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Carior est ipsa mentula

Pascal Quignard

Der »fascinus«

Aus: Sexualität und Schrecken, S. 67 – 94





Der fascinus

Das Begehren fasziniert. Fascinus ist das lateinische Wort für ­Phallus. Es gibt einen Stein, aus dem ein Fascinus grob herausgehauen ist, den der Bildhauer mit den Worten schmückte: Hic habitat felicitas (Hier wohnt das Glück). Alle diese erschrockenen Gesichter in der Mysterienvilla – man wäre besser beraten gewesen, man hätte sie Fascinusvilla oder auch „das faszinierende Zimmer“ genannt – richten sich auf den Fascinus, der in einem Worfelkorb steht und von einem Tuch verhüllt wird.


Da die mentula (der Penis) ganz und gar nicht der Menschheit vorbehalten ist, vermeiden es die menschlichen Gesellschaften, ein erigiertes Glied (fascinum) zur Schau zu stellen, das allzu sichtbar an ihren tierischen Ursprung erinnert.


Warum hat die Natur vor etwa zwei Milliarden Jahren die Arten aufgeteilt und sie jenem uralten Erbe unterworfen, dessen Wirken ebenso zufällig wie unvorhersehbar ist und das den Ursprung eines jeden immer im Dunkeln lässt, das die Körper umtreibt und die Seelen bedrängt?


Weder Pflanzen noch Eidechsen, weder Sterne noch Schildkröten müssen für ihre Fortpflanzung eine libidinöse Beziehung eingehen, die viel Zeit beansprucht und dazu zwingt, die Suche, die visuelle Auswahl, die Werbung, die Paarung, den Tod (oder die Todesnähe), die Empfängnis, die Schwangerschaft und das Gebären zusammenzubringen.


Den Römern graute vor der Faszination, der invidia (Missgunst), dem bösen Blick, dem Los, der jettatura. Sie bestimmten alles durch das Los: die Pokale bei Banketten, den Beischlaf, die Fasti, die Kriege. Sie lebten umgeben von Verboten, Riten, Prophezeiungen, Träumen, Zeichen. Die Götter, die Toten, die Vertrauten, die Klienten, die Freigelassenen, die Sklaven, die Fremden und die Feinde – alle sahen eifersüchtig, was sie begehrten, speisten, unternahmen. Die Blicke blieben an allem und vor allem an jedem Lebewesen hängen und hinterließen ein Mal, warfen eine invidia darauf, verseuchten alles mit ihrem Gift, verbreiteten Unfruchtbarkeit und Ohnmacht.


Martial schreibt: Crede mihi, non est mentula quod digitus (Glaub mir, das Organ ist nicht wie ein Finger zu führen, Epigramme, VI, 23). Plinius nannte den Fascinus den „Arzt der Missgunst“ (invidia). Er ist der Talisman von Rom. Nur im Zustand der Erektion ist ein Mensch (homo) ein Mann (vir). Der Mangel an Manneskraft (an Tugend) erregte Grauen. Die Modernen haben von der römischen Konzeption der Liebe das taedium vitae behalten: den „Lebensüberdruss“, der auf die Lust folgt, das Abschwellen des symbolischen Universums, das mit dem Erschlaffen des Phallus einhergeht, die Bitterkeit, die aus der Umarmung entsteht und die niemals unterscheidet zwischen dem Begehren und dem Schrecken, der mit der plötzlichen, unfreiwilligen, verhexten, dämonischen impotentia verbunden ist.


Typisch für Rom ist die rituelle Schamlosigkeit: das ludibrium. Diese römische Nachsicht gegenüber verbaler Obszönität rührt von den Fescenninischen Versen her, die bei den Feiern zu Ehren des Priapus (anlässlich der Feiern des Liber Pater) gesungen wurden. Der Ritus besteht darin, den riesigen Fascinus gegen die universelle invidia zu schwingen.


271 v.u.Z. stellte sich Ptolemaios II. Philadelphos nach dem Ersten Syrischen Krieg zur Feier des Kriegsendes an die Spitze eines großen Umzugs von Wagen, auf denen dem Volk die Schätze Indiens und Arabiens vorgeführt wurden. Einer dieser Wagen trug einen gewaltigen, ein Meter achtzig großen goldenen Phallus, den die Griechen Priapos nannten. In Rom verdrängte der Name Priapus allmählich den Namen des Gottes Liber Pater.


Ob es sich um Wettbewerbe in Obszönitäten, um saturae, um declamationes, um Menschenopfer in der Arena oder um vorgetäuschte Jagden in vorgetäuschten Gärten (ludi) handelt, das spezifisch römische Ritual ist immer das ludibrium. Der Ritus der priapischen Sarkasmen erstreckt sich über das gesamte Imperium. Dieses sarkastische Spiel ist Roms Beitrag zur antiken Welt. Jenseits der Bestrafung, über das Schauspiel der Herausforderung des Todes oder der inszenierten Opferungen in Form eines Kampfs auf Leben und Tod hinaus, rächt und versammelt sich die Gesellschaft durch die lachhafte Tötung. Das ist der ludus (das „Spiel“ schlechthin, wobei ludus selbst ein etruskisches Wort ist), der, bevor er im Amphitheater zur Aufführung gelangt, im Tanz und in der Derbheit der Fescenninischen Verse nachgeahmt wird: Es ist der sarkastische Prunk des Fascinus auf der kleinsten Parzelle des Gebiets einer jeden Gruppe. Jedem Triumph folgt eine Reihe von grausamen Demütigungen, die das Gelächter entfesseln und die Lachenden in einmütiger Rache vereinen. Zu der vom Gesetz vorgesehenen Strafe kommt die sarkastische Inszenierung hinzu, zu der die Gesellschaft in Scharen strömt, um vereint als eine Schar Gleichgesinnter – wie ein plötzlich zum Populus Romanus verdichteter Regen kleinster Teilchen – am Schauspiel der Anwendung des Rechts mitzuwirken, indem das Kollektiv an der Rache für den Rechtsbruch teilnimmt.


Ein ludibrium eröffnet die französische Nationalgeschichte. Im September 52 v.u.Z., nach der Einnahme von Alesia, lässt Cäsar Vercingetorix auf einem Wagen nach Rom bringen. Er wirft ihn für sechs Jahre in einen Kerker. Im September 46 v.u.Z. bündelt Cäsar die vier Triumphzüge, die ihm aufgrund seiner Siege (über Gallien, Ägypten, Pontus und in Afrika) zugebilligt worden sind. Der Zug startet am Marsfeld, führt am Circus Flaminius entlang, überquert die Via Sacra und das Forum und endet im Tempel des Jupiter Optimus Maximus. Ein von weißen Pferden gezogener Wagen führt die bronzene imago Cäsars mit. Zweiundsiebzig Liktoren, die fasces in der Hand halten, gehen dem Standbild voraus. Ihnen folgen in langen Kolonnen die Beute, die Schätze, die Trophäen. Dahinter kommen das Kriegsgerät, Landkarten, die die Siege illustrieren, und bunte Gemälde auf großen Holztafeln. Eine dieser Tafeln zeigt Cato im Sterben. Das Ende des Umzugs bilden hunderte Gefangene, die dem Spott des Volks ausgeliefert sind, darunter Vercingetorix in schweren Ketten, Königin Arsinoë und der Sohn König Jubas. Unmittelbar nach der Feier des vierfachen Triumphes lässt Cäsar Vercingetorix in der Dunkelheit des Mamertinischen Kerkers töten.


Ein ludibrium begründet die christliche Geschichte. Die Ur­szene des Christentums – das dem Sklaven vorbehaltene Kreuzigungsurteil für denjenigen, der vorgibt, Gott zu sein, die flagellatio, die Inschrift Iesus Nazarenus Rex Iudaeorum, der purpurfarbene Mantel (veste purpurea), die Krönung mit der Dornenkrone (coronam spineam), das Schilfrohr als Szepter, die entehrende Nacktheit – ist ein ludibrium, das Gelächter hervorrufen soll. Die Chinesen des 17. Jahrhunderts, denen Jesuitenpater den Katechismus beibringen wollten, verstanden es auf Anhieb und begriffen nicht, dass man aus einer komischen Szene einen Glaubensartikel machen konnte.


Ursprünglich waren die Fescenninischen Verse beißende Spottverse der derbsten Art und sexuelle Beschimpfungen, die junge Leute einander zuriefen. Zu diesen Versen (getanzten Wortwechseln) kamen die saturae und die Atellanen. Die Männer verkleideten sich als Bock und banden einen fascinum (Gode­miché, olisbos) vor ihren Bauch. Bei den Lupercalien verkleideten sie sich als Wölfe und ließen jedem, der ihnen über den Weg lief, eine rituelle Reinigung angedeihen, indem sie ihn geißelten. Bei den Quinquatrus verkleideten sich die Männer als Frauen. Bei den Matronalia wurden die Matronen zu Bediensteten. Bei den Saturnalien trugen die Sklaven die Gewänder der Patres und die Soldaten verkleideten sich als Wölfe. Jesus wird als „König der Saturnalien“ verkleidet zu seinem crux servilis geführt. Bevor satura die Bedeutung von „Roman“ annahm, bezeichnete die lanx satura genannte Schale eine bunt gemischte Zusammenstellung der Erstlingsfrüchte aus allen Ernten. Als Petronius zur Zeit des Imperiums die erste große satura verfasste, war es eine Zusammenstellung obszöner Geschichten, deren einziger Zweck darin bestand, die versagende mentula des Erzählers zu wecken, damit sie wieder zu einem Fascinus wurde.



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Carior est ipsa mentula (Mein Penis ist wertvoller als mein Leben). Es gab sechs Vestalinnen, die unter der Aufsicht der ältesten standen, der Virgo maxima. Sie bewachten den unenthüll­baren Glücksbringer und unterhielten die Herdflamme. Wenn eine das Keuschheitsgelübde brach, wurde sie auf dem Frevelfeld (Campus sceleratus) nahe der Porta Collina lebendig begraben, dort, wo die Wölfinnen (die Prostituierten in der vorgeschriebenen braunen Toga, die später die Büßermönche übernahmen) am 23. April der Venus Erycina huldigten und sich vor dem Volk vollständig entkleideten, damit dieses ein Urteil über ihre Körper fällte. Die Vestalinnen beschützten Rom (Feuer und Geschlechtsteile). Der Penis jeden Mannes stand unter dem Schutz eines Genius, dem er unter der Obhut des Liber Pater Blumen (weibliche Sexualorgane) opferte. Das sind die Floralia. Genius ist der Zeugende (gignit, oder auch quia me genuit). Dieser erste „Schutzengel“ ist ein sexueller Engel. Genauso hieß das Ehebett für zwei Personen lectus genialis. Jeder Mensch hat einen Genius, der seine genitalia vor der impotentia schützt und seine gens vor Sterilität bewahrt. Noch erstaunlicher ist, was Galen geschrieben hat, dass der logos spermatikos für die Hoden das sei, was das Gehör für die Ohren und der Blick für die Augen ist.


Zum Schrecken kam die panische Angst hinzu, die die Römer vor der Impotenz (languor) hatten. Im 3. Buch der Amores erzählt Ovid von einem Fiasko und beschreibt die abergläubischen Schrecken, die es umgeben: „Ich hielt sie in meinen Armen, doch ich war schlaff (languidus) und zu nichts zu gebrauchen. Als schmachvolle Last lag ich im unbewegten Bett und konnte mich nicht, obwohl ich es wollte und sie nicht weniger, des sonst so hilfreichen Geschlechtsteils (inguinis) erfreuen. Zwar schlang mir um den Hals sie ihre Elfenbeinarme, weißer als sithonischer Schnee, steckte mir tief in den Mund die begehrlich ringende Zunge, legte ihr Bein verführerisch unter meins, wisperte zärtliche Worte, nannte mich ihren Gebieter (dominum) und sprach, was man sonst noch so spricht zur Erregung der Lust, doch mein Glied, wie vom frostigen Schierling berührt, ließ mich bei dem, was mir im Sinn war, schnöde im Stich. Schlaff lag ich da wie ein Klotz, eine nutzlose Last, halb Mensch von Fleisch und Blut, halb gespenstischer Schatten. Rein wie die Vestalin, die in ewiger Keuschheit an die heilige Flamme tritt, hat sie mich verlassen. Ist mein Körper erschlafft, weil thessalisches Gift (veneno) ihn verhext hat? Schaden mir vielleicht Zaubersprüche und -kräuter, oder hat eine Hexe meinen Namen in purpurnes Wachs geritzt und mir winzige Nadeln mitten in die Leber getrieben? Durch Zaubersprüche verhext, vertrocknet das Korn, versiegt das Wasser der Quelle. Eicheln fallen von den Eichen, Weintrauben von Weinstöcken, wenn sie verzaubert sind, und obwohl niemand ihn schüttelt, regnet es Äpfel vom Baum. Warum sollten magische Künste nicht auch diesen Nerv (nervos) abstumpfen können? Vielleicht ist mein Unterleib deshalb kraftlos (impatiens)? Hinzu kam noch die Scham (pudor), und die Scham hat mir noch mehr geschadet. Welch wunderbare Frau war da vor meinen Augen? Und ich berührte sie so, wie sie sonst nur von ihrem Hemd berührt wird. Die Unglückliche, verdient hätte sie es, alles zu erregen, was lebt und Mann heißt, ich aber lebte gerade nicht und war kein Mann (vir). Was kann es nützen, wenn Phemius vor tauben Ohren singt? Was kann dem geblendeten Thamyras ein Gemälde (picta tabella) nützen? Und welche Freuden hab ich mir nicht ausgemalt im Stillen, welche Stellungen im Geiste nicht schon eingenommen? Dennoch lag mein Glied jämmerlich da, wie abgestorben (praemortua), schlaffer als die gestern gepflückte Rose. Und jetzt erhebt es sich wieder, findet zur Unzeit (intempestiva) zu alter Stärke und Gesundheit, jetzt verlangt es nach Arbeit und Soldatendienst. Schäm dich und bleib liegen, du schlechtestes Stück (pars pessima nostri) von mir. Du betrügst deinen Herrn (dominum). Auch war mein Mädchen sich nicht zu schade, ihn sanft in die Hand zu nehmen und ihn zu reizen (sollicitare). Doch als sie sah, dass keine ihrer Künste ihn zum Stehen bringen konnte, rief sie: ,Was treibst du für ein Spiel (ludis) mit mir ? Was zwang dich, Irrer, ohne es zu wollen, deine Glieder auf meinem Bett auszustrecken? Entweder hat eine aiaische Giftmischerin mit durchbohrter Wolle dich verhext, oder du kommst erschöpft von einer anderen Geliebten.‘ Geschwind sprang sie vom Bett, umhüllt nur von ihrer losen Tunika, ohne sich die Zeit zu nehmen, in ihre Sandalen zu schlüpfen, und damit man nicht merkte, dass sie unberührt von meinem Samen war, gab sie vor, sich zu waschen, um die Schande zu verdecken.“



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Die Sexualität ist mit dem Schrecken verbunden. Bei Apuleius fragt Psyche (Metamorphosen oder Der goldene Esel, Buch VI, 5): „In welcher Finsternis (tenebris) kann ich mich verstecken (abscondita), um dem unentrinnbaren Blick (inevitabiles oculos) der großen Venus (magnae Veneris) zu entkommen (effugiam)?“. Lukrez spricht von einer „aufgewühlten“ Begierde, von einem „schrecklichen Begehren“ (dira cupido), und er definiert die cupiditas dieser Begierde als die „heimliche Wunde“ (volnere caeco) der Männer. Vergil nennt die Liebe selbst „eine alte und tiefe Wunde, die von einem blinden oder geheimen Feuer geschürt wird“ (gravi iamdudum saucia cura volnus caeco igni). Catull macht aus ihr eine tödliche Krankheit (Carmina, LXXVI): „O ­Götter, wenn es zu eurem Wesen gehört, Erbarmen zu haben, und wenn ihr den Menschen im Angesicht des Todes je etwas anderes gebracht habt als Entsetzen, dann seht mich an in meinem Elend (me miserum adspicite) und nehmt, so wahr ich mein Leben in Reinheit führte, diese verderbliche Pest (pestem): die Liebe, diese Erstarrung (torpor), die in meine Glieder kroch, die sich in mein Blut schlich, und alle Freude (laetitia) aus meinem Herzen vertrieben hat.“


Der Orgasmus wurde als die summa voluptas beschrieben, zuerst heiß, dann frikativ, stürmisch und schließlich explosiv. Die Wollust explodiert auf dem Kamm der Welle (vor dem maskulinen Schaum), durch die das sterbliche Fleisch sein Fortpflanzungsvermögen erkennt und sich als fähig erweist, die Kontinuität des Gesellschaftskörpers zu gewährleisten. Die griechische und die römische Gesellschaft machten keinen Unterschied zwischen Biologie und Politik. Der Körper, die Stadt, das Meer, das Feld, der Krieg, das Kunstwerk standen einer einzigen Lebenskraft gegenüber, waren derselben Gefahr von Sterilität ausgesetzt, denselben Aufforderungen zur Fruchtbarkeit unterworfen.


Der Mann hat nicht die Macht, im Zustand der Erektion zu verharren. Er ist zum unbegreiflichen Auf und Ab verdammt und nicht Herr von potentia und impotentia. Er ist nacheinander Penis und Phallus (mentula und Fascinus). Deshalb ist die Macht das männliche Problem schlechthin, ist der Mann doch fortwährend mit seiner charakteristischen Schwäche und seiner Angst beschäftigt.


Die Ejakulation ist ein lustvoller Verlust. Ihm folgt mit der anschließenden Erschlaffung eine Trostlosigkeit, denn mit ihr versiegt, was hervorgebrochen ist. Keine Kultur empfand diese Trostlosigkeit stärker als die römische. Zwar kann sich der Samenerguss als fruchtbar erweisen, doch im demütigenden Augenblick der Erschlaffung und des Zurückziehens des membrum virile aus der vulva kann diese Fruchtbarkeit niemals als solche wahrgenommen werden.


Der fascinus verschwindet in der vulva und kommt als ­mentula wieder heraus.


Die Manneskraft wird im zoologischen Orgasmus auf dieselbe Weise verschlungen, wie der Leib des Menschen im Tod verschwindet. Denn das tiefste Sein des Mannes (vir) ist niemals in seinem Kopf oder in seinen Gesichtszügen: Sein Selbst ist dort, wo die Männerhand hingeht, wenn der Körper sich bedroht fühlt.


Einer ansteckenden Religion, die mit der Zeit immer synkretistischer wurde, da sie ihrem eigenen Triumph, ihrer eigenen „Frömmigkeit“, alle Religionen jener Völker einverleibte, die sie besiegt hatte, entsprach eine immer unheilvollere Angst. Die Römer, denen es an Geisterbeschwörungen nicht fehlte, bürdeten sich apotropäische Zauber jeder Art auf, um den bösen Blick abzuwenden oder um ihn mit dem Spott des ludibrium zu entwaffnen, ihn „dem Absender zurückzuschicken“, wie Perseus den Blick der Medusa mit Hilfe seines Schilds zurückwarf. Apotropaion heißt auf Griechisch das Bildnis, mit dem das Böse abgewendet wird und das als terribilis Lachen und Entsetzen zugleich hervorruft. Das griechische apotropaion heißt auf Lateinisch fascinum. Der fascinum (der künstliche Fascinus) ist ein baskanion (ein Bewahrer vor dem bösen Blick). Plutarch sagt, das ithyphallische Amulett ziehe den Blick des Zauberers ­(fascinator) auf sich und verhindere damit, dass er sich auf sein Opfer richtet. Daher stammt das unglaubliche, niemals in den Museen gezeigte Arsenal an priapisch gestalteten Amuletten, obszönen Ohrgehängen, Gürteln, Halsketten, burlesken Gnomen aus Gold, Elfenbein, Stein, Bronze, die den Hauptbestandteil unter den Fundstücken archäologischer Grabungen aus­machen. Stinkefinger (digitus impudicus, die geballte Faust mit dem nach oben ausgestreckten Mittelfinger, meso dactylos, war die schlimmste Beleidigung), Amulette, die die fica darstellten (die Feigenhand: eingeklemmt zwischen Zeige- und Mittelfinger schaut der Daumen hervor), phallisch geformte Tischbeine, Lampenfüße und schließlich das tintinnabulum aus Bronze oder Metall (ein ­Fascinus, an dem kleine Glöckchen hingen und der am Gürtel festgemacht oder am Finger oder am Ohr getragen wurde, und den man an Gebälk, an Laternenpfählen oder dreibeinigen Hockern befestigte). Der menschliche Körper weist nur eine einzige glockenläutende Stelle auf, den männlichen Penis und, etwas weniger, den Hodensack, danach erst kommen die weiblichen Brüste und Hinterbacken, wenn sie von Fettleibigkeit gezeichnet sind. In dieser Hinsicht wird die menschliche Sexualität vom Schlenkern der Körperteile bestimmt, die Begehren wecken, also der Körperteile, die von der Lust zeugen. Es sind diese ganz besonders durch Metamorphose gekennzeichneten Formen, die am Rand des Körpers liegen und von ihm abzufallen drohen, die eben deshalb am besten geschützt sind. Diese Obsession bezeugen die Frauen im alten Rom ebenso wie die Frauen zur Zeit des Imperiums mit dem Busenband. Der Büstenhalter, der auf Griechisch strophion und auf Latein fascia heißt, ist daher mit dem fascinum der Männer verwandt. Unter dem Schleier dieser einfachen Stoffbinde verbargen sich Streifen aus Rindsleder, die die Brüste flachdrückten. Erotische Malereien mit entblößter weiblicher Brust sind selten. Tacitus (Annalen XV, 57) schildert, wie die an der Pisonischen Verschwörung beteiligte Epicharis ihre fascia löste, um sich damit zu erhängen.


„Unsere Gegend hier ist so reich an mächtigen Gottheiten, dass man eher einem Gott als einem Menschen begegnet“, sagt Quartilla unvermittelt im Satyricon von Petronius. (Man begegnet in den Straßen Roms, Pompejis oder Neapels häufiger einem fascinus aus Stein oder Bronze als der mentula eines Mannes.). Als Anicetus in Neapel an Agrippinas Bett trat, um sie zu erstechen, schrie diese: „Stoß zu!“ „Stoß zu!“, das ist die Losung Roms. Im Roman von Apuleius dreht sich Photis zu Lucius um und erblickt seinen steifen Penis, der seine Tunika ausbeult (inguinum fine lacinia remota). Sie entkleidet sich, besteigt ihn und ruft, während sie ihre rasierte Vulva hinter ihrer rosigen Hand versteckt (glabellum femina rosea palmula obumbrans): Ersteche den, der sterben muss! (Occide moriturus!)


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Zum Staatsfeind erklärt, musste Gaius Marius in einem Wagen versteckt aus Rom fliehen. Er erreicht die Küste. Erschöpft von den Anstrengungen wirft er sich in ein Boot. Während er schläft, machen sich die Seeleute davon und lassen ihn am Ufer zurück. Er wird aus seinem Versteck in den Sümpfen von Minturna gezerrt, ins Gefängnis geworfen, schließlich findet der Sieger über die Kimbern nur noch Zuflucht in den Ruinen von Karthago. Von dort verjagt ihn ein Römer, als wäre er nur ein Sklave. Als Marius die Macht zurückerobert, veranstaltet er sechs Tage lang ein Blutbad in den Straßen von Rom. Ihre Ämter – beide waren Konsuln – retten weder Gaius Octavius noch Lucius Cornelius Merula. Marius ist siebzig Jahre alt. Vom Wein ist er zittrig geworden. Er stirbt am Ende des siebzehnten Tages seines siebten Konsulats. Er hatte bei seiner ausschweifenden Lebensführung seine mentula so gnadenlos abgenutzt, dass ein Wachmann bemerkte, als er ihn im Todeskampf mit zurückgeschlagener Toga sah, dass der Zipfel, den er noch hatte, kleiner war als ein Fingernagel.


Im Jahr 79 v.u.Z. dankt der Diktator Sulla ab. Er zieht sich in sein Haus nach Cumae zurück. „Der glückliche Sulla“ (Felix Sulla) stirbt von Würmern zerfressen, die ihn schon zu Lebzeiten zernagten und die als erstes seine mentula befielen.


Dazu fällt einem ein Ausspruch Cäsars über Brutus ein: „Vor diesen wohlbeleibten und verschwenderischen Herren ist mir nicht bange, dagegen fürchte ich die mageren und blassen.“ An den Iden des März stieß ihm Casca, nachdem Metellus Cäsars Toga mit beiden Händen ergriffen und die Schulter entblößt hatte, als erster seinen Dolch in den Leib. Alle stießen der Reihe nach oder zusammen zu, und einige verletzten sich gegenseitig, als sie zustoßen wollten. Laut Plutarch wurde Cäsar von dreiundzwanzig Stichen durchbohrt. Brutus, sein Neffe, stieß seinen Dolch in Cäsars Leiste, denn sein Onkel hatte seine mentula ins Geschlecht seiner Mutter gesteckt. Als Cäsar sah, dass Brutus das Messer auf seinen Unterleib richtete, wehrte er sich nicht mehr gegen die Attentäter. Er zog sich die Toga über das Gesicht und fügte sich ganz dem Eisen und in sein Ende.



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Aphrodite wird aus dem Schaum eines abgeschnittenen männlichen Glieds geboren. Oder man stellt sie dar, wie sie einer Welle entspringt – die allerdings nichts anderes ist als der Schaum des ins Meer geschleuderten Glieds. Die alten Griechen sagten, der Stoff, den der Phallus absondert, gleiche dem Schaum des ­Meeres. Galen beschreibt in De Semine das Sperma als dickflüssige (crassum), schaumige (spumosum), lebendige weiße Flüssigkeit (dealbalum) mit einem Duft, der dem des Holunders ähnlich sei.


Wer zeugte Aphrodite? Uranus legt sich zu Gaia. Hinter dem Busen seiner Mutter verborgen lauert Chronos mit der Sichel (harpe) in der rechten Hand im Hinterhalt, ergreift mit der Linken die Genitalien von Uranus, schneidet sie mitsamt dem Phallus ab und wirft sie hinter sich, wobei er darauf achtet, sich nicht umzudrehen (Hesiod, Theogonie, Vers 187ff). Die Blutstropfen fallen auf die Erde: Das sind die Kriege und die Auseinandersetzungen. Der noch immer erigierte Penis dagegen fällt ins Meer, und sogleich steigt Aphrodite aus den Fluten.


Zwar sondern Frauen mehr Flüssigkeiten ab (das Blut und die Milch), dennoch erscheinen diese weniger geheimnisvoll als das männliche, aktive „Ejakulat“, das plötzlich aus dem Fascinus hervorsprudelt wie eine winzige Quelle. Im stammesgeschichtlichen Kern ist die Sexualität der Römer auf das Sperma bezogen. Iacere amorem, iacere umorem. Lieben und „ejakulieren“ werden nicht unterschieden. Es ist die männliche iaculatio, die ­iactantia (der männliche Erguss und das männliche Prahlen). Das ist das Paar Anchises und Venus sowie Anchises’ Unvermögen, sich an Venus’ Gebot zu halten und das Geheimnis zu wahren (iactantia). Es bedeutet, den Saft aus dem eigenen Körper in den anderen Körper zu schleudern (iacere umorem in corpus de ­corpore ductum), seinen Samen zu ergießen, ganz gleich, ob man bartlose pueri (man nannte sie „blühende Wangen“ oder „Pfirsichbäckchen“) oder Frauen unterwirft, und mit einer Ehrfurcht zu befriedigen, die bis zum religiösen Überströmen besessen ist von dem Begehren, das die Schönheit des anderen im eigenen Körper angehäuft hat.


Die Natur der Dinge ist wie die Natur des Menschen ein einziges Überströmen. Das griechische physis meint dieses Sprießen, dieses Anschwellen alles Lebendigen zwischen Himmel und Erde. Lukrez beschreibt im vierten Gesang von De rerum natura das Aufsteigen, die Ausbreitung, das Überströmen des Spermas im Körper des Mannes, den Kampf, der daraus entsteht, die Krankheit (Lukrez nennt sie rabies, Raserei, Catull pestis, Pest), die davon verursacht wird: „Erst wenn im Erwachsenenalter (adultum aetas) unsere Glieder gestärkt sind, bildet sich in unseren Körpern der Samen (semen). Doch nur ein menschlicher Körper kann den Körper erregen und den menschlichen Samen locken. Wird dieser nun vertrieben (eiectum) aus seiner ursprünglichen Bleibe, fließt er von überall her durch sämtliche Glieder, Bahnen, Organe des Körpers und strömt in den Geschlechtsteilen des Körpers (partes genitales corporis) zusammen. Sogleich erregt (tument) er dort das Glied. Dieses nun schwillt vom Sperma an, und so wächst der Drang zur Entladung (voluntas eiicere), um es in den Körper zu spritzen, zu dem uns ein schreckliches Verlangen (dira cupido) treibt. Denn als Verwundete fallen wir immer auf die verwundete Stelle (volnus). Das Blut schießt dorthin, von wo wir den Schlag abbekommen haben, und bespritzt den Feind mit seinem roten Strahl (ruber umor). Ebenso strebt der Mann dorthin, wo Venus ihn mit ihren Reizen lockt, mag es ein Knabe sein mit weiblichen Gliedern oder ein Weib, das sich vor Liebessehnsucht windet. Er brennt darauf, sich zu vereinen (coire), den Saft, der aus seinem Körper kommt, in jenen Körper hineinzuspritzen; denn sein sprachloses Begehren (muta cupido) verspricht ihm große Lust (voluptatem). Das ist die Bedeutung von Venus bei uns Epikureern. Dafür hat Amor uns seinen Namen (nomen amoris) gegeben. So träufelte Venus zuerst Tropfen für Tropfen süßeste Liebe in unser Herz, um es dann mit Ängsten zu vereisen. Mag, was wir lieben, fern von uns sein, so haben wir doch sein Bild vor Augen und fortwährend klingt sein lieblicher Name uns im Ohr. Man muss sich den vielen Trugbildern (simulacra) entziehen, sich all dessen enthalten, was der Liebe Nahrung (pabula amoris) gibt. Man muss den Sinn auf anderes richten und das in uns angestaute Sperma in beliebigen Leibern verschleudern, statt es aufzubewahren für die eine Liebe, die uns beherrscht und uns dadurch mit Sicherheit nur Angst und Schmerz bereitet. Nährt man dieses Geschwür (ulcus), wird es nur schlimmer und nistet sich immer tiefer ein. Betäubst du nicht den ursprünglichen Schmerz durch immer neue Wunden, verirrst du dich nicht immer öfters zu Venus, die durch die Gassen irrt (volgivaga), kannst du den Trieb (motus) nicht in ganz andere Bahnen lenken, so steigert sich der Wahnsinn (furor) Tag für Tag, wird dein Kummer Tag für Tag bedrückender. Wer die Liebe flieht, verzichtet längst nicht auf den Liebesgenuss. Wer die Liebe flieht, muss keine Strafe fürchten, wenn er sich den Früchten der Venus nähert. Denn wer kühl denkt, erfreut sich größerer, reinerer Wollust als die Unglücklichen, deren Begierde auf dem Höhepunkt des Beischlafs von den Fluten der Ungewissheit hin- und hergerissen wird. Ihre Augen, ihre Hände, ihre Körper wissen nicht, was sie zuerst genießen sollen. Den begehrten Körper drücken sie so fest, dass er vor Schmerz fast schreit, mit ihren Zähnen hinterlassen sie tiefe Spuren auf den Lippen, die sie lieben. Da sie nicht reiner Genuss ist, stachelt diese grausame Wollust sie dazu an, den Körper zu verletzen, wer es auch sei, der den Keim (germina) zu dieser Raserei (rabies) in ihnen weckte. Man kann die Flamme nicht mit dem Feuer löschen. Dem widersetzt sich die Natur. Dies ist das einzige Begehren, bei dem das Herz, je größer der Genuss ist, um so mehr von einer schrecklichen Begierde (dira cupidine) entfacht wird. Leicht zu befriedigen sind Bedürfnisse wie Speise und Trank, denn sie nimmt das Innere unseres Körpers mehr auf als Bilder von Wasser oder Brot. Doch nichts kann der Körper aufnehmen von einem schönen Gesicht, einem strahlenden Teint. Nichts: Er nährt sich von Trugbildern (simulacra), von zartesten Hoffnungen, die dem Wind ein leichte Beute sind. So auch geht es dem, der mitten im Traum von Durst verzehrt wird und der, da er kein Wasser bekommt, um die brennende Glut in sich zu löschen, vergeblich sich quält mit Bildern von Bächen, nach denen er hascht. Wie dieser Mensch verdurstet inmitten des Stroms, aus dem er trinkt, so werden in der Liebe die Liebenden nur genarrt von den Trugbildern der Venus. Endlich spüren ihre Körper das Nahen der Wonne (gaudia). Wenn Venus sich in diesem Moment rüstet, das weibliche Feld zu besamen, klammern (adfigunt) die beiden sich gierig aneinander. Sie vermischen ihren Speichel (iungunt salivas). Keuchend saugen ihre Münder an den Lippen, in die sie ihre Zähnen graben: doch umsonst. Nicht das Geringste können sie dem Körper des anderen entreißen; sie können nicht ganz und gar im Körper des anderen aufgehen (abire in corpus corpore toto). Bisweilen könnte man glauben, sie strebten wirklich danach, so begierig ziehen sie die Bande, die sie verbinden, fester um sich zusammen. Können die Kräfte die Wollust schließlich nicht mehr halten, die sie angespannt hat, und entlädt (erupit) sich diese Wollust, dann tritt eine kurze Ruhepause ein. Für eine Weile legt sich die glühende Leidenschaft. Doch dann kehren dieselbe Raserei (rabies), derselbe wütende Wahn (furor) zurück. Von Neuem versuchen die Liebenden ans Ziel ihrer Wünsche zu gelangen. Von Neuem fragen sie sich, was sie begehren. Blind und verwirrt reiben sie sich auf, werden von einer unsichtbaren Wunde (volnero caeco) verzehrt.“



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Morpho ist der Beiname der Venus von Sparta. Aphrodite ist in den Augen der Lakedämonier die morphe (lateinisch forma, die Schönheit), die im Gegensatz steht zum Männlichen, zur faszinierenden phallischen Gottheit, dem Gott amorphos (oder kakomorphos, oder auch asemos, auf lateinisch deformis). Aristoteles definiert das männliche Glied als das, was an Größe zunimmt und abnimmt. Metamorphosis ist das männliche Begehren. Auf Griechisch bedeutet physis ebenso Natur wie phallos.


Aus augere (wachsen) wurde sowohl auctor als auch Augustus. Die Entstehung des Imperiums fällt mit diesem Epitheton zusammen, das bereits das Schicksal ausdrückt, das der Sexualität im Kaiserreich aufgenötigt wird. Am 16. Januar 27 v.u.Z. wird Octavian zu Augustus und der Monat Sextilis zum August. Augustus, der Vermehrende, das ist die Funktion, die dem Kaiser zugewiesen ist. Wir wollen, dass der Frühling wiederkehrt, dass die Felder Früchte tragen, dass das Wild sich vermehrt, dass die Kinder aus den Bäuchen der Mütter kommen, dass die Penisse sich aufrichten wie der Fascinus und dort eindringen, wo die Kinder herauskommen, damit die Kinder selbst wieder dorthin zurückkehren. Nach Caelius gibt es bei Krankheiten vier Stadien: den Anfang (initium), die Zunahme (augmentum), den Umschwung (declinatio), das Nachlassen (remissio). Der Augenblick der Malerei ist immer das augmentum.


Die eudaimonia der Griechen wird zu dieser augmentatio, dieser inflatio, die zur feierlichen römischen auctoritas führt. Die Modernen haben die Bedeutung des Wortes Inflation im Sinne von „Gestalt geben durch Aufblähen“ vergessen. Flare, inflare, phallos, fellare sind Ableitungen derselben Form wie jene, die dem dionysischen Flötenspiel oder der Glasbläserei zugrunde liegen. Man gibt der Wirklichkeit eine angeregte, aufgeblasene Beschaffenheit.


In der Philosophie der Epikureer vermischen sich Medizin und Philosophie. In der stoischen Philosophie herrscht der logos spermatikos über die Welt. Das Universum ist ein großes Tier, der cosmos ist ein großes zoon – das der Maler (zo-graphos) aufschreibt. Platon bekräftigt im Menexenos (238 a): „Denn nicht die Erde hat es den Frauen nachgemacht (memimetai) bei Schwangerschaft und Geburt, sondern die Frau der Erde (alla gyne gen).“ Plutarch erinnert in Das Mondgesicht, Vers 928f, an die Aussage von Lamprias: „Die Sterne kreisen als lichtbringende Augen, eingefasst in das Antlitz des Alls. Mit der Kraft eines Herzens schickt die Sonne ihr Licht wie Blut überallhin. Das Meer dient der Natur wie eine Blase. Der Mond aber ist die melancholische Leber der Welt.“ Da Venus die Mutter Roms ist, gibt Lukrez der „Natur der Dinge“ ihr Gesicht durch eine große Anrufung der Venus: „Mutter der Aeneaden, der Menschen und der Götter Wonne (voluptas), lebensspendende Venus, unter flimmernden Sternen machst du das Schiffe tragende Meer fruchtbar, lässt du Früchte ernten auf dem Land, denn jede Empfängnis hat ihren Ursprung in dir und jedes lebendige Wesen unter der Sonne kommt durch dich zur Welt. Wenn du nahst, Göttin, dann fliehen die Winde, die Wolken verziehen sich, die Blumen sprießen, das Meer füllt die Wellen, der Himmel strahlt, die Vögel steigen auf, und auf den Weiden springen die Herden. In den Meeren und auf den Bergen, in wilden Flüssen wie auf grün leuchtenden Feldern bemühst du dich um das Begehren. Du sorgst für die Vermehrung der Arten. Ohne dich erreicht nichts die himmlischen Gefilde des Lichts. Du allein beherrschst die Natur.“ Lucretius Carus umfasst mit ein und derselben voluptas sowohl die Venus Forma von Sparta wie die Venus Calva des Kapitols, die Venus Obsequens (die Willfährige) aus dem Tal des Circus Maximus, die Venus Verticordia der Matronen (dank der die Herzen sich von der Ausschweifung abwendeten) und die Venus Erycina von der Porta Collina. Diese Venus Erycina (oder auch die Wilde, die Afrikanische oder die Sizilianische) wird zu Sullas Göttin, zur Venus Victrix (die Siegreiche) von Pompeius, zur Venus Genitrix (der Mutter des Aeneas und aller Julier), die Cäsar sich als Göttin wählte, und schließlich zur Patronin des Imperiums, deren Verehrung so weit geht, dass Vespasian sie mit der Roma gleichsetzt. Sie ist die Schutzgöttin alles Glücklichen, des Weines, des 23. Aprils, des Frühlings, alles Erblühens, aller Üppigkeit, aller Überschwänglichkeit, von allem, was das Leben steigert.


Würfelspieler nannten die beste Kombination den „Venuswurf“ (1, 3, 4, 6 in einem Wurf).


Drei Jahrhunderte später, gegen 160, enden die Metamor­phosen des Apuleius mit einer Hymne an die Mondgottheit, die die Fortpflanzung der Menschen und die Entstehung von Träumen, Dämonen und Schatten lenkt. Lucius ist soeben am Strand von Kenchreai mit jähem Erschrecken (pavore subito) ­aufgewacht. Er öffnet die Augen: Er sieht die Vollmondscheibe aus den Meeresfluten der Ägäis aufsteigen. Der Held rennt zum Meer und taucht seinen Kopf sieben Mal in die Wellen. Dann wagt er es, die Himmelskönigin (regina caeli) mit allen ihren Namen anzurufen: Venus, Ceres, Phoebe, Proserpina, Diana, Juno, Hekate, Rhamnusie … und schläft am Strand von Kenchreai wieder ein.


Im Traum erscheint ihm die Königin der Nacht in Gestalt von Isis. Sie ist mit einem Spiegel gekrönt und in einen riesigen schwarzen Mantel gehüllt – einen riesigen Mantel, der so tiefschwarz ist, dass er blendet (palla nigerrima splendescens atro nitore). Isis antwortet Lucius: „Ich bin die Mutter der Natur, Herrscherin über die Elemente, Ursprung und Prinzip der Zeit, höchste Gottheit, Königin der Manen, Erste unter den Himmlischen, Inbegriff aller Götter und Göttinnen. Ich gebiete über des Himmels lichte Gewölbe, die heilsamen Meeresbrisen und die untröstlichen Schatten der Unterwelt.“ So ist plötzlich der daimon des Mondes oder vielmehr die Göttin der Dämonen die einzige einflussreiche Göttin der sublunaren Welt, die „melancholische Leber der Welt“ des Lamprias, dämonische Hüterin der Götter, Wächterin über das Monatsblut und die Fortpflanzung, Beschützerin des Genius der Männer und der Väter Manen, an die Stelle der Venus von Lukrez, Cäsar und Augustus getreten, die mit Anchises den Stammbaum der Stadt Rom begründet, die kaiserliche Genealogie legitimiert und die Vergöttlichung der ersten Kaiser ermöglicht hatte.


Isis verjagt Venus. Im Imperium, das sich die gesamte Fläche der bekannten Welt einverleibte, integrierte die Religion die mythologischen Szenen aus den Religionen der verschiedenen Provinzen, um dieselbe Szene stets neu zu formulieren: Isis sucht auf der Erde den Phallus von Osiris, den sie selbst abgeschnitten hat. Und Attis entmannt sich für Kybele selbst.


Eine sehr viel spätere Inschrift als die Anrufung der Isis bei Apuleius hat man in Tivoli ausgegraben. Die Stele wurde von Julius Agathemerus aufgestellt. Die Inschrift auf der Vorderseite lautet: „Dem Genius des mächtigen, tatkräftigen, unbesiegten, des göttlichen Priapus. Julius Agathemerus, Freigelassener des Kaisers, hat mit Hilfe seiner Freunde dieses Denkmal errichtet, nachdem ihn ein Traum dazu ermahnt hat (somno monitus).“ Die Inschrift auf der Rückseite lautet: „Ich grüße dich, unantastbarer (sanctus) Priapus, Vater aller Dinge, ich grüße dich. Schenke mir blühende Jugend. Gewähre mir, dass ich Jungen und Mädchen mit meinem provozierenden Fascinus (fascino procaci) gefalle und dass ich die Sorgen, die mein Gemüt bedrücken, durch häufige Spiele (lusibus) und Scherze (iocis) vertreibe. Dass ich mich nicht allzu sehr vor der Mühsal des Alters fürchte, und dass mich der Schrecken (pavore) eines unglücklichen Todes nicht im Geringsten ängstige, eines Todes, der mich zu den grauenhaften Wohnstätten beim Averner See bringen wird, wo der König die Manen unterhält, die nur Geschichten (fabulas) sind, zu einem Ort, von dem zurückzukehren das Schicksal verbietet. Ich grüße dich, Heiliger Vater Priapus, ich grüße dich.“ Auf den Seiten lauten die Inschriften: „Kommt zusammen, kommt alle zusammen. Mädchen, die ihr das heilige Holz ehren sollt. Mädchen, die ihr die heiligen Wasser ehren sollt. Kommt alle zusammen und schmeichelt dem reizenden Priapus mit süßer Stimme: Ich grüße dich, Priapus, Heiliger Vater der Natur. Umarmt die Geschlechtsteile (inguini) des Priapus. Dann windet tausend duftende Kronen um seinen Fascinus und sprecht zusammen: O Priapus, Herrscher (potens), wir grüßen dich. Ob du lieber als Schöpfer (genitor) und Erschaffer (auctor) der Welt angerufen werden möchtest oder lieber als die eigentliche Natur (physis) und als Pan bezeichnet werden willst, wir grüßen dich. Deiner Lebenskraft (vigore) ist es zu verdanken, dass die Dinge erschaffen sind, die die Welt bevölkern, die den Himmel füllen, die das Meer enthält. Deshalb grüßen wir dich, Priapus, wir grüßen dich als Heiligen. Wenn du willst, legt Jupiter selbst sofort seine grausamen Blitze zur Seite und verlässt begierig (cupidus) seine lichten Gefilde. Denn dich verehren die gute Venus, der leidenschaftliche Cupido, die Grazie und ihre beiden Schwestern wie auch Bacchus, der Freudenspender (laetitiae dator). In der Tat gibt es ohne dich keine Venus mehr. Die Grazien sind ohne Grazie. Ohne dich gibt es keinen Cupido und keinen Bacchus mehr. O Priapus, gewaltiger Freund, wir grüßen dich. Dich rufen die keuschen Jungfrauen in ihren Gebeten an, damit du den Gürtel löst, den sie schon so lange tragen. Du rufst die Ehefrau auf, damit das Glied ihres Gatten sich strafft und immer mächtig bleibt (nervus saepe rigens potensque semper). Wir grüßen dich, Heiliger Vater, Priapus, wir grüßen dich.“


Wer ist Agathemus der Freigelassene? Ist diese Inschrift eine Parodie auf die Hymne an Venus, mit der De rerum natura beginnt? Ist sie ein ludibrium? Oder hat ein strenger Schüler Epikurs sie in Stein geritzt, der wie schon Apuleius von Madauros offenkundig die Bücher von Lukrez gelesen hat? Ehrlich gesagt, auch eine Antwort auf diese Fragen wäre, würden man denn eine finden, ohne Bedeutung. In Rom unterscheidet man nicht zwischen lusus und religio, Sarkasmus und Verehrung, verspottetem und gewaltigem Gott. Fascinus oder Priapus wurde während der gesamten Kaiserzeit mit Stelen verehrt. Priapus ist „der erste unter den Göttern“, der Gott Prin, der Gott Pripoiein (der Gott, der der eigentlichen Schöpfung „voraus-schöpft“). Priapus ist ohne jeden Zweifel der am meisten dargestellte Gott des Kaiserreichs. Das Wort Sarkasmus kommt von dem griechischen Wort sarx, das Epikur gebrauchte, um den menschlichen Körper (soma) als den einzig möglichen Ort des Glücks zu bezeichnen. Der sarkasmos ist die Haut, die man dem Feind abzieht, den man getötet hat. Aus den zusammengenähten „sarkastischen“ Häuten fertigte der Soldat seinen Siegesmantel. Meist trägt Athene das Gorgonenhaupt auf ihrem Schild zur Schau, doch manchmal trägt die Göttin auch die sterblichen Überreste (den sarkasmos) der Medusa über der Schulter. Das lateinische Wort carni-vore übersetzt wortwörtlich das griechische sarko-phagos.


Man kann dieses merkwürdige, unförmige sarx des Phallos bei den Griechen, des Fascinus bei den Römer nirgendwohin stecken. Was atopos (nicht zuzuordnen) ist, dessen Platz ist atopia (ohne Ort). Es ist verborgen unter dem Gewand des Pater familias; es ist nicht Teil der städtischen Gemeinschaft; es ist nicht Teil der Repräsentation. Was nicht ist, gründet auf dem, „was nicht ist“: dem Imaginären. Und dennoch taucht, was nicht ist, plötzlich auf, richtet sich auf zwischen den Leibern. Was sich aufrichtet, ist so wenig das Männliche, zu dem es gehört, wie das Weibliche, das es hervorruft. Was sich unwillkürlich aufrichtet, was immer hervorspringt, außerhalb jeden Ortes und alles Sichtbaren, das ist der Gott. Dass die Bildhauerkunst mit dem immer Aufragenden verbunden ist, leuchtet ein. Dass sich die Malerei der Enthüllung dessen widmet, was nicht erscheinen darf, der aletheia dessen, was nicht sichtbar ist, darin liegt der Wunsch, der sie beseelt. Beide Künste versuchen, die Zersetzung und die Sterblichkeit zu überwinden, zur Erektion und zur Verewigung des Lebens vorzustoßen. Bildhauerkunst wie Malerei sind der Augenblick, in dem der Taucher abspringt, der dem Eintauchen in den Tod unmittelbar vorausgeht, auf dieselbe Weise, wie Parrhasios der Zograph den alten Sklaven aus Olynth malte, „unmittelbar bevor“ er starb.


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Pascal Quignard

Pascal Quignard

geboren 1948, zählt zu den renommiertesten Gegenwartsautoren Frankreichs. Er ist Verfasser eines bedeutenden literarischen Werks aus über dreißig Romanen, Erzählungen und Essays, das in viele Sprachen übersetzt wurde, in Deutschland bislang jedoch weitgehend unbeachtet blieb. Ebenso innovativ wie erfolgreich bedient er immer wieder das historische Genre. Sein Roman »Tous les matins du monde« (dt.: »Die siebente Saite«) lieferte das Buch zu Alain Corneaus gleichnamigem Film. Aufgewachsen in Le Havre in einer Musikerfamilie, lebt Pascal Quignard heute fernab vom Pariser Literaturbetrieb in der Normandie und verfolgt unverbrüchlich sein schriftstellerisches Projekt, das sämtliche Gattungen sprengt und die Gewalt der fernsten Vergangenheit zu unserer nächsten macht.

Weitere Texte von Pascal Quignard bei DIAPHANES
Pascal Quignard: Sexualität und Schrecken

Pascal Quignard

Sexualität und Schrecken

Übersetzt von Holger Fock und Sabine Müller

Gebunden, 320 Seiten

PDF, 320 Seiten

Einen unbegreiflichen Umschwung gilt es zu verstehen: von der fröhlichen Erotik des helllichten Tages, die im alten Griechenland gefeiert wurde, zur Verbannung des sexuellen Akts ins Dunkle, Angsterfüllte, Verborgene bei den Römern. Wo ließe sich dem besser nachspüren als in Pompeji – dort, wo der Schrecken von Erdstößen und glühender Lava uns im Augenblick des Todes das faszinierende Bild des Zusammenstoßes dieser beiden Zivilisationen erhalten hat?


Ausgehend von den verstörenden Fresken in Pompeji erzählt Pascal Quignard eine Geschichte über den Tod, die antike Malerei und den abendländischen Sex, die zu einer ganz neuen Sichtweise auf die römische Welt gelangt: als Ursprung des Ekels, des Grauens, der Melancholie und des Puritanismus.