behausungen, die nicht nur etwas umschließen, sondern ihren Inhalt erst produzieren und zugleich mortifizieren. Die Behausung erweist sich als Apparat zur Folter.


Ein solcher Folterapparat ist denn auch jenes Betonhaus in Tenebre, in dem ein lesbisches Paar grausam ermordet werden wird. Dabei ist dem Haus seine Destruktivität schon von außen anzusehen: Statt als kompakte Einheit erscheint das Gebäude, als wären seine Raumteile nur lose ineinander geschoben – ein Klötzchen-Bau aus Beton, der sich ebenso rasch auseinander nehmen lässt, wie er zusammengesetzt wurde (Abb. 41).


Der einst solide Beton verspricht keinen Schutz mehr. Stattdessen führt er in seiner Fragilität vor, wie prekär auch die Lage der Bewohner ist. In diesem Film, der sich ohnehin unablässig um Imitationen, ums Nachspielen von Situationen und Ereignissen dreht, tut auch der Mörder, der ins Haus einbricht, nichts anderes, als nur jene destruktive Gewalt nachzubuchstabieren, die bereits im Bau des Hauses ­präfiguriert ist. 


Indes ist es das Kino-Auge der Kamera, welches das Gebäude vollends zu einem perfiden und unheimlichen Folter-Labyrinth macht: In einer virtuosen Plansequenz umkreist die Kamera das Haus, gleitet die Wände entlang und über das Dach, erkundet die Mauern, ihre Lücken, Ritzen und Vorsprünge. Die Architektur erscheint durch diesen inspizierenden Blick indes nicht kohärenter, sondern nur noch verwirrender. Der Ort erweist sich als Schau-Platz im wahrsten Sinne des Wortes: Ein Platz, der durch die Kamera-Schau transformiert, gar erst geschaffen wird. 


Ob bewusst oder unbewusst wird hier ein Moment nachgebildet, das sich bereits in Man Rays surrealistischem Film les mystères du château de dé von 1929 findet. Auch dort schraubt sich eine entfesselte Kamera um die Außenansichten eines modernen Wohnhauses herum und erbaut damit erst jenes mysteriöse Traumschloss, von dem der Titel spricht. Man Ray hatte damit in Filmbilder gefasst, was bereits Louis Aragon, Surrealist der ersten Stunde, über die unheimlichen Möglichkeiten des Films schrieb: »Kinder starren manchmal auf einen Gegenstand, bis ihn die Aufmerksamkeit groß macht, so groß, dass er ihr ganzes Gesichtsfeld einnimmt, ein geheimnisvolles Aussehen gewinnt und jeden Bezug zu irgendeiner Zwecksetzung verliert. […] In gleicher Weise verwandeln sich auf der Leinwand Gegenstände, die eben noch Möbel oder Familienbücher waren, derart, dass sie zu Trägern bedrohlicher und geheimnisvoller Bedeutung werden.«12 So wie die Kamera vormals vertrauten Gegenständen ein unheimliches Eigenleben einhaucht, so verfährt der Film auch mit ganzen Gebäuden und verwandelt auch dort Vertrautes in Fremdartiges. Das zwischen Vertrautheit und Fremdheit schwankende Unheimliche entspricht dem Raum des Films, der sich im Akt des Filmens unablässig verwandelt, Metamorphosen durchläuft. Das Heimische, Heimelige wird durch das Kino-Auge un-heimlich. Die Kamera verwandelt das Haus in ein Mordwerkzeug.


Offensichtliches Thema und zugleich die den ganzen Film bestimmende Form ist das mörderische Haus in Inferno (USA 1980). Immer wieder durchstreifen Figuren auf der Suche nach verschwundenen, ermordeten Personen das imposante Wohnhaus, in dem der Film hauptsächlich spielt. Unablässig wird der Bau des Hauses studiert, wird im obskuren Buch seines Architekten gelesen, und immer wieder verweilt die Kamera auf der Fotografie und der Außenansicht des Hauses, als liege hier die Lösung für die surrealen Verbrechen, die in ihm geschehen. In der Tat: Wenn der Architekt des Hauses behauptet, der Schlüssel zu seinem Geheimnis liege »unter den Schuhsohlen« seiner Bewohner, so sind diese Worte ganz wörtlich zu verstehen: Im Bau selbst liegt sein Geheimnis verborgen. Wie sich im Laufe des Films herausstellt, befindet sich ein geheimer Raum zwischen den Etagen, ein ­verborgenes Stockwerk, in dem das tödliche Grauen nistet. Das ist der Raum, aus dem der Mörder kommt, und zugleich der Raum, in dem die Opfer verschwinden. Die verborgene Etage ist ein unnützer, überflüssiger Raum, und gerade dadurch eine ideale Lokalität für all das, was über die Alltagsrealität hinausgeht: ein Stauraum also für das, was mehr ist als nur heimlich-vertraut, hier ist der Tat/Ort des Unheimlichen. 


Die Verwirrung, der Wahn, der die Bewohner dieses Hauses befällt, hat damit seine Ursache in der Architektur. Die Desorientierung der Figuren wird provoziert durch einen Bau, der nicht vollständig orientierbar ist, der von Schichten und Zwischenräumen durchzogen ist, die in keinem Plan eingezeichnet sind. Nicht erst die Figuren, der Bau selbst ist außer sich, psychotisch verdreht – und wer ihn bewohnt, den macht er wahnsinnig. 


Fragmentierung


Freilich kann es bei dem Wahn nicht bleiben. Die geistige Versehrtheit ist nur die Vorstufe körperlicher Traumata. Auch dafür liefern die filmischen Räume von inferno die Vorlage. Die Risse und Brüche in Argentos Architekturen manifestieren sich direkt physisch in den Körpern ihrer Bewohner. Wie schon bei Lovecraft wird damit Vitruvs These von der anthropomorphen Architektur bis zur radikalsten Konsequenz weitergedacht. Wenn Vitruv die idealen Maße eines Tempelbaus aus den Größenverhältnissen der Körperglieder herleitet,13 liegt es nahe, Fragmentierungen des Raums mit Zerstückelung des Körpers eng zu führen.


So mag man denn auch einige der rätselhaftesten Sequenzen in diesem Film entsprechend erklären. Das Bild eines Gewirrs aus Holzbalken etwa, das uns Argento im Laufe von Inferno zeigt (Abb. 42), hat keinerlei narrative Motivation. Eine Verortung dieses buchstäblichen Un-Ortes ist nicht möglich, weder in Hinsicht auf seine Bedeutung für die Erzählung noch in Hinsicht auf den Handlungsraum. Was man hier sieht, ist vielmehr ein reines Sinnbild, gleichsam eine Ikone der Zerstückelung – sowohl des Raumes wie des menschlichen Körpers. In einer anderen Sequenz betritt eine Figur ein verwüstetes Zimmer. Und auch wenn sie hier nicht zu Tode kommt, so fungiert die surreale Unordnung im Zimmer doch bereits als Vorwegnahme jener Verwüstungen, welche die Figur am eigenen Leib erfahren wird. Eine Einstellung in Il gatto a nove code (I 1971) scheint – obwohl sehr viel weniger auffällig inszeniert – eine ähnliche Funktion zu erfüllen: Im nächtlichen Zwielicht erscheint der imposante Raum einer Klinik durch Säulen, Licht und Schatten verwirrend fragmentiert. Die Personen, die eine Treppe im Fluchtpunkt des Raumes hochsteigen, verwandeln sich dabei in unförmige Flecken, die sich mit den zerstückelten Schatten der Architektur vermischen. In Profondo Rosso (I 1976) schließlich verweilt die Kamera an einem Tatort nicht auf seinem scheinbar zentralen Gegenstand, der Leiche, sondern zeigt – wiederum scheinbar unmotiviert – in Großaufnahme die zerbrochene mit Blut beschmierte Scheibe, durch die das Opfer kopfüber gestürzt ist (Abb. 43). 


Den Scherben des Glases zollt Argento mindestens so viel Aufmerksamkeit wie dem zerschnittenen Körper des Opfers und macht damit den intimen Zusammenhang zwischen beidem klar.


Einbruch und Ausstülpung


Diesen letalen Zusammenhang zwischen räumlicher Fragmentierung und Verwundung des Körpers gilt es genauer zu betrachten: Jede Fragmentierung wiederholt die grundlegendste aller räumlichen Operationen, den einfachen Schnitt durch einen homogenen Raum. Dieser erste Schnitt ist die erste Organisation, die erste Strukturierung eines Raumes. Er definiert in einem Zug hier und dort, separiert das Innere vom Äußeren. Diese grundsätzliche Unterscheidung ist nicht nur in architektonischer Hinsicht fundamental. Sie konstituiert, wie bereits argumentiert wurde, Subjekt und Objekt als Positionen im Raum und Seinsweisen. Wo sich aber, wie in Freuds Unheimlichem, diese Unterscheidung verwischt, steht folglich immer auch das Subjekt selbst auf dem Spiel. Der Umschlag vom Innen ins Außen (und umgekehrt) ist tödlich in einem radikalen Sinne, er vernichtet alle Vorstellungen von Subjekt und Objekt. Die Schlafwandlerin in Argentos Phenomena (I/CH 1984), die, auf einem Sims stehend, in ein leeres Zimmer hineinblickt (Abb. 44), verbildlicht diesen Umschlag. Wie in einem Gemälde von René Magritte ist sich der Zuschauer für einen Moment in der Unterscheidung zwischen innen und außen unsicher.14

Wie im Traum des Wolfsmannes und im Wahn der schizophrenen Isabelle wird der Raum vor dem Fenster ununterscheidbar vom Raum dahinter, Subjekt und Objekt implodieren. Argento setzt auch diese Implosion ins Bild: Ins Zimmer stürzt eine blutüberströmte Frau, deren Gesicht wiederum durch das Fenster fällt – zugleich hinein und hinaus. Ein Dolch bricht durch ihren Kopf, ragt aus ihrem aufgerissenen Mund. Das Innen quillt nach draußen, das Außen durchbohrt das Körperinnere. 


Diese Kollision von Exteriorität und Interiorität ist bei Argento mithin immer auch eine zwischen Außenwelt und Körperinnerem. So wie sich räumliche Destruktion im und am Körper der Figuren niederschlägt, so fungiert umgekehrt der menschliche Körper als Raum, den die Kamera zu (de-)montieren sucht. Einige der eigenartigsten Sequenzen in Argentos Œuvre sind Aufnahmen wie jene, wo die Kamera einer Schlaftablette auf ihrem Weg durch die Speiseröhre folgt (in La sindrome di Stendhal) oder wo die traumatischen Erinnerungen des Mörders mit einem Bild von dessen zuckendem Hirn eingeleitet werden (in opera). Eingeweide und Bauwerk bilden in solchen Szenen nicht nur Analogien, sondern werden vielmehr direkt miteinander identifiziert.15 Die Kamera dringt übergangslos vom einen ins andere vor, Mikro- und Makrokosmos vermischen sich. 


»Öffnet den sogenannten Körper und hebt alle ihn bedeckenden Schichten ab: Es genügt nicht, die Haut mit all ihren Runzeln, Falten, Narben, mit all ihren großen, samtigen Flächen und die an sie angrenzende Kopfhaut mit dem Haarvlies, das weiche Schamfell, die Brustwarzen, die Nägel, die durchsichtige Hornschicht unter der Ferse, die mit Wimpern besetzte, durchscheinend dünne Substanz der Lider zu öffnen, man muß auch die großen Schamlippen öffnen, bloßlegen und deutlich zeigen, auch die kleinen, mit Schleim bedeckten Schamlippen mit ihrem blauen Adernetz, man muß das Diaphragma des analen Schließmuskels dehnen, einen Längsschnitt machen und den schwarzen Kanal des Mastdarms glätten, dann den des Dickdarms, des Blinddarms […]. Wie man mit einer Schneiderschere ein altes Hosenbein aufschlitzt, so muß man jetzt die sogenannte Innenseite des Dünndarms, des Leerdarms, des Krummdarms, des Zwölffingerdarms freilegen.

[…] 

Und zu der völlig von Nerven durchzogenen, wie ein vergilbtes Blatt gekrümmten Handfläche müßte man vielleicht Lehm hinzufügen, oder auch mit Silber inkrustierte Kreuze aus hartem Holz, oder das Lenkrad eines Autos oder auch den Schalthebel eines automatischen Flugnavigators. Man darf nicht vergessen, die Zunge und alle Teile des Sprechapparats mit allen Tönen zu verbinden, die sie hervorbringen können, und außerdem noch das gesamte Selektionsnetz von Klängen, das ein phonologisches System darstellt, denn auch das gehört zum libidinösen «Körper», wie die Farben, wie bestimmte körnige Strukturen der Epidermis, die man den Netzhäuten hinzufügen muß, wie einzelne Gerüche zu den Nasenschleimhäuten, wie bevorzugte Wörter und syntaktische Wendungen zu den Mündern, die sie sprechen, und den Händen, die sie schreiben. 

[…] 

Alle diese Schichten verknüpfen sich zu einem Band ohne Rückseite, zu einem Möbiusband.«16

Mit diesen Zeilen beginnt Jean-François Lyotards sein Buch Libidinöse Ökonomie. Inspiriert von Freuds Libido-Begriff, entfaltet Lyotard hier einen psychoanalytischen Denkraum in Form eines immensen Möbiusbandes, auf dem Körperinneres und Außerkörperliches nahtlos ineinander übergehen. Argento praktiziert mit seinen Filmen genau dasselbe. Indem er seine Kamera mit der gleichen Selbstverständlichkeit durch Außenräume und menschliche Eingeweide jagt, kartografiert er das Unheimliche als eine Extimität, die sowohl in- wie auswendig ist. So ist denn auch der für manchen Zuschauer so abstoßende Detailreichtum von Argentos Gewaltdarstellungen kein bloßer Selbstzweck, sondern notwendige Konsequenz seiner Inszenierung von Räumen. Der Nachdruck, mit dem Argento Verletzungen des Körpers zeigt, ist von der Faszination für unheimliche Architekturen nicht zu trennen. In suspiria zeigt Argento in Großaufnahme, wie ein Messer in ein noch pochendes Herz gestoßen wird. Unmittelbar darauf filmt er, wie der Körper der so Gemordeten durch das Glasdach eines Atriums bricht. Die beiden Einstellungen, kurz aufeinander folgend, bilden ein dialektisches Paar. Beide zeigen sie eine Löcherung, Traumatisierung der Physis, zuerst im Kleinen, dann im Großen. Dächer werden ebenso durchschlagen, wie man Körperorgane durchbohrt. Das eine ist von dem anderen nicht zu trennen. Wie sagt doch in Inferno der Architekt Varelli über sein unheimliches Wohnhaus: »This building has become my body, its bricks my cells, its passageways my veins and its horror my very heart.«


»Interiora occultum« – so steht es in rätselhaften Lettern geschrieben an der Wand jenes dunklen Geheimgangs, den die Studentin Suzy Banyon aus Dario Argento’s suspiria im tiefsten Inneren ihrer Ballettschule entdeckt hat. Darüber aber prangt warnend noch ein anderes Wort: »Metamorphosis«. (Abb. 45). Diese doppelte Inschrift könnte als Motto über Argentos Œuvre stehen. Sie bringt die Problematik von dessen filmischen Räumen auf den Punkt: Heim ist nur eine Metamorphose der Fremde und umgekehrt. Interiora verwandelt sich in Exteriora, Körperinneres stülpt sich aus im Raum, Architektur bricht ein in den Körper. 


Per-visionen


Die Unterscheidung zwischen Innen und Außen korreliert auch mit jener zwischen Wahrnehmendem und Wahrgenommenem. Ob der Metamorphose vom einen ins andere muss darum auch die Praxis des Zuschauens problematisch werden. Der Film Opera (I 1987) widmet sich vollständig diesem prekären Moment, wo aus Schauenden Angeschaute werden und umgekehrt. Der Film handelt von einer jungen Opernsängerin, die von einem Mörder verfolgt wird. Doch was dieser ihr antut, ist schlimmer als der Tod: Eines Nachts überwältigt, bindet und knebelt er sie und klebt ihr mit Nadeln besetzte Klebestreifen unter die Augen (Abb. 46). Unfähig, die Augen zu schließen, muss die junge Sängerin nun mit anschauen, wie der Mörder vor ihren Augen und für ihre Augen tötet. Die Tat/Orte in Opera sind Schau/Plätze im eigentlichen Sinne: Plätze, an denen sich Blicke pervertieren, also wörtlich sich verdrehen, sich topologisch krümmen und verschiedene Perspektiven ineinander übergehen; Per-Visionen sozusagen.


»Io sono sempre vista« – der ganze Film dreht sich um nichts anderes, als um jenes unheimliche Oszillieren zwischen den beiden Bedeutungen von »vista«, das sowohl aktives Sehen als auch passives Gesehen-Werden bedeutet. Dieses Oszillieren betrifft nicht zuletzt auch uns Zuschauer, denn wie die Sängerin sind wir zugleich Opfer und Publikum der Tat.17 Wenn der Killer die Sängerin in den Glaskasten eines Nähateliers stellt, wird sie unweigerlich den Ausstellungspuppen in den anderen Kästen gleichgestellt. Die Betrachterin wird selbst zum Anschauungsgegenstand, zum Modell.


Damit wird nicht zuletzt auch die obszöne, libidinöse Ökonomie offengelegt, nach welcher Gewaltfilme funktionieren: Nur für die Zuschauer findet das blutige Schau-Spiel auf der Leinwand statt. Doch bei Argento kulminiert die voyeuristisch genossene Gewalt darin, dass das Auge des Voyeurs selbst attackiert wird. Dass die von Nadeln bedrohten Augen der Sängerin auch für die Augen des Kinopublikums stehen, hat Argento selbst unterstrichen: 


»For years I’ve been annoyed by people covering their eyes during the gorier moments in my films […]. So I thought to myself ›How would it be possible to […] force someone to watch the gruesome murder and make sure they can’t avert their eyes?‹ The answer I came up with is the core of what Opera is about […]«18

Mit seinem Angriff auf das Auge des Betrachters verweist Argento offensichtlich auf zwei der berühmtesten Momente der Filmgeschichte, die beide die Zerstörung des Sehorgans zeigen: zum einen die Szene im 4. Akt von Sergej Eisensteins Panzerkreuzer Potemkin (UdSSR 1925), in der ein Soldat mit seinem Säbel einer alten Frau ein Auge ausschlägt; zum andern und noch offensichtlicher wird hier auf Un chien andalou (F 1929) von Luis Buñuel und Salvador Dalí angespielt, wo einer Frau mit einem Rasiermesser das Auge zerschnitten wird. Sowohl bei Eisenstein wie auch bei Buñuel und Dalí ist der Schnitt durch das Auge als Reflexion über das Medium Film mit seiner Schnitt-Technik wie auch als Reflexion über die Schaulust des Kinopublikums zu verstehen.19 Die Vernichtung des Auges ist dabei als pathetische Metapher für die Zerstörung alter und das Aufkommen neuer Sehgewohnheiten lesbar. Argentos Opera ist im Vergleich dazu ungleich pessimistischer. Die erlösende Katharsis von Buñuel, Dalí und Eisenstein wird einem hier versagt. Statt der Auslöschung des Blicks inszeniert Argento vielmehr dessen Gegenteil: das qualvolle Insistieren des Blicks. Nicht aufhören können zu sehen und gesehen zu werden – dieses »sempre vista« ist weitaus schrecklicher als geblendet zu werden. Die voyeuristische Lust am Zuschauen verkehrt sich in Unlust und Ekel – nicht, weil die Identifikation mit dem Gesehenen zusammenbrechen würde, sondern weil sie sich totalisiert. Das Bild der von Nadeln bedrohten Augen der Sängerin ist darum so grässlich, weil es dem Blick in einen Spiegel gleicht, der uns zu viel zeigt: die abgründige Kehrseite unserer Lust am Zuschauen, die Schaulust als Zwang. 


Through a Glass Brightly


Reproduziert das Nadelgitter vor den Augen der Protagonistin in Opera nicht exakt jene ambivalente Geste, die bereits Kinder beim Anblick von schrecklichen Bildern vollführen, wenn sie die Hände vors Gesicht schlagen? In Gesten wie dieser versucht man eine Wand zu errichten, zwischen sich und den Bildern, die einem zu nahe gehen. Doch die Geste ist ambivalent: Man schlägt zwar die Hände vors Gesicht – und blinzelt trotzdem zwischen den Fingern hindurch, halb drinnen und nicht ganz draußen. 


Die Trennung zwischen dem Innen und dem Außen verwischt sich, die schützende Wand wird instabil. Und wenn das raumtragende Element der Wand zerfällt, beginnt die gesamte Architektur einzustürzen. 


Nichts veranschaulicht diese labil gewordenen Architekturen besser als die gläsernen Wände, in denen Argento seine Figuren und den Zuschauer mit Vorliebe einschließt. Zu Beginn seines ersten Films L’uccello dalle piume di cristallo (I 1970) inszeniert Argento eine Szene, die paradigmatisch für das ganze folgende Werk werden sollte: Ein junger Schriftsteller wird Zeuge eines Mordversuchs in einer Galerie. Doch vom Mörder gefangen in einem durch große Glastüren abgeschlossenen Zwischenraum, kann er weder dem Opfer zu Hilfe eilen, noch die Polizei verständigen (Abb. 47). 


So, wie die gläsernen Wände zugleich für den Blick offen, für den Körper aber geschlossen sind, so ist auch die Situation des Schriftstellers höchst paradox. Er ist Zeuge – und kann doch nicht an das beobachtete Verbrechen heran. Er ist eingeschlossen – und doch exponiert. Wie die gläserne Wand auf widersprüchliche Weise Ausgeschlossenheit mit Sichtbarkeit kombiniert, so uneindeutig ist all das, was man aus solchem Blickwinkel sieht. Der Mordversuch, den der Schriftsteller durchs Glas der Wand beobachtet hat, (so wird er am Ende des Films erkennen müssen) ist eine Mischung aus Wahrheit und Täuschung gewesen, eine Illusion, unheimlich zwischen Fakt und Fiktion changierend. 


In Tenebre treibt Argento das Changieren der gläsernen Wand zwischen Nähe und Ferne auf die Spitze: Eine junge Frau fährt erschreckt zurück, als vor ihrer gläsernen Schiebetür plötzlich ein Trunkenbold auftaucht. Das Glas scheint keinerlei Sicherheit zu bieten. Doch während die Frau zurückweicht, stolpert sie direkt in die Arme ihres Mörders. Das Fenster, eben noch allzu offen, verwandelt sich in Sekundenschnelle zur unüberwindbaren Schranke. Der Mann am Fenster, eben noch Eindringling, ist nun hilflos Ausgeschlossener. Ohne eine Möglichkeit einzugreifen, schaut er schockiert von draußen zu, wie die Frau ermordet wird. Sein Blick geht hinein, sein Körper bleibt draußen. Auch die bereits erwähnte Szene aus Suspiria, in der eine Figur mit Hilfe der Tischlampe durchs Fenster ins Dunkel der Nacht zu leuchten versucht, weist auf eine unheimliche Ambivalenz von Glas hin, die jedermann aus eigener Erfahrung kennt: Während man tagsüber aus dem Fenster freie Sicht hat, verwandelt es sich bei Nacht (sofern die Innenbeleuchtung angedreht ist) in eine reflektierende Fläche, wo man nicht nach draußen, sondern nur sich selber sieht. Dabei wird die gute Sicht, die man tagsüber hatte, nicht einfach eliminiert und durch Dunkelheit ersetzt. Vielmehr wird eine Ansicht durch eine weitere überlagert. Statt zu wenig, sieht man nun zu viel, nämlich sich selbst, verdoppelt und als Bestandteil der Aussicht. Ganz nebenbei liefert Argento damit einen interessanten Kommentar zur Glasarchitektur der Moderne: War es die Ambition von Architekten wie Walter Gropius oder Mies van der Rohe, mit der Verwendung von Glas eine transparente, gleichsam aufgeklärte Architektur zu schaffen, schlägt bei Nacht eine unheimliche Dialektik der Aufklärung durch. In die sogenannt »rationalistische Architektur«20 kehrt spätestens mit Einbruch der Dunkelheit das Irrationale umso vehementer zurück. Höhere Transparenz bringt paradoxerweise höhere Isolation mit sich, wie dies auch Victor Burgin festgehalten hat:


»[…] as much as modernity is the locus of transparency in architecture, it is also the origin of the social isolation in and between high-rise apartment houses, the death of the street as a site of social interaction, and the practice of ›zoning‹, which establishes absolute lines of demarcation between work and residential areas, and between cultural and commercial activities.«21

Burgin beschreibt damit exakt die Stimmung, die auch Argento mit der Hypermoderne in Tenebre zu vermitteln versucht. Schauplatz des Films ist eine transparente Welt, mit leeren, in mehrfacher Hinsicht toten Straßen. So sagte Argento selbst in einem Interview: 


»Tenebre isn’t based in the present, but about five or more years in the future. […] Tenebre occurs in a world inhabited by fewer people with the results that the remainders are wealthier and less crowded. Something has happened to make it that way but no one remembers, or wants to remember.«22

Das aus der Moderne Verdrängte, an das sich niemand erinnern will, kehrt in Tenebre dialektisch zurück – »with a vengeance«, wie man im Englischen so treffend sagt: sich blutig rächend. Diese Wiederkehr vollzieht sich umso schockierender, als es für das Verdrängte gar keinen Schlupfwinkel mehr zu geben scheint. Also bricht es aus dem Nichts heraus ins Bild. In diesem Zusammenhang ist auch auf die Ironie des Filmtitels Tenebre hinzuweisen. Anstatt durch die dort angekündigte Finsternis besticht der Film durch seine überscharfen und hellen Bilder. Das Unheimliche lauert gerade nicht in den dunklen Winkeln, sondern in den restlos ausgeleuchteten Räumen. Dieses Fehlen von Schatten verunmöglicht die genaue Lokalisation der Angst und damit auch deren Isolation. Wo es keine dunklen Winkel mehr gibt, ist die Angst überall und nirgends. So sagte Argento über das Beleuchtungskonzept seines Films:


»Today’s light is the light of neon, headlights, streetlamps, and omnipresent flashes, at home and on the streets. Caring about shadows suddenly seemed ridiculous to me, and more than that, reassuring. In the gloom one can hide what one wants to reject, what one doesn’t dare show. But we are ill at ease in the harsh glare. We have everything right in front of us.«23

Denselben Vorgang, dass die Gewalt gerade dem entspringt, was direkt vor unserer Nase liegt (»right in front of us«), zeigt auch eine Szene aus Suspiria besonders prägnant: Ein Blinder überquert mit seinem Blindenhund einen leeren, nächtlichen Platz, als er plötzlich eine geheimnisvolle Präsenz zu spüren beginnt. Virtuose Kamerafahrten der Peripherie des Platzes entlang und diesen durchquerend, geben den Eindruck, da sei ein Wesen, das den Blinden und seinen Hund umkreist. So weit, so bekannt: Der bedrohte Blinde ist ein gängiger Topos des Thrillers und des Horrorfilms.24 Wo der Blinde auftritt, wird mit jenem Suspense operiert, der sich daraus ergibt, dass der Zuschauer bereits die Bedrohung sieht, welcher der Blinde hilflos ausgesetzt ist. Doch die Szene bei Argento irritiert, weil sie anders funktioniert. »Wer ist da?«, schreit der Blinde. Doch die Bedrohung, die so deutlich spürbar ist, sieht der Zuschauer genauso wenig wie er. Es gibt nichts zu sehen. Und so ist es denn auch ausgerechnet der Blindenhund, der den Blinden anfällt und zerfleischt. Der Hund, vormals Ersatz für die Augen, übernimmt, da er hier unnötig geworden ist, eine andere Funktion. Das Tier, das dem Blinden das Sichtbare hätte vermitteln sollen, wird selbst zum Instrument der unsichtbaren Gewalt. 


Hinter dem Vorhang


Das exakte Gegenstück zur gläsernen Wand, die zwar den Blick, nicht aber den Körper durchlässt, ist der Vorhang. Der Vorhang schirmt den Blick ab, bietet aber dem Körper keinen Widerstand. Analog zur gläsernen Wand nimmt auch der Vorhang in Argentos Arbeit einen wesentlichen Platz ein. Wie im Theater hängt in den Filmen Profondo Rosso und Inferno ein roter Vorhang vor zentralen Schau-Plätzen des Films. Am Anfang von 4 mosche di velluto grigio (I 1972) sind es gleich vier Vorhänge hintereinander, durch die der Protagonist hindurch muss, ehe er in jenem verwüsteten Theater steht, in das ihn der maskierte Verbrecher gelockt hat. Irritierend geschwind schlüpft Argentos virtuos gehandhabte Kamera durch diese Stoffwände – so schnell, dass Auge und Objektiv sich erst noch scharfstellen müssen.25 Hatte die gläserne Wand freie Sicht und körperliche Unbeweglichkeit vermittelt, so widerfährt dem Zuschauer hier das Gegenteil.


Der Kamera/Zuschauer-Blick durchquert die durchlässig gewordenen Räume zu rasch, als dass man sich über diese Räume und das, was sich in ihnen befindet, sogleich klar werden könnte; man ist geschockt von den neuen räumlichen Verhältnissen, die sich hinter dem gelüfteten Stoff auftun. So, wie der Vorhang eigentlich eine weich gewordene Wand ist, kann er als Sinnbild eines liquid gewordenen Raumes dienen. Der Raum, auf dessen unheimliches Oszillieren schon die gläserne Wand hinweist, hat sich nun vollends von allen statischen Regeln losgelöst. In Inferno dringen plötzlich blutige Fingerspitzen durch eine blau angeleuchtete Wand. Das scheinbar feste Mauerwerk entpuppt sich als bloße Leinwand, als Vorhang, durch den ein gemordeter Körper stürzt (Abb. 48). 


Die Szene erinnert unweigerlich an die aus den Wänden dringenden Hände in Roman Polanskis Repulsion (GB 1965). Doch während in Repulsion die Transformationen des Raumes noch als Wahnvorstellungen der Hauptfigur zu verstehen sind, ist eine solche Rationalisierung in Inferno nicht mehr möglich. In Inferno fungiert die Architektur nicht als Repräsentation für die Psyche seiner Bewohner, sondern ist selbst wahnsinnig und macht erst wahnsinnig. In diesem Bau, der unentwegt seine Form und Konsistenz verändern kann, wo eine feste Wand plötzlich weiches Tuch wird, ist der Bewohner im konkreten wie im übertragenen Sinn nicht Herr im eigenen Haus. Stattdessen beginnt man im wabernden Vorhangraum durchzudrehen, von Körpern losgelöste Stimmen zu hören.26 Gegen Ende des Films Trauma (USA 1993) gerät der Hauptdarsteller in ein mit weißen, halbtransparenten Tüchern verhängtes Zimmer. Die Figur (aber auch der Zuschauer) verliert hier jegliches Gefühl für die Abmessungen des Raumes. Dazu singen und flüstern akusmatische Frauenstimmen aus dem hors-champ den Namen »Nicolas«, jenen Namen, der auf die diversen Tücher gestickt ist. Willkommen im Resonanzraum des Unheimlichen!


In dieser intensiven Beschäftigung mit dem Phänomen des Vorhangs wird man wiederum eine Erbschaft Fritz Langs entdecken können, eine weitere von Argentos »mörderischen Weiterführungen«. Die in Das Testament des Dr. Mabuse etablierte Situation vor dem Vorhang, hinter dem eine akusmatische Stimme erklingt, wird von Argento denn auch mehrfach zitiert. In Suspiria beispielsweise macht sich die Hexe Elena Markos, Urheberin aller Verbrechen, zuerst nur als Silhouette und Stimme hinter einem Paravent bemerkbar. Auch muss die Protagonistin, als sie am Ende des Films ins geheime Schlafgemach der bösen Hexe vordringt, gleich mehrere Vorhänge lüften. Doch als sie den letzten Schleier vom Bett der Hexe aufreißt, ist dahinter scheinbar nichts als ein leeres Bett, mit dem Abdruck eines Körpers. Trotzdem ist die höhnisch lachende Stimme der Hexe weiterhin zu hören. Damit spielt Argento außer auf Fritz Langs Testament des Dr. Mabuse auch auf Alfred Hitchcocks Psycho an, jenen anderen großen Film, der sich um die unheimliche Präsenz, bzw. Absenz einer akusmatischen Stimme dreht.27 Auch hier sucht eine Figur nach der mordenden Hausherrin eines Gruselhauses und was sie findet, ist exakt dasselbe Bild wie bei Argento (Abb. 49).


Doch während bei Hitchcock der Körper der Mutter einfach fehlt, ist bei Argento die Hexe da, jedoch nur als unsichtbares Wesen. Damit macht Argento rückwirkend klar, was bereits so unheimlich an der Szene aus Psycho war: Man hat gar nicht das Gefühl, dass etwas fehlt. Es scheint vielmehr ein Körper da zu sein, der sich aber nicht wirklich zeigen lässt. Was sich auf dem Bett abzeichnet, ist eine insistierende Präsenz, ein Stück des unmöglichen hors-champ, das sich nur als Lücke, als Hohlraum mitten im Bildfeld zeigen kann. Die Off-Stimmen, die Suspiria heimsuchen, kommen somit nicht von einem Ort jenseits des Bildes, außerhalb des Bildrahmens, sondern aus einer Höhlung im Bild selbst.28 Das Bildfeld ist somit paradoxerweise mit dem hors-champ kongruent. Ein Raum jenseits des Bildrahmens hingegen gibt es gar nicht mehr. Nur so lässt sich auch jene verrückte Szene aus Suspiria erklären, in der eine Figur in einen tödlichen Raum springt, obwohl sie doch sehen müsste, dass es aus ihm kein Entrinnen geben kann. Auf dem Dachboden der Tanzschule vor ihrem Verfolger fliehend, klettert die Figur durch ein Gitterfenster. Doch dieses führt nicht hinaus, sondern in einen düsteren Zwischenraum, an dessen gegenüberliegender Seite wieder ein Fenster offen steht. Und auch dieses Fenster führt nicht nach draußen, sondern auf einen Treppenraum. Die räumliche Situation ist somit schon labyrinthisch und ausweglos genug. Doch die eigentliche Falle ist woanders. Eine Totale zeigt uns, wie die Figur an der einen Wand des Zwischenraums steht, wobei der Boden des Raums nicht zu sehen ist, weil er von der unteren Bildkante des Films verdeckt bleibt (Abb. 50, oben). 


Darauf tut die Frau einen Schritt … und fällt. Jetzt erst zeigt uns die Kamera, dass dieser Zwischenraum in Wahrheit gar keinen Boden hat, sondern mit Drahtgeflecht gefüllt ist, in dem sich die Figur rettungslos verheddert (Abb. 50, unten).


Irritierend dabei ist, dass die Frau genau so darüber überrascht zu sein scheint, wie der Filmzuschauer. Auch sie scheint nicht geahnt zu haben, dass der rätselhafte Zwischenraum keinen Boden hat. Doch wie ist das möglich? Wie hat die Figur den tödlichen Abgrund direkt zu ihren Füßen nicht sehen können? Tatsächlich scheint es, als könne die Figur nur bis zum Rand des Bildkaders sehen. Was sich indes jenseits des Bildrands befindet, existiert noch gar nicht, beginnt erst zu existieren im selben Moment, da die Kamera es uns zeigt. Doch da ist es bereits zu spät. 


Statt dass sich der Handlungsraum über den Rand des Bildkaders fortsetzen würde, scheint er hier nur gerade bis zu den Grenzen des Bildausschnitts zu reichen. Was außerhalb des Bildes liegt, ist nicht das banale hors-champ im Sinne des bloßen Umfeld sondern vielmehr ein grausiges, unmögliches »radikales Außerhalb« (Deleuze), das sich von einem Moment zum anderen verwandeln kann. 


Was die Figur (und uns Zuschauer) zerrüttet, ist nicht der Verfolger, sondern vielmehr der fragile filmische Raum selbst, von dem man nie wissen kann, wie er sich außerhalb des Bildausschnitts fortsetzt. Dieser Raum, der sich mit jeder Kamerabewegung komplett neu gestaltet, ist gerade darum tödlich. Und die Kamera selbst als Raum schaffende Maschine wird zum Killer.


Das gibt denn auch dem Stilmittel der subjektiven Kamera, wie es für die Filme Argentos so typisch ist, eine radikalere Wendung. Die Kamera übernimmt nicht bloß den Blickwinkel des Mörders, sondern ersetzt diesen. Auch dort, wo man es – wie in der oben beschriebenen Sequenz – scheinbar mit einem objektiven Kamerablick zu tun hat, erweist sich die Kamera als eigentlicher Agent der Handlung.29 Der filmische Raum, den Argentos Filme entwerfen, ist ein Raum, der die Barriere zwischen Innerfilmischem und Außerfilmischem, zwischen der diegetischen Ebene der Handlung und der extradiegetischen Ebene des Filmens andauernd durchbricht. Auch in diesem Sinn führt Argento auf mörderische Weise fort, was bereits Fritz Lang versuchte. Wenn in Langs Testament des Dr. Mabuse hinter dem aufgerissenen Vorhang Mabuses nur Filmapparaturen zum Vorschein kommen, geht Argento in einem Film wie Tenebre noch einen Schritt weiter: Ein Serienmörder dringt in das Haus eines lesbischen Paares ein und schleicht sich an eine der beiden Frauen heran. »Pervert …filthy slimy pervert« haucht die Stimme die Killers seinem Opfer zu, das sich erschreckt umsieht, direkt in die Kamera. Doch offenbar ist nichts zu sehen (Abb. 51, oben links). Die Situation ist vollkommen unplausibel. Wenn das Opfer die Flüsterstimme des Killers hören kann, muss dieser so nah bei ihr sein, dass sie ihn sehen muss. Und trotzdem bleibt der Killer unsichtbar, um nur einen kurzen Augenblick später vom Bildrand her ins Bild nach seinem Opfer zu greifen (Abb. 51, oben rechts). Wo also – so muss man sich fragen – stand der Mörder, als er zu seinem Opfer sprach? Die Antwort ist so einfach wie verblüffend: Der Mörder stand genau dort, wo auch die Kamera steht. Der Mörder steht in jenem für die Figuren der Filmhandlung uneinsichtigen hors-champ, wo das Filmteam und der Regisseur stehen. Tatsächlich gehört die behandschuhte Hand des Killers, die von hinter der Kamera ins Bild hineingreift, denn auch niemand anderem als dem Regisseur Argento selbst.30

Die Hand des Regisseurs greift ins Bild, zückt ein Rasiermesser und schlitzt damit das T-Shirt auf, das sich sein Opfer gerade überziehen wollte (Abb. 51, Mitte links). Für einen Moment zeigt uns die Kamera den Stoff des T-Shirts in Großaufnahme als weiße Fläche, als Leinwand (Abb. 51, Mitte rechts). Der Stoff reißt (Abb. 51, unten links) auf und das schockierte Opfer schaut durch die Leinwand hindurch (Abb. 51, unten rechts). Es ist, als würde dem Opfer plötzlich jene Dimension aufgehen, die es beim Hören der Flüsterstimme zwar gespürt, aber nicht sehen konnte. Der Schutzschirm der Leinwand, welche den Raum des Filmens vom Raum des Films abtrennt, reißt ein, tut sich auf. Eine Figur des Films sieht: Ihr wahrer Mörder ist nicht eine weitere Figur innerhalb der filmischen Illusion, sondern der Filmemacher selbst. So wie die Protagonisten in Langs Testament des Dr. Mabuse aussehen – »as if they were discovering reality – the movie theater and its audience«,31 so ist denn auch der bodenlose Schrecken, der sich im Gesicht der Frau aus tenebre abzeichnet, die schockierende Selbsterkenntnis, dass sie immer nur Filmfigur war, ein Geschöpf in der Gewalt eines Regisseurs und seiner Apparate.


Vom Nachleben der Bilder


Diese tödliche Erkenntnis, nur ein Bild-Geschöpf zu sein, geht auch den anderen Figuren in Argentos Filmen auf. Die junge Frau in Suspiria etwa, welche irritiert in einer farbenprächtigen Halle nach oben schaut, scheint dort etwas Entscheidendes zu sehen. Was genau, wird erst später klar, dann nämlich, wenn die Frau selbst in eben diesem Raum als Leiche von der Decke hängt (Abb. 52). Nachträglich kommt es einem so vor, als hätte sie offenbar sich selbst bereits dort hängen gesehen, als pittoresken Kadaver, als Raum-Schmuck.


Wie Lady Rowena in Edgar Allan Poes »Ligeia« wird auch die Frau in Suspiria zum toten Einrichtungsgegenstand, zur arabesken Verzierung des Raumes gemacht. Doch während dies bei Poe nur impliziert ist, führt es Argento als schrecklich-prächtiges Tableau aus. Das grellrote Blut auf dem weißen Bademantel setzt die Malerei an der Wand fort, die Leiche wird zur Draperie: Verbrechen wird zum Ornament.


Vielleicht ist aber umgekehrt bereits das Ornament ein Verbrechen. Indem das Ornament als ein aufgemaltes oder in Stuck modelliertes Trompe l’œil Tiefe suggeriert, wo eigentlich bloß Fläche ist, lockt es den Menschen ins Verderben. Die blutigen Ornamente Argentos sind nichts anderes als eben solche Faltungen. Was nach Tiefe aussieht, ist in Wahrheit nur eine gefaltete, verdrehte Fläche, die alles in sich einschließt: Subjekt und Objekt, Mörder und Opfer, Mensch und Raum. So wie Lyotard in seiner Libidinösen Ökonomie den menschlichen Körper und die ganze ihn umgebende Welt zu einer einzigen riesigen Membran ausfaltet, so gerinnen bei Argento Leib und Raum zum großen Ornament, zur gefalteten Fläche, zum Bild. Der im Film erzeugte Eindruck von Räumlichkeit wird entlarvt als bloße Illusion. Auch in Profondo Rosso kommen hinter den Wänden letztlich immer wieder nur Bilder hervor (Abb. 53, links). 


Und die Erkenntnis über die wahre Identität des Mörders überkommt den Hobbydetektiv ausgerechnet in jenem Moment, da er sich selbst zusammen mit dem hinter ihm hängenden Gemälde in einem Spiegel sieht (Abb. 53, rechts), in dem Moment also, da er sich selbst als Gemälde wahrnimmt.


Alles ist nur Bild. Und das Bild ist wie ein Kokon, in den die Figuren eingeschlossen, mumifiziert werden. Das hätte der Protagonist von Profondo Rosso schon ahnen müssen, wenn er eines Abends auf der Piazza plötzlich vor einer Bar steht, die exakt jenem Lokal nachgebildet ist, das man aus Edward Hoppers wohl berühmtestem Bild Nighthawks kennt. Und im Film Il fantasma dell’opera kommen Menschen auch zu Tode, indem man sie zu nature morte macht, zur Bild-Mumie, wie etwa die junge Sängerin, die vor einer Kerze sitzt und sich dabei in das Gemälde des Malers Georges de la Tour von der büßenden Maria verwandelt (Abb. 54).


Wie der Killer in Tenebre, der im Keller seiner mit Gemälden vollgehängten Villa ein Fotoarchiv der eigenen Verbrechen anlegt, ist auch Argento ein Sammler von Pathosformeln im Sinne des Kunsthistorikers Aby Warburg. Seine Filme sind gleichsam animierte Bildatlanten, wie sie Warburg in seinen Mnemosyne-Tafeln zusammenstellte.32 Wie Philippe-Alain Michaud gezeigt hat, ist Warburgs Collage-Technik mit der er Bilder nebeneinander stellt und interagieren lässt, mit der Montagetechnik des Kinos verwandt.33 Argento führt diese Verwandtschaft weiter aus, indem er die tradierten Bildformeln der Kulturgeschichte in seine Filme aufnimmt, einander gegenüberstellt und so untereinander neue und erstaunliche Verbindungen eingehen lässt. Dabei ist die schiere Vielfalt an Formen atemberaubend, in denen bei ihm der tradierte Bilderschatz sein Nachleben feiert: Museumsräume und Kabinette sind beliebte Schauplätze seiner Filme. Kunstgegenstände, ob im Original, als Reproduktion oder als bloßes Zitat auf anderen Bildern bevölkern das Set und werden zu Hauptfiguren. Und schließlich imitiert Argentos mise-en-scène, seine Bildgestaltung, fortwährend die Kunstgeschichte.34 Indes geht man fehl, wenn man in den verwendeten Bildformeln erläuternde Kommentare zur Handlung sucht. Dass etwa im Apartment der Sängerin aus Opera auf einem Tischchen im Hintergrund eine Nippes-Figur steht, welche Amor und Psyche darstellt, eröffnet zwar faszinierende neue Lesarten, was das Verhältnis der Protagonistin zu ihrem Verfolger angeht, wirklich erklärt wird dadurch indes nichts. Vielmehr funktionieren die extensiven Bildzitate bei Argento – wie bereits bei Warburg – als Potentialitäten: Das Bildzitat vereindeutigt nicht, sondern eröffnet vielmehr neue Möglichkeiten, der Film-Lektüre eine andere Wendung zu geben. Oder noch schärfer ausgedrückt: Die zitierten Bildformen sind Sprengminen, von denen man nicht wissen kann, ob sie bewusst oder versehentlich ausgelegt wurden, auf die zu stoßen aber in jedem Fall explosive Folgen hat.35 Die »Auseinandersetzung« mit den Bildern der Vergangenheit – wie dies Warburg nannte – liefert bei Argento keinen sicheren Interpretations-Rahmen, sondern bringt vielmehr zusätzliche Verunsicherung. Die Auseinander-Setzung ist wörtlich zu nehmen: Sie zersetzt und entsetzt. Gerade weil einem die Bildformeln vertraut sind, erweisen sie sich in der Wiederkehr als schockierend. Das heimisch vertraute Bild wird in der Wiederholung un-heimlich. Dieser Aspekt steckt auch in dem von Warburg geprägten Begriff des »Nachlebens«. 


Wie Georges Didi-Huberman dargelegt hat, ist mit dem Warburg’schen »Nachleben« das Weiterleben ebenso gemeint wie das Weitersterben.36 Bilder unterliegen einem Wiederholungszwang, sie sind Untote, die sich nicht in die Zeit ihrer Entstehung bannen lassen, sondern die Gegenwart als Phantome heimsuchen.37 Diese beängstigende Dimension des unheimlichen Nachlebens von Bildformeln zeigt sich bei Argento besonders deutlich als lebensgefährliche Heimsuchung, als klaustrophobische Verstrickung in Bildräumen, aus denen es kein Entrinnen gibt. Als Aufenthalt in »den unheimlichen Hallen der Transformatoren innerster seelischer Ergriffenheit zu künstlerisch bleibender Gestaltung« hat Warburg seine Durcharbeitungen der Kunstgeschichte genannt.38 So ließe sich auch Argentos Projekt umschreiben. In seinem späten Meisterwerk La sindrome di Stendhal (I 1996) führt uns der Regisseur radikaler als je zuvor in diese »unheimlichen Hallen« mit ihren gefährlichen Bild-Transformatoren: Eine junge Polizistin auf der Fährte eines Frauenmörders erlebt gleich zu Beginn eine doppelte Überwältigung. In den Uffizien von Florenz wird sie ohnmächtig angesichts der Gemälde, die sie in Bann schlagen; unmittelbar darauf wird sie vom gejagten Frauenmörder vergewaltigt. Doch scheint dieser zweite Angriff nur eine Wiederholung des ersten. Die Bilder selbst waren schon vergewaltigend. 


In den Uffizien wird die Protagonistin von den Bildern umzingelt, von ihnen eingeklemmt, wie etwa von dem Doppelporträt Piero della Francescas (Abb. 55).39 Und als die Polizistin Botticellis La Primavera betrachtet, zoomt die Kamera auf die Spiegelung ihres Gesichts im verglasten Bild. Nicht nur, dass so ihr Gesicht im Bild aufzugehen, sich aufzulösen scheint; indem das Gesicht der Polizistin türkis eingefärbt wird, scheint sie nun selbst wie gemalt, etwa wie auf den populären Frauenporträts Vladimir Tretchikoffs. Argentos Film funktioniert somit selbst als gewalttätiges Museum.40 Neben dem zahlreichen Erscheinen bekannter Kunstwerke (etwa dem im Vorspann am Bildrand vorbeiziehenden Gemäldekatalog oder den Szenen in den Uffizien), inszeniert Argento seine eigenen Filmbilder als Imitationen berühmter Gemälde von John Everett Millais, Giorgio de Chirico41 bis René Magritte. Wie sich der Zuschauer in diesem unheimlichen Museum verirrt, so verläuft sich auch die Hauptfigur in Bildern. Buchstäblich geschieht dies in einer Szene, in der die verwirrte Polizistin über den Bilderrahmen in das Gemälde einer Grotte mit Wasserfall hineintritt und sich darin bewegt (Abb. 56). Wenn die Kamera aus Inneren der Grotte filmt, wie die Protagonistin langsam durch die Wasserwand tritt, sieht es aus, als gehe ihr Körper in diese liquide Fläche ein und werde zum Bild.


Was der Manierist Argento hier vorführt, ist gleichsam die Umkehrung jener Trompe-l’œil-Effekte, wie man sie auf den Stillleben niederländischer Meister des 17. Jahrhunderts findet. Dort werden beispielsweise Insekten so gemalt, dass sie nicht als Teil der Darstellung erscheinen, sondern als würden sie auf dem Bildträger, dem Gemälde selbst sitzen. Die Mimesis – so hat Bernhard Siegert in Anlehnung an die Arbeiten des Kunsthistorikers Louis Marin dargelegt – wendet sich damit gegen sich selbst.42 Das Trompe-l’œil-Insekt soll möglichst echt erscheinen, doch nur um das Bild zu stören, um zu zeigen, dass es nur ein Bild ist. Doch macht diese Ent-Täuschung die Macht des Bildes nicht zunichte, sondern totalisiert sie: Die »Bildstörung« des trompe-l’œil entpuppt sich als hypnotischer Blick, der einen ansieht und zum Bild macht.43 Bei Argento wird das buchstäblich ins Bild gesetzt. Während im manieristischen Stillleben ein Insekt aus dem Bild heraus, dem Betrachter entgegen zu kriechen scheint, tritt bei Argento die Betrachterin ins Gemälde hinein und illustriert damit die hypnotische, totalisierende Macht der Bilder.


Inspiriert wurde La sindrome di Stendhal von den Arbeiten der italienischen Psychiaterin Graziella Magherini, die zu psychischen Zusammenbrüchen von Touristen beim Anblick großer Kunstwerke geforscht hat.44 Denn offenbar gibt es immer wieder Besucher der Kunststätten in Florenz, die vor den Bildern der alten Meister in Wahn-ähnliche Zustände geraten. In Anlehnung an den Schriftsteller Stendhal, der solche Symptome in seinem Reisetagebuch beschreibt,45 nannte ­Magherini dieses Phänomen »Stendhal-Syndrom«. Doch Argento (der nach eigenen Angaben als Kind selbst Opfer des Syndroms geworden war)46 nimmt die Beobachtungen Magherinis nur als Ausgangspunkt für seine ganz eigene Inszenierung des Stendhal-Syndroms. Er führt vor, wie das schützende Bild buchstäblich durchlässig wird und den Blick freigibt auf das, was es abschirmen sollte. Allzu starker Bildgenuss führt dazu, dass sich die Betrachterin in einer Psychose buchstäblich verliert. Bilder sind Tat/Orte – dies auch buchstäblich, wenn der Schauplatz eines Mordes mit seinen riesigen, blutbespritzten Büsten aussieht, als habe man das Magritte-Gemälde La mémoire betreten.47

Doch diese unheimliche Verräumlichung der Bilder ist mit ihrem Gegenstück eng gekoppelt: der Plättung des Raums und der Figuren zum flachen Bild. In einer Szene geht die Polizistin durch ein Bild hindurch auf die Straße in einer anderen Stadt, zu einer anderen Zeit. Diese räumliche-zeitliche Ausdehnung ist indes nur die letzte fatale Illusion des Bildes. »Senso Unico« steht es warnend an der Mauer jener Gasse, in welche die Polizisten durch die Pforte des Bildes getreten ist: Die Bilder sind Einbahnstraßen – wer sie betritt, findet nicht mehr aus ihnen hinaus. 


Und wenn zum Ende des Films die wahnsinnig gewordene Protagonistin von Polizisten davongetragen wird, erstarren die Personen einmal mehr zu Warburg’schen Pathosformeln. Wie in einer verkehrten Pietà, mit der leblosen Maria anstelle des gemordeten Christus, scharen sich lauter Männer um den Körper der Frau, als würden sie ihn anbeten (Abb. 57). Die Frau ist einmal mehr und endgültig in der Gewalt der Männer und der Malerei.


Das unheimliche Kino Dario Argentos durchläuft immer wieder denselben Prozess: Das Bild wird verräumlicht; der Raum verschlingt die Körper; der Raum verflacht zum Bild. In Inferno tut sich in einer Wasserpfütze ein neuer Raum auf, in Profondo Rosso ist die rote Tiefe, von welcher der Titel spricht, am Ende nur eine Blutlache, in der sich der Protagonist spiegelt (Abb. 58). »Avete visto PROFONDO ROSSO di Dario Argento« heißt es im Abspann, der über dieses Schlussbild läuft. Doch was wir tatsächlich gesehen haben, ist, dass diese Tiefe gar nicht existiert. 


Wie in Michelangelo Antonionis Blow Up – dessen Hauptdarsteller David Hemmings gewiss nicht zufällig derselbe ist wie in Profondo Rosso – reduziert sich auch hier letztlich alles auf eine optische Illusion.48 Verzweifelt und angeekelt verbirgt der Darsteller sein Gesicht hinter der Hand – und blinzelt doch zwischen den Fingern hindurch. Aber es gibt nichts zu sehen außer sich selbst als Spiegelung, als Bild. »Avete visto PROFONDO ROSSO« steht es geschrieben. Es müsste heißen: »Io sono sempre vista«.


So sind denn die filmischen Räume Argentos eigentliche Untiefen. So wie für Freud das Präfix »Un-« im Wort »Unheimlich« nicht einfach eine simple Negation bedeutet, sondern vielmehr ein eigenartiges Schwanken zwischen den Gegensätzen, so sind auch Argentos unheimliche Räume »un-tief»: endlos ausgedehnt und zugleich klaustrophobisch eng, eine Fläche nur, die aber so virtuos gefaltet ist, dass man sich in ihren Winkeln auf immer verliert. Dabei ist es gerade der schnelle und mühelose Wechsel von einem Zustand in den anderen, der Argentos Untiefen so gefährlich macht: Scheinbar plane Grenzflächen wie Fenster, Wände und Gemälde geben plötzlich nach und lassen die Figuren hindurchfallen. Ist man aber erst in diesen Abgründen gelandet, plätten sich die Räume wieder zu starren Tableaus, in denen die Figuren und auch wir, die wir sie betrachten, endgültig festsitzen. 


Doch was dieser finalen Verflachung der Räume und Körper zur planen Ebene geopfert wird, ist nichts weniger als die filmische Illusion an sich. Indem Argento die Filmbilder zu starren Tableaus gerinnen lässt, zeigt er nicht zuletzt, worauf die Illusion des bewegten Films basiert: auf lauter regungslosen, toten Einzelbildern. Bekanntlich lassen sich die Einzelbilder eines Films nur sehen, wenn man den Filmstreifen anhält. Doch wer den Filmstreifen anhält, riskiert, dass der Film durchbrennt, dass er sich zerstört. Wer die Illusion des bewegten Bildes entlarven will, kann das nur, indem er die Bewegung, die doch das Wesen der Motion Pictures ist, stoppt. Wenn Argento das Geheimnis des Films aufdeckt, jenen blinden Fleck des Mediums füllt, voll-endet er es, stoppt es, macht es kaputt. Und damit ist das letzte Mordopfer in Argentos Filmen nichts anderes als das filmische Medium selbst.


1 Thoret, Jean-Baptiste: Dario Argento. Magicien de la peur, Paris 2002, S. 6.


2 Benjamin: Einbahnstraße, a.a.O., S. 14.


3 Lovecraft ist neben Poe der Lieblingsautor Argentos. So erinnert auch das Setting dieser Szene mit ihren Kellern unter den Kellern an die endlosen unterirdischen Räume bei Lovecraft.


4 Thoret: Dario Argento, a.a.O., S. 66.


5 Zitiert nach: McDonagh, Maitland: Broken Mirrors/Broken Minds. The dark ­dreams of Dario Argento, London 1991, S. 151.


6 Vgl. »Interview mit Dario Argento«, in: Gaschler, Thomas und Vollmar, Eckhard: Dark Stars. Zehn Regisseure im Gespräch. München 1992, S. 33 und McDonagh: Broken Mirrors/Broken Minds, a.a.O., S. 235.


7 Vgl. Genette: Palimpseste, a.a.O., S. 266–271.


8 Ebd., S. 268.


9 Vgl. Freud, Sigmund: Totem und Tabu. Gesammelte Werke. Bd. 9, London 1940, S. 171–173


10 Vgl. Locher, J.L.: Leben und Werk M.C. Escher. Mit dem Gesamtverzeichnis des Graphischen Werks, Eltville a. R. 1986, S. 107.


11 Vgl. ebd. 318.


12 Aragon, Louis: »Dekor (1919)«, in: Barck, Karlheinz (Hg.): Surrealismus in Paris. 1919–1939. Ein Lesebuch, Leipzig 1986, S. 585–590, hier: S. 587–588.


13 Vitruv: De architectura libri decem, a.a.O., S. 91–95.


14 Vgl. etwa die Magritte-Gemälde L’assassin menacé, 1926 oder Le mois des vendanges, 1959. Meuris, Jacques: René Magritte, Köln 2007, S. 46–47 und S. 106–107.


15 Ähnlich hat Charles Tesson in seiner Kritik zu Argentos Il fantasma dell’opera (I/Ungarn 1998) die fast schon pornografische Großaufnahme des Rachens einer Sängerin in Zusammenhang gebracht mit jenen unterirdischen Gängen, in denen sich das titelgebende »Phantom der Oper« aufhält. Vgl. Tesson, Charles: »Les mystères de la glotte«, in: Cahiers du cinéma 532, 1999, S. 51–52.


16 Lyotard, Jean-François: Libidinöse Ökonomie, Zürich, Berlin 2007, S. 7–9.


17 Man betrachte in diesem Zusammenhang auch Michael Powells Peeping Tom (UK 1960) sowie Kathryn Bigelows Strange Days (USA 1995).


18 Zitiert nach Jones, Alan: Mondo Argento, London 1996, S. 43.


19 Im Fall von Un chien andalou vgl. Short, Robert: The Age of Gold. Surrealist Cinema, Washington 2003, S. 68–76.


20 Vgl. Sharp, Dennis (Hg.): The Rationalists. Theory and Design in the Modern Movement, London 1978, S. 1–5.


21 Burgin: In/Different Spaces, a.a.O., S. 146.


22 Dario Argento zitiert nach McDonagh: Broken Mirrors / Broken Minds, a.a.O., S. 166.


23 Ebd., S. 171.


24 Exemplarisch dazu: The Spiral Staircase (USA 1946) von Robert Siodmak, Wait Until Dark (USA 1967) von Terence Young oder Jennifer 8 (USA 1992) von Bruce Robinson.


25 In der entsprechenden Sequenz in Profondo Rosso benutzt Argento eine Kombination aus Zoom und Kamerafahrt, so dass es scheint, als würde der Raum hinter dem Vorhang vor dem Betrachter fliehen. Diesen Effekt hatte erstmals Hitchcock in seinem Film Vertigo verwendet, um die Schwindelgefühle des Protagonisten darzustellen.


26 Die Affinität Argentos für das Phänomen der akusmatischen Stimme ist bereits in den Gepflogenheiten der italienischen Filmindustrie angelegt. Michel Chion zufolge ist es nämlich in Italien üblich, nicht mit Direktton zu arbeiten, sondern die Filme von den Schauspielern nachsynchronisieren zu lassen. Das ist in den Filmen Fellinis besonders offensichtlich, wo die Lippenbewegungen der Schauspieler mitunter extrem vom gesprochenen Text abweichen. Vgl. Chion: The Voice in Cinema, a.a.O., S. 85.


27 Ebd., S. 140–151.


28 Vgl. Thoret: Dario Argento, a.a.O., S. 58–60.


29 Das unheimliche Schwanken zwischen subjektiver und objektiver Kamera, das Raymond Bellour als Charakteristikum von Fritz Langs Filmen postulierte, findet sich demnach bei Argento in noch aggressiverer Form weitergeführt. Vgl. Bellour: »On Fritz Lang«, a.a.O., S. 28–29.


30 Vgl. McDonagh: Broken Mirrors / Broken Minds, a.a.O., S. 238. Auch in dieser Eigenheit besteht eine Verbindung zu Fritz Lang. Laut Tom Gunning ist auch in Langs Filmen bei Großaufnahmen von Händen sehr oft die Hand des Regisseurs selbst zu sehen. Vgl. Gunning: The Films of Fritz Lang, a.a.O., S. 2.


31 Chion: The Voice in Cinema, a.a. O., S. 37.


32 Vgl. Saxl, Fritz: »Warburgs Mnemosyne-Atlas« (1930), in: Wuttke, Dieter (Hg.): Aby Warburg. Ausgewählte Schriften und Würdigungen, Baden-Baden 1979, S. 313–315 und Gombrich, E. H.: Aby Warburg. An Intellectual Biography, Oxford 1986, S. 283–306. Siehe auch: Hofmann, Werner: »Die Menschenrechte des Auges« In: Hofmann, Werner, Syamken, G. und Warnke, M.: Die Menschenrechte des Auges. Über Aby Warburg, Frankfurt a. M. 1980, S. 85–111.


33 »Even if nothing in Mnemosyne is related to film technique per se, it is a cinematic arrangement. The black backgrounds on which the play of sequencing and deplacement of images is organized serve the same function as the space described by Dickson in his first films created against the backdrop of the Black Maria: an isolating function concentrating on the representation of movement and apparition.« Michaud, Philippe-Alain: Aby Warburg and the Image in Motion, New York 2004, S. 244. Siehe auch Ebd., S. 277–291.


34 Im Vergleich dazu nimmt sich Jean-Luc Godards Videoessay Histoire(s) du cinéma, den Philippe-Alain Michaud anführt (Vgl. ebd. S. 289) als gelungenen Versuch, das Warburg’sche Projekt im Medium des Films fortzusetzen, geradezu brav aus. Während bei Godard das Verschränken verschiedener Bilder nur in Form von assoziativem Schnitt und Überblendung geschieht, ist Argento in der Gestaltung seiner filmischen Bild-Atlanten ungleich vielseitiger. Dabei erweist sich Argento gerade auch in der Verquickung von präraffaelitischer Malerei mit den Schockeffekten des Genrekinos als besonders gelungener Nachfolger Warburgs, ließ doch dieser ebenfalls die Grenzen zwischen hoher Kunst und den »niederen Regionen« der Bildproduktion nicht gelten. Vgl. Hofmann: »Die Menschenrechte des Auges«, a.a.O., S. 100–102.


35 Den treffenden Ausdruck der »Sprengmine« im Bezug auf die Bildformeln bei Warburg verdanke ich Mario Lüscher.


36 Didi-Huberman, Georges: L’image survivante. Histoire de l’art et temps des fantômes selon Aby Warburg, Paris 2002, S. 94.


37 Ebd., S. 51–102.


38 Aby Warburg zitiert nach Gombrich: Aby Warburg, a.a.O., S. 258–259.


39 Anzumerken ist zudem, dass es sich bei dem Doppelporträt von Battista Sforza und Federigo de Montefeltro um ein Bild handelt, dessen Rückseite ebenfalls ein Gemälde ist. Auch hier gilt: Die Bilder sind überall, vorne und hinten gleichermaßen.


40 Siehe dazu Thoret: Dario Argento, a.a.O., S. 70–77.


41 Zum (für Argento auch sonst so bedeutsamen) Werk de Chiricos im Verhältnis zu Lacans Bildtheorie siehe Runte, Annette: »Dinge sehen dich an«, in: Blümle: Blickzähmung und Augentäuschung, a.a.O., S. 393–424.


42 Siegert, Bernhard: »Der Blick als Bild-Störung«, in: Ebd., S. 103–126, hier: S. 113.


43 Ebd., S. 116–120.


44 Magherini, Graziella: La sindrome di Stendhal, Florenz 1989.


45 Siehe dazu auch Louis Marins Hinweis auf eine Stelle in Stendhals autobiografischem Roman Vie de Henry Brulard, wo Stendhal seine Eindrücke beim Anblick Roms beschreibt und mit Raffaels Transfiguration in Zusammenhang bringt. Dabei betont Marin die formale Entsprechung zwischen Stendhals Text und Raffaels Ge­mälde. Auch das ist eine trompe-l’œil-Situation, ein Moment von Hypermimesis: Die Schrift beschreibt nicht nur, sie imitiert, sie verwächst mit dem Beschriebenen. Stendhal führt damit am eigenen Text-Körper vor, wie tief man sich in Bilder verstricken kann. Vgl. Marin, Louis: »The Concept of Figurability, or the Encounter Between Art History and Psychoanalysis«, in: On Representation, Stanford 2001, S. 54–63, hier: S. 61–62.


46 »Je pense que l’art est dangereux. […] Il [l’artiste, JB] donne à ton âme quelque chose de nouveau à percevoir, et si tu es faible, tu peux en mourir. Lorsque j’étais enfant, j’ai été victime du syndrome de Stenhal, J’ai vus les visages en pierre sur le Parthénon à Athènes, et j’ai pensé que c’était divin […] Ce n’était pas possible qu’un être humain puisse créer cela. Alors, je suis tombé par terre.« Argento, Dario: »Les nerfs à vif. Entretien avec Dario Argento«, in: Cahiers du cinéma 532, 1999, S. 55–57, hier: S. 57.


47 Vgl. Meuris: René Magritte, a.a.O., S. 155.


48 Vgl. Thoret: Dario Argento, a.a.O., S. 77–83.

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Johannes Binotto

Johannes Binotto

ist Kulturwissenschaftler, freier Autor und Mitarbeiter am Englischen Seminar der Universität Zürich. Seine aktuellen Forschungsschwerpunkte sind Filmtechnik und/als Psychoanalyse, Signalstörung und Affekt, sowie die Schnittstellen zwischen Raumtheorie, Literatur- und Medienwissenschaft.
Zu seinen diversen Publikationen zählen etwa Beiträge zu Digitalität und Fragmentierung bei James Bond; zum Mafioso als männlichem Hysteriker; zu der Übernatürlichkeit von Technicolor oder zur subversiven Aussagekraft der Rückprojektions-Technik im klassischen Hollywoodkino.
 

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Ein vertrautes Zimmer, das einem plötzlich fremd erscheint; Fenster, durch die man nur sich selber blicken sieht und ausweglose Korridore, an deren Ende man unversehens wieder am Anfang steht: So ist das Unheimliche beschaffen. Ausgehend von den Topologien bei Sigmund Freud und Jacques Lacan wird das Unheimliche als ein spezifisch räumliches Phänomen untersucht, als beängstigend eigenmächtiger Ort, der selber tätlich wird: ein Tat/Ort. Dabei sind es die Kunstwerke, welche diese Tat/Orte des Unheimlichen immer schon erbaut und kartographiert haben. In der Kultur und deren Medien schafft sich das Unheimliche Raum, von den untoten Ruinen in Giovanni Battista Piranesis Kupferstichen über die labyrinthischen Architexturen Edgar Allan Poes und die sumpfigen Schrift-Landschaften H. P. Lovecrafts bis zu den obskuren Kino-Kammern von Fritz Lang und Dario Argento.