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Margarete Vöhringer: Blut und Proletkul‘t
Blut und Proletkul‘t
(S. 291 – 313)

Alexander Bogdanovs Arbeit am Allgemeinen

Margarete Vöhringer

Blut und Proletkul‘t
Alexander Bogdanovs Arbeit am Allgemeinen

PDF, 23 Seiten

Ob Aby Warburg die intellektuellen Umgangsformen mit dem Allgemeinen im vor- und nachrevolutionären Russland als gefährliche Simplifizierungen angesehen hätte, mag dahingestellt bleiben. Jedenfalls kam es bei dem Arzt, Schriftsteller und Theoretiker Alexander Bogdanov, dem sich Margarete Vöhringer widmet, zu einer emphatischen Entgrenzung des Allgemeinen, die er als Bestandteil einer revolutionären Praxis auffasste, in der sich Kunst, Wissenschaft und Politik miteinander vermischen. Gegen die operationelle Eingrenzung einer wissenschaftlichen Fragestellung argumentierte Bogdanov, dass kreative Wissenschaft sich den allgemeinsten aller Fragen und Ziele zu widmen habe und setzte eben diese Maxime bei seinen groß angelegten Versuchen zur Bluttransfusion in die Tat um. Das war für sich genommen in den 1920er Jahren nicht ungewöhnlich, doch Bogdanov wollte mehr als bloße Steigerung von Immunität oder Ausgleich von Blutverlust. Sein Fernziel war der Kampf um die Unsterblichkeit, sein Nahziel die Erhöhung der Arbeitskraft und Steigerung des Selbstwertgefühls. Das wollten die Psychotechniker zur gleichen Zeit im Westen auch, aber Bogdanovs Ansatz unterschied sich von jenen in dem einen, entscheidenden Punkt, dass er beim ganzen Organismus und seiner vermeintlichen Grundlage – dem Blut – ansetzte. Holistische Organismustheorien gab es zu jener Zeit mehrere, doch einzigartig war Bogdanovs theoretische Herleitung seines Unternehmens. Mit seiner programmatischen »Tektologie« oder »Allgemeinen Organisationslehre« versuchte er ein umfassendes Theorieangebot für alle natürlichen und künstlichen Phänomene der Welt bereitzustellen. Dabei bestand der Glaube an allgemeingültige Prinzipien nicht nur auf dem Papier. Bevor Bogdanov seine Blutexperimente aufnahm, begründete er die Bewegung des Proletkult, also jene von Lenin mit Argwohn verfolgte kulturelle Selbstorganisation der Massen, die ein verknüpfendes Band zwischen Ökonomie und Politik herstellen sollte. Was der Proletkult für die Gesellschaft, war das Blut für den Körper: ein einheitsstiftender Stoff, der den Organismus zusammenhielt. Mit Recht konnte Bogdanov also für sich in Anspruch nehmen, dass in seinen verschiedenen Praktiken, sei es Bluttransfusion oder Proletkult, das Allgemeine unmittelbar zur Geltung kommt.

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Margarete Vöhringer

ist wissenschaftliche Mitabeiterin am Zentrum für Literaturforschung in Berlin. Sie war von 2001 bis 2004 Stipendiatin am Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte Berlin und erhielt 2007 ein Stipendium im »Art, Science and Business« Programm auf Schloss Solitude, Stuttgart.

Weitere Texte von Margarete Vöhringer bei DIAPHANES
Michael Hagner (Hg.), Manfred D. Laubichler (Hg.): Der Hochsitz des Wissens

Der Begriff des Allgemeinen steht gemeinhin für den Gegensatz zum Besonderen, zum Einzelnen oder auch zum Teil(-weisen). Zum Allgemeinen vorzustoßen bedeutet, einen größeren Horizont abzustecken, der die Voraussetzung für weitergehende Erkenntnis bildet, aber auch gewisse Risiken mit sich bringt. In den Wissenschaften wird das Allgemeine erst im 19. Jahrhundert zu einer zentralen epistemischen Ordnungskategorie.

In dem Band geht es um die Wiedereingliederung von konzeptuellen und theoretischen Aspekten in die Wissenschaftsgeschichte nach dem »practical turn«. Das Allgemeine wird als praktisch relevanter Grundwert der Wissenschaften verstanden, mittels dessen Wissen generiert, strukturiert, verändert bzw. überhaupt erst verfügbar gemacht wird. Die Beiträge zeigen, wie das Allgemeine etwa in Biologie, Medizin, theoretischer Physik, Kultur- und Kunstgeschichte sowie der Philosophie zur Geltung gebracht wird. Wollte man diese scheinbare Vielfalt auf einen Nenner bringen, so könnte man vielleicht sagen: Zweifellos steckt der Teufel im Detail, doch zumindest das Versprechen auf höhere Erkenntnis steckt im Allgemeinen.

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